durchgelesen: Richard Dawkins - The Selfish Gene
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Eine Rezension zu "The Selfish Gene" von Richard Dawkins muss zwangsläufig mit einer Diskussion über das fundamentale Missverständnis beginnen, das der Titel des Buches hervorruft. Die Metapher des "egoistischen Gens" ist gleichzeitig brillant und problematisch - ein Umstand, den Dawkins selbst in meiner mir vorliegenden Auflage zu Beginn reflektiert.
Das Buch hat sicher viele Boys und Girls und alle dazwischen inspiriert. Ein Kumpel von mir der gern viel ließt meinte mal, Yuval Harari habe diesen tollen Gedanken gehabt… Diesen na du weisst schon:
Der Weizen hat den Menschen domestiziert, denn der Mensch verbreitet freiwillig sein Genmaterial wo es nur geht.
Dawkins hat 1976 ein Buch geschrieben, das die Art und Weise verändert hat, wie wir über das Leben nachdenken können. Es sind solche Gedanken wie der von Harari, mit denen das Buch durchtränkt ist. Es geht um Evolution. Die mathematische Beschreibung dessen, was Gene im evolutionären Sinne tun, ist eigentlich viel präziser: Sie maximieren ihre Reproduktionswahrscheinlichkeit unter den gegebenen Umweltbedingungen. Das klingt erst mal trocken, ist aber der wesentlich akkuratere Zugang als irgendeine Motivation oder unbegründbare Struktur als Axiom ansetzen zu müssen.
Dawkins hat diese unbarmherzige Klarheit, wenn er erklärt, was Gene tun: Sie wollen sich replizieren. Das ist alles. Sie haben keinen Plan, keine Moral, keinen Sinn für Ästhetik. Worte wie "Absicht", "Willen" und "verfolgte Ziele" sind hierbei bereits menschliche Metaphern, die uns helfen das emergente Phänomen des Evolutionsdrucks zu begreifen. Es ist wirklich ein Genuss dieses Buch zu lesen, wenn man - so wie ich - permanent genervt von Quacksalbern und Krämern ist.
Was das Buch besonders macht, ist die konsequente Anwendung dieses Prinzips auf verschiedenste Bereiche der Biologie. Die Frage danach, was eigentlich beobachtet werden kann, dass es nicht überraschend ist was wir beobachten und wieso... Das Bayes'sche Gesetz und der Trugschluss unserer Subjektivität, die Monte-Carlo-Natur unserer Perspektive ist so faszinierend und schnöde zugleich.
Ein wesentlicher Kritikpunkt am Buch ist die teilweise zu vereinfachende Darstellung von Gruppenselektion. Während Dawkins' Argumente gegen naive Formen der Gruppenselektion durchaus stichhaltig sind, ignoriert er meiner Meinung nach zu sehr die Möglichkeit von emergenten Effekten auf höheren Organisationsebenen. Die Evolution hat schließlich mehrere Abstraktionsebenen - von Genen über Zellen und Organismen bis hin zu Populationen.
Interessant sind die konstanten Einschübe der Spieltheorie. Was Dawkins als "evolutionär stabile Strategien" beschreibt, entspricht hierbei dem Ausgang einer Monte-Carlo- Simulation. Das zeigt, wie universell diese Prinzipien sind. Die Schlussfolgerungen aus diesen Gedanken haben an ihrer Brisanz und Relevanz nichts verloren und doch weiß fast keiner eurer Bürgifreunde davon.
Ein faszinierender Aspekt ist die Diskussion der "extended phenotype" - die Idee, dass Gene nicht nur direkt den Organismus beeinflussen, sondern auch dessen Umwelt. Dies sind eben die höheren Emergenzebenen. Man sollte argumentieren, dass unsere gesamte technologische Zivilisation ein "extended phenotype" unserer Gene ist.
Die Memetik - Dawkins' Versuch, evolutionäre Prinzipien auf kulturelle Entwicklung zu übertragen - ist faszinierend. Ja, genau, MEMES. Aber nicht die Bilder von Ragecomics oder Nicholas Cage, sondern kulturelle Ideen, die sich wie Gene replizieren, mutieren und verbreiten. Während die Analogie attraktiv erscheint, unterschätzt sie die Komplexität kultureller Evolution. Kultur emergiert aus einem Netzwerk von Wechselwirkungen, das sich nicht so einfach auf diskrete "Meme" reduzieren lässt. Vielmehr sind es hier wiederum Netzwerke von Memes und deren Kombinationen.
Was oft übersehen wird: Dawkins' Werk kann auch als Kritik an einer bestimmten Form des genetischen Determinismus gelesen werden. Indem er zeigt, wie Gene ihre "Selbstsucht" durch komplexe Kooperationsmuster ausdrücken, macht er deutlich, dass der Weg vom Genotyp zum Phänotyp alles andere als deterministisch ist. Kooperation und wieso sie entsteht ist für Dawkins eine der Hauptfragen. Dawkins zeigt, wie scheinbar altruistisches Verhalten aus "egoistischen" Genen entstehen kann. Das hat direkte Implikationen für unser Verständnis menschlicher Gesellschaften und widerspricht selbstverständlich dem Narrativ vom "natürlichen" Konkurrenzkampf aller gegen alle.
Dawkins bringt einen ziemlich guten Take zum Thema Bewusstsein und auch sonst sind seine wissenschaftlich fundierten Abhandlungen großes Kino für den Intellekt. Was bedeutet es eigentlich biologische Datenverarbeitung zu sein? Falls ihr zufällig Robert Sapolsky gelesen habt, solltet ihr definitiv auch The Selfish Gene gelesen haben.
Für die Informatiker unter euch könntee auch die Parallele zu evolutionären Algorithmen interessieren. Ich selbst kenne mich da nicht so aus, aber es wirkt auf mich so: was Dawkins beschreibt, ist im Grunde ein natürlich implementierter genetischer Algorithmus. Die Natur hat hier eine erstaunlich effiziente Optimierungsstrategie entwickelt - auch wenn sie astronomisch viel Rechenzeit dafür aufwendet.
Da Dawkins mit tryhard aus der Perspektive seiner Theorie argumentiert, entstehen in ihm angemessen und vorhersehbare Fragen denen er sich hingibt und die er nicht beantworten kann. Er kann nicht über seine sich selbst angedichtete Erhabenheit und Rationalität hinweg sehen. Er ist schlicht ein männlicher Männermann. Ihm ist es wohl auch 2025 noch ein Rätsel wieso Weibchen einen Orgasmus haben!
Die politischen Implikationen des Buches wurden oft missverstanden. Dass Gene "egoistisch" sind, bedeutet nicht, dass Menschen es sein müssen. Dawkins selbst sagt, dass wir mehr sind als unsere Gene – wir können sie austricksen, ihre Programme überschreiben. Der Mensch ist nicht nur eine Marionette seiner Biologie, sondern auch ein Akteur, der darüber reflektieren kann. Evolution jetz halt ohne diese Metapher: Aus dem Prinzip der Reproduktion mit random Variation emergieren komplexe Anpassungen. Dies fällt eben mit der Unvorhersehbarkeit von komplexen Systemen zusammen. Mich erinnert sowas immer stark an zelluläre Automaten oder Conway's Game of Life - simple Grundregeln können zu erstaunlich komplexen Mustern führen. Ich habe darüber letztens erst im Sraffa Teil 2 Video gequatscht:
https://www.youtube.com/watch?v=6spRkBTcZ5A (Opens in a new window)Was oft übersehen wird: Das Buch ist auch eine Lektion in wissenschaftlicher Methodik. Dawkins demonstriert, wie man komplexe Systeme durch geeignete Abstraktion verstehbar machen kann. Gleichzeitig zeigt er die Grenzen solcher Vereinfachungen auf - eine wichtige Lektion für jede Art von Modellbildung. Die Diskussion der "evolutionär stabilen Strategien" hat direkte Relevanz für aktuelle Probleme wie den Klimawandel. Was evolutionär stabil auf der Ebene individueller Gene ist, kann auf höheren Organisationsebenen katastrophal sein. Das illustriert perfekt die Problematik verschiedener Optimierungsebenen.
Ein weiteres Ding im Buch ist die Diskussion der sexuellen Selektion. Die ist besonders interessant im Kontext moderner Gender-Debatten. Dawkins zeigt, wie scheinbar "verschwenderische" Merkmale wie der Pfauenschwanz evolutionär entstehen können. Das ist eine wichtige Lektion über die vermeintliche “Nicht-Optimalität” evolutionärer Prozesse.
Am Ende liest sich The Selfish Gene nicht wie ein Buch über Biologie, sondern wie ein Manifest darüber, wie wichtig Emergenz ist. Es bleibt in deinem Kopf, verändert, wie du über dich selbst und die Welt um dich herum nachdenkst. Mir hat es geholfen zu verstehen was den Zittelmännern dieser Welt und ihrem Mindset wirklich zu Grunde liegt.
Was wir für die Zukunft mitnehmen können: Evolution ist ein fundamentales Prinzip, das weit über die Biologie hinaus relevant ist. Von der Entwicklung künstlicher Intelligenz bis zur kulturellen Evolution - das Verständnis evolutionärer Prozesse wird immer wichtiger. Dawkins' Buch bietet dafür einen wertvollen, wenn auch nicht perfekten Einstieg.
Es ist kein Buch, das dich mit einem warmen Gefühl zurücklässt. Aber es ist ein Buch, das dich klüger macht, klarer, und vielleicht sogar ein bisschen rebellischer gegenüber dem Gedanken, dass alles vorbestimmt ist. Dawkins gibt dir die Werkzeuge, um das Leben zu verstehen – und die Freiheit, dich selbst davon zu emanzipieren.
Videos die von diesem Buch beeinflusst sind:
https://youtu.be/wm0CY02cO5M (Opens in a new window)https://youtu.be/Xxi26Sku5uY (Opens in a new window)https://youtu.be/YmkZ_bwc3bo (Opens in a new window)