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Sei frech und wild und wunderbar! (Aber bitte woanders.)

Pinterest-Zitate sind trügerisch. Zum einen, weil man nie sicher sein kann, ob der Wortlaut authentisch und die angegebene Quelle richtig ist. Zum anderen, weil manches, was auf Tassen gedruckt einen tollen Eindruck macht, in der Realität völlig unbrauchbar ist, fast schon zynisch.

Ein solcher Spruch ist „Sei frech und wild und wunderbar“, der wahlweise Astrid Lindgren oder Pippi Langstrumpf zugeschrieben wird, was im Grunde dasselbe ist, aber in beiden Fällen falsch. Denn es gibt dafür keinen Beleg. Inhaltlich hätte ich auch eine Menge zu kritteln, denn zumindest aus meiner Erfahrung als Mutter in Deutschland kann ich nicht bestätigen, dass diese an Kinder gerichtete Aufforderung auch tatsächlich als solche gemeint wäre. Weswegen ich sie im Geiste gerne um „Aber bitte woanders“ ergänze. Dann, finde ich, trifft es den Kern schon besser. Kaum etwas hasst Deutschland so sehr wie freche, wilde Kinder. Abgesehen vielleicht von den Müttern der frechen, wilden Kinder. Weil in der öffentlichen Wahrnehmung das Verhalten von Kindern nicht als Ausdruck ihrer eigenen Subjektivität gelesen wird, sondern als Spiegel der (vorrangig) mütterlichen Leistung.

Öffentliche Räume sind hochgradig normierte Räume. Kinder dürfen darin zwar anwesend sein, aber möglichst ohne aufzufallen. Sie sollen bitte weder laut, noch lebendig sein und schon gar nicht frech und wild. Oder übermüdet. Oder hungrig. Oder neugierig. Ein aufgebrachtes Kind in emotionaler Not, zum Beispiel im Zug oder im Café, ist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht etwa überfordert. Nein, die Mutter ist es. „Die ist ja völlig überfordert“ heißt es schnell – und es schwingt kein Fünkchen Mitgefühl mit, sondern pure Verachtung. Als Mutter überfordert zu sein, das bedeutet zu versagen, der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Den Mund zu voll genommen zu haben. Es hat etwas von Schwäche. Aber warum heißt es überfordert sein? Viel treffender wäre es doch von überfordert werden zu sprechen. Die Anforderungen, die an mich als alleinbegleitende, freiberufliche, neurodivergente Mutter herangetragen werden, übersteigen meine Kapazitäten. Mit meinen Kapazitäten aber ist alles in Ordnung. Es ist schiere Logik, dass sie Schwankungen unterliegen, dass sie begrenzt sind. Eine Logik, die in unserer wirtschaftszentrierten Gesellschaft doch eigentlich alle verstehen sollten.

Wer versagt hier eigentlich?

Schon die Frage danach, wie es mir geht, überfordert mich regelmäßig. Ich weiß einfach nie, wie ich darauf antworten soll. Vor ein paar Jahren machte auf Instagram das Gerücht die Runde, dass in Norwegen „oppe og ikke gråter“ eine nicht unübliche Antwort auf diese Frage sei. Ob das tatsächlich eine gängige Redewendung ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber allein schon wegen dieser Lindgren-Sache wäre ich da vorsichtig. „Oppe og ikke gråter“ bedeutet jedenfalls so viel wie „up and not crying“. Witzig, oder? Fand ich auch. Bis zu dem Moment, in dem mir klar wurde, wie akkurat das meinen tatsächlichen Zustand beschreibt: Wach, aufrecht, nicht weinend.

Angesichts dieser Erkenntnis frage ich mich: Wer versagt hier eigentlich? Sind es wirklich die Mütter? Oder ist es nicht vielmehr ein zutiefst patriarchales, kapitalistisches System, dass die strukturelle Überforderung von Fürsorgeleistenden nicht nur normalisiert, sondern auch abwertet und unsichtbar macht? Die Erschöpfung von Müttern, Eltern, Pflegenden, Lehrkräften, Erzieher*innen, Hebammen – sie ist kein Bug. Sie ist ein Feature. Wer weit über die eigenen Grenzen hinausgeht, beweist Stärke. Wer zusammenbricht, hat es halt nicht richtig gemacht.

Meine Überforderung angesichts der Frage, wie es mir geht, überspiele ich übrigens häufig mit einem Scherz. Ich sage dann zum Beispiel: „Am liebsten gut.“ Eine Zeit lang habe ich mir einen kleinen Spaß daraus gemacht, einfach direkt mit „Wie geht es dir?“ zu antworten – mit der Betonung hinten wie im Englischen. (Hat keiner gemerkt.) Manchmal wünsche ich mir dann fast, dass mir jemand ganz tief in die Augen schaut, hinter diese Fassade aus Wortwitz und Klamauk, höflich über den Scherz lacht, nur um dann zu sagen: „So, und wie geht es dir wirklich?“

Wir brauchen keine produktiveren Mütter

Leider sind wir hier aber nicht bei „Wünsch dir was“, sondern bei „So isses“ – und bekommen habe ich, haben wir, Friedrich Merz. „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte der Bundeskanzler kürzlich beim CDU-Wirtschaftstag. „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“ Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) forderte wenig später (Opens in a new window) bessere Bedingungen für Frauen, damit mehr von ihnen in Vollzeit arbeiten gehen könnten, zum Beispiel mehr Kita-Plätze. Viele Frauen säßen unfreiwillig in der Teilzeit-Falle.

So viel Unkenntnis und Ideenlosigkeit tut weh. Wir brauchen keine produktiveren Mütter. Wir brauchen ein System, das Fürsorge nicht bestraft. Eines, in dem Arbeit nicht nur dann als wertvoll gilt, wenn sie Profit abwirft. Wir brauchen eine grundlegende Neubewertung von Care-Arbeit als integralem Bestandteil von Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik.

„Kindern muss ein Recht auf genügend Zeit mit ihren Eltern und Bezugspersonen zugestanden werden, ein Recht auf Zeit mit anderen Kindern, mit ihren Geschwistern und Freund_innen, ein Recht auf freie Zeit, über die sie selbst entscheiden können.“ (Teresa Bücker in Alle_Zeit)

Dass die meisten von uns längst über dem Limit arbeiten – unbezahlt, unsichtbar, selbstverständlich – interessiert in dieser Debatte niemanden. Genauso wenig, wie die Kinder. Sie werden nicht etwa als Menschen mit Bedürfnissen und Rechten angesehen, sondern als Störfaktor, als Karriereknick. Dabei steht in Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention ganz eindeutig: Kinder haben ein Recht auf Ruhe und Freizeit. Auf Spiel, Erholung und auf altersgemäße Entfaltung. Nicht auf frühe Anschlussfähigkeit an ein ökonomisch verwertbares Leben. Nicht auf lückenlose Fremdbetreuung, damit Erwachsene „effizienter arbeiten“ können.

Und auch ich möchte mich nicht zwischen Armut und Zeit mit meinem Kind entscheiden müssen.

Wenn Mütter in politischen Entscheidungsprozessen fehlen, bleiben zentrale Perspektiven ungehört. Eine vielfältig besetzte Politik, die die Lebensrealitäten von Familien widerspiegelt, ist essenziell für gerechtere Rahmenbedingungen – von Betreuungsfragen bis hin zur sozialen Absicherung. Mehr Mütter in der Politik bedeuten mehr gelebte Vielfalt, mehr Gerechtigkeit und letztlich bessere Politik für alle. Darum ging es in der letzten Folge vom Lila Podcast (Opens in a new window), die im Rahmen des feministischen Podcast-Festivals Happy Fucking Mother’s Day (Opens in a new window) entstanden ist.

In der kommenden Woche stehen dann Kinder im Fokus. Lena und ich beschäftigen uns mit der Frage, welche Bedeutung wir als Gesellschaft Kindheit, Kindern und Fürsorge beimessen und ob es so etwas wie ein Recht auf kinderfreies Leben gibt. (Spoiler: Nö.) Stay tuned.

Bis bald!

Laura

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