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MCP — Der Newsletter #27 im April

Liebe Leser:innen,

herzlich willkommen zum monatlichen Literatur-Newsletter von mir, von Maria-Christina Piwowarski. Ich muss das heute nochmal so schreiben, weil es sich sonst fast unwirklich anfühlt. Denn: Vielleicht ist das hier die aufregendste Ausgabe, die ich je geschrieben habe, weil ich — fast ganz am Ende — etwas unfassbar Schönes ankündigen darf.

Aber nicht nur das macht diesen Monat so besonders. Der erste Newsletter von mir ist im August 2021 in eure digitalen Briefkästen geflattert und vom ersten Tag an ist es mir enorm wichtig, dass alle Bücher, die ich hier empfehle oder auf die ich hinweise persönlich von mir und ganz unabhängig ausgewählt sind. Weil sie mich und mein Lesen zeigen. Ich weiß euer Interesse aber vor allem euer Vertrauen zu schätzen. Es bedeutet mir viel.

Das alles im Herzen bewegend, habe ich mich jetzt entschieden bei passenden Gelegenheiten und nur, wenn es wirklich mit meinen literarischen Überzeugungen schwingt, auch ab und an (und immer klar gekennzeichnet) einen Sponsor dankbar anzunehmen, der die jeweilige Newsletter-Ausgabe unterstützt. Das ist ein erster Versuch und ich freue mich sehr über euer Feedback oder Anregungen dazu.

Und den ersten Unterstützer hätte ich mir tatsächlich nicht schöner wünschen können. Bei der spielerischen Frage unter Literatur-Aficionados, welcher Verlag man denn gern sein möchte, komme ich nämlich seit Jahren immer auf die Antwort: Suhrkamp. Und Unter Verrückten sagt man Du von Lea de Gregorio, das jetzt Mitte März erschienen ist, liegt auf meinem Lesestapel tatsächlich ganz, ganz weit oben. Ich hab mich also richtig gefreut als Suhrkamp gefragt hat, ob ich den folgenden kleinen Werbeblock zu diesem Titel in den nächsten Newsletter einbinden kann.

Also hier kommt er, der Text ist vom Verlag, klickt bitte gern auf den Link (das macht tatsächlich einen Unterschied für mich) und schaut euch das Buch genauer an.

Sponsor

Warum gilt die Psychiatrie eigentlich immer noch vielen als Tabuthema? Wer entscheidet in unserer Gesellschaft überhaupt darüber, wer als normal, wer als ›verrückt‹ gilt? Diesen und weiteren Fragen widmet sich Lea De Gregorio in ihrem neuen Buch »Unter Verrückten sagt man Du«. Eine dringende Psychiatrie- und Gesellschaftskritik. Mehr Infos zum Buch gibt es hier: http://shrk.vg/UnterVerrueckten-P (Opens in a new window)

Und jetzt geht es gewohnt mit meinen liebsten Lektüreerlebnissen und Entdeckungen aus den letzten Wochen weiter. Da war nämlich so, so viel Gutes, so viel Bewegendes zu erlesen, trotzdem konnte ich mich schnell auf diese drei Perlen aus dem März festlegen, die vor allem eint, dass sie konsequent feministische Werke sind. Und dieses Thema literarisch ganz verschieden, aber absolut beeindruckend umsetzen:

Constance Debré Love Me Tender (aus dem Französischen von Max Henninger) ist eine berauschende und radikale Lektüre gewesen. Der autofiktionale Text erzählt von der Loslösung aller bürgerlichen Zusagen auf der Suche nach dem Leben, das sich endlich richtig anfühlt. Die Erzählerin hängt ihre Karriere als Anwältin an den Nagel, verlässt ihre Ehe und will fortan nur noch schwimmen und (mehr als alles andere) schreiben — und mit Frauen schlafen. Die Abgründe, die sich auftun, als ihr Ex-Mann einen erbitterten Sorgerechtsstreit um den gemeinsamen Sohn beginnt, sind so schmerzhaft ehrlich erzählt, wie ich es noch nie gelesen habe.

Caroline Rosales Die Ungelebten erzählt von Jennifer Boyard, die drei kleine Kinder hat, mit allen Bedeutungen, die das in der schicken Mitte Berlin haben kann. Im Kontext dieses Perfektionsdrucks ist ihre Ehe eher zweckmäßig. Ihr Vater Bernd wird ihr sein Schlagerimperium vermachen. Doch als eine ehemalige Sängerin Vergewaltigungsvorwürfe erhebt, beginnt Jennifers klar abgesteckte Zukunft in einem Strudel unterzugehen. Caroline Rosales schreibt bewundernswert bissig und trotzdem jederzeit elegant und klug von einem Leben, von dem wir uns soweit wie möglich distanzieren möchten. Auch weil es so fürchterlich wäre, nur kleinste Ähnlichkeiten zu entdecken. Und genau das ist vermutlich nicht zu verhindern. Dieser mutige Text geht auf völlig ungewohnte Weise an die Wurzel patriarchalen Übels, beschreibt schonungslos, wie Frauen zum Schweigen gebracht werden und zeigt beeindruckend, wie sich toxische Familiendynamiken auch dort fortsetzen, wo man es nicht vermutet. Ich habe selten so laut gelacht beim Lesen, und nie ist es mir so hart im Halse stecken geblieben. Eine soghafte und abgrundtiefe Lektüre über die wir in diesem Bücherfrühjahr bitte noch ganz viel reden müssen.

Issa von Mirrianne Mahnhat mich tief berührt. 2006, die junge Issa ist schwanger und reist auf Anweisung ihrer Mutter von Deutschland, nach Kamerun, in das Land ihrer Kindheit zurück. Hier soll sie sich den schützenden Ritualen und vor allem der Fürsorge ihrer beiden Großmüttern anvertrauen. In Deutschland zu Schwarz, in Kamerun zu deutsch, ist Issa von jeher eher zwischen den Welten zuhause. Ist der Mann mit dem sie da bald ein Kind bekommen wird der Richtige? Und welche Last trägt das Schweigen ihrer Mutter? Der Roman erzählt Issas Schwanken im Jetzt und ihre Sehnsucht nach einem Ankommen im eigenen Leben. Anhand der Frauenfiguren ihrer Vorfahren erzählt Mirrianne Mahn Issas Familiengeschichte über einhundert Jahre zurück, sie erzählt die Gräuel der deutschen Kolonialherrschaft und die Härte der Ausgrenzung im Heute. Und sie erzählt von der Macht der Mütter. Ein wichtiges Buch, das ernste Themen beschreibt und mit klugem Humor geschrieben ist. Und das Cover mit einer Illustration von Oluwole Omofemi ist großartig.

Das größte Geschenk im März

Das hat uns ganz sicher Insa Wilke mit ihrem Team von Café lit gemacht. Auf cafelit.de (Opens in a new window) findet endlich das statt, was wir gerade so dringend brauchen: ruhige, intensive, ernsthafte Gespräche über Literatur und ihr Wirkung auf uns und unser Leben. Ohne Paukenparolen, ohne Phrasengepluster. Aber mit der Offenheit für die Gedanken anderer, mit dem Mut fehlbar zu sein und dem unbedingten Fokus auf Literatur. Bisher gibt es zwei Sendungen, die man einfach online nachschauen kann. In Folge 1 spricht Insa Wilke mit Necati Öziri und Katharina Warda über Bücher, über die wir nochmal reden wollen (Opens in a new window). In Folge 2 spricht sie mit Moshtari Hilal, Lea Schneider und Ronen Steinke über Bücher für Jetzt (Opens in a new window). Es ist so unfassbar wohltuend, endlich mal eine Literaturendung zu sehen, in der mit ausreichend Zeit, Behutsamkeit und trotzdem klarer Meinung wirklich über die Texte geredet wird. In der das Interesse, sich gegenseitig und die Literatur zu verstehen größer ist, als Eitelkeit und Relevanzgehechel. Eine Literatursendung, in der die Wirkmacht der Bücher so klar ist, wie die Verantwortung für das eigene Sprechen. Ich hab beide Folgen mehrmals geguckt, laut gelacht, viel gelernt, doll gestaunt. Von der schönen Kameraführung über die klugen Argumente, die Aufmerksamkeit für das Thema und das Gesagte der Anderen bis zum Schnaps am Schluss: Das ist für mich die Literaratursendung, die ich mir immer gewünscht habe. Und ich hoffe auf viele weitere Folgen. Bis dahin schaue ich mir immer wieder die Beiträge zum Leseleben (Opens in a new window) an, denn so steht es in den Glaubenssätzen (Opens in a new window) von Café lit: Café lit versteht Bücher als Teil des Lebens und der Gesellschaft. Die Themen der Menschen funken in die Buchwelt und die Buchwelt funkt zurück. Darum geht das Eine nicht ohne das Andere. Ist das nicht ein wunderschöner Satz?

Vorfreude auf den Mai

Nächsten Monat, am 15. Mai, erscheint eine wunderbare Sammlung, die ihr alle braucht. Sie ist wie ein kleines Feuerwerk der Inspiration, eine Liebeserklärung an die Literatur: Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schreiben über Autorinnen, die sie bewundern. Unter Frauen. Geschichten vom Lesen und Verehren heißt die Anthologie, die Anna Humbert und Linda Vogt im Rowohlt Verlag herausgeben. Hier finden wir Texte von Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovana Reisinger, Ruth-Maria Thomas und Kathrin Weßling — und meine Güte, ich bin so begeistert. Ich durfte nämlich ein Vorwort für dieses Buch schreiben. Und der Zauber, sich sowohl in die Beschreibenden als auch in die Beschriebenen zu verlieben und jetzt alles lesen zu wollen, was es auf beiden Seiten (noch) zu entdecken gibt, was für ein Geschenk!

Noch mehr Gutes gelesen

In den letzten Wochen sind außerdem diese Bücher erschienen, die ich euch gern ans Herz legen möchte:

Mütter die gehen von Begoña Gómez Urzaiz (aus dem Spanischen von Christiane Quandt) durfte ich im vergangenen Jahr schob vorab lesen. Damals meldete ich dem Verlag zurück: »Begoña Gómez Urzaiz zeigt uns das, was jenseits unserer schnellen Urteilslust über Mütter, die gehen, liegt. Nämlich das Leben. In all seiner Fülle und Verschiedenheit, mit allem Wunder und allem Schmerz. Ich bin dankbar, dass es dieses Buch gibt.« Jetzt wollte ich das Buch nochmal in aller Ruhe lesen und bin noch begeisterter, dass die Autorin aus Barcelona sich mit dem befasst, was gesellschaftlich wohl so stigmatisiert ist, wie wenig anderes: Mütter, die ihre Kinder verlassen. Anhand berühmter Mütter aus Kultur und Kunst wie Joni Mitchell, Doris Lessing, Ingrid Bergman, die diesen großen Tabubruch begangen haben, zeigt Begoña Gómez Urzaiz nicht nur mit erfrischender Ehrlichkeit ihre eigenen Ambivalenzen zu dem Thema, sie hinterfragt auch die Zuschreibungen von Mutterschaft generell.

Stefanie de Velasco erzählt in Das Gras auf unserer Seite von drei Frauen in den Vierzigern, die ohnehin nie Mütter werden wollten. Mit ihren Figuren Jessie, Grit und Charly schenkt uns Stefanie de Velasco eine großartige Geschichte über erwachsene (!) Freundinnen, die trotzdem erfrischend darauf verzichten, nach den Pfeifen von Kapitalismus, Patriarchat und Gesellschaftserwartung zu tanzen. Außerdem spielt Berlin eine wunderbar glaubwürdige Rolle und es geht um Hunde. Herz, was willst du mehr?

Simone Scharbert, die ich (nicht nur!) für all ihre umspannende Wortliebe und tiefe Klugheit schätze und verehre, hat 2019 ihr Romandebüt du, alice veröffentlicht. Das Buch erzählt von Alice James, nein es ruft sie an, spricht zu ihr und macht uns so ihre unfassbare Geschichte zugänglich. Und zwar nicht als Beiwerk zu ihren berühmten Brüdern, sondern als du, als du, alice — als gäbe es nichts auf der Welt, was wichtiger wäre. Alice im Korsett und im Bett, immer dem Hysterie-Stigma und experimentellen Behandlungen ausgesetzt, ihr brillanter Geist klein gehalten, eingepfercht und doch eine feministische Ikone. Dieser lyrische Text ist wie seine Figur und wie Simone Scharberts (schreibende und sprechende) Stimme eine der größten Entdeckungen der letzten Jahre für mich. Wie gut, dass er jetzt wieder lieferbar ist.

Lyrik-Love

Charlotte Werndt folgt in Brustkasten einem Lyrikruf, dem man vom ersten Gedicht an sofort folgt. Ihre Gedichte wirken folgerichtig, konsequent, unausweichlich in der Art, wie sie Persönliches und Gesellschaftliches benennen, beschreiben, bezeugen. Wütend, nachdenklich, klug, präzise, verspielt. Ich werde immer wieder gefragt, wie man den Zugang zu zeitgenössische Lyrik finden kann. Dieses Buch ist ein hervorragender Weg dorthin.

Frieda Paris schreibt in Nachwasser ein Gedicht, das (auch) ein ganzer Roman ist. Ein Text, der diese Genregrenzen übersteigt, nicht nötig hat. Er handelt vom Lesen und vom Dichten, vom Finden und Fließen der Worte, von der Herkunft persönlich und lyrisch mit Reminiszenzen an Mayröcker, Domin, Erb — und so vieler Verwandter.

Wie weit gehst du für Schönes?

weit

zu weit

Mary Oliver gehört zu meinen absoluten Lieblingslyrikerinnen. Ihre Gedichte über die Natur und unser Sein sind wie Gebete für mich. Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben in der Übersetzung von Jürgen Brôcan versammelt nun endlich eine Auswahl dieser Gedichte auf deutsch. Wobei das wirklich schwierig ist, Olivers Leichtigkeit und gleichzeitige Tiefgründigkeit ist unendlich schwer in unsere Sprache zu übersetzen. Trotzdem ist die Auswahl der Sammlung und vor allem die Gestaltung des Bändchens eine Zierde im Regal und öffnet hoffentlich vielen neuen Leserinnen dieses großartige Werk.

Die (!) Ankündigung

Und nun, ihr Lieben, danke fürs Durchhalten, kommen wir zur großen, herzklopfenden Ankündigung (ich würde den 26.9. gern jetzt schon zum Feiertag erklären), die ich euch am Anfang des Newsletters versprochen habe:

Ich darf ein Buch herausgeben.

Mit Autorinnen, die ich mir gewünscht habe. Zu einem Thema, das mich nicht mehr loslässt. Mit einem Cover, in das ich mich sofort verliebt habe (Helene Funke: In der Loge).

Ich bin ehrfürchtig und vor allem dankbar. Dem wunderbaren Team, mit dem ich bei Ullstein zusammenarbeiten darf, allen voran Ricarda Saul und Melina Brüggemann (ihr seid mein Glück!) — und Karsten Kredel, der von der ersten Sekunde an diese Idee geglaubt hat.

Und ich bin unendlich dankbar für das Vertrauen der Autorinnen, die an diesem Buch mitwirken: Gabriele von Arnim, Zsuzsa Bánk, Marica Bodrožić, Isabel Bogdan, Ann Cotten, Mareike Fallwickl, Julia Friese, Olga Grjasnowa, Claudia Hamm, Stefanie Jaksch, Rasha Khayat, Christine Koschmieder, Jarka Kubsova, Daria Kinga Majewski, Judith Poznan, Slata Roschal, Caca Savic, Clara Schaksmeier und Simone Scharbert.

Und ich — 20 Geschichten über Wendepunkte des Lebens erscheint am 26.9. bei park x ullstein.

ISBN 978-3-98816-015-7l (Opens in a new window)

Der Titel hat von Anfang an jede Überlegung zu dieser Sammlung wie ein Gefühl begleitet und getragen. Er entstammt dem Gedicht von Robert Frost The Road Not Taken

In der vierten Strophe heißt es da:

Two roads diverged in a wood, and I—

I took the one less traveled by,

And that has made all the difference.

… and I — und ich — Ich freue mich sehr auf das Erscheinen dieses Buches und darauf, darüber mit euch ins Gespräch zu kommen. Es wird Lesungen und einen regen Austausch dazu geben. Ich freue mich, wenn ihr das Buch in der Buchhandlung eures Vertrauens vormerken lasst und das Buch dann mit uns feiert, wenn es erscheint.

Termine

Am 15.4. spreche ich um 20 Uhr im Instagram Livestream mit Mareike Fallwickl über ihren neuen Roman Und alle so still, der einen Tag später im Rowohlt Verlag erscheint.

Am 16.4. folgt der zweite Teil unserer Entdeckung von Diane Olivers Nachbarn (übersetzt von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg). Nachdem ich im Februar schon mit der Schauspielerin Benita Bailey und der Lektorin Nele Holdack über die wiederentdeckten Storys gesprochen habe, werde ich mich jetzt mit Georgina Fakunmoju und Ameena Quansah.

Und Ende April hole ich die Diogenes-Tapir-Livestreams nach, die wir verschieben mussten, weil die Leipziger Buchmesse großartig war, aber kurzfristig Spuren auf meinen Stimmbändern hinterlassen hat.


Am 29.4. um 20 Uhr mit Programmleiterin Heide Kloth über die neue Reihe DIOGENES TAPIR

Am 30.4. um 20 Uhr mit Übersetzerin Anabelle Marthe Assaf über Sie und der Wald von Anaïs Barbeau-Lavalette

Ich freue mich sehr, wenn ihr einschaltet.

Auf das gute Lesen

Eure Maria

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