50 000 Shades of „neu“: Wie kreativ ist KI?
von Tanja Deuerling
Am Wochenende habe ich mich auf einer Party mit einem Freund darüber unterhalten, dass ich mich mit KI und Kreativität beschäftige. Er findet den Ansatz lustig: KI und Kreativität - wie soll das gehen? Mein Freund ist Lektor, und er hat es mit Schriftstellern und Literatur zu tun. Für ihn heißt Kreativität, ein Buch zu schreiben. Dass KI ein Buch, also Literatur, schreibt, das hält er für ausgeschlossen. Ein Stück weit gebe ich ihm recht. Trotzdem bin ich davon überzeugt, das KI „kreativ“ ist - nur für mich setzt Kreativität schon ganz woanders an. Ich bin Teil der Kreativbranche und keine Künstlerin. Kreativität ist für uns Kreative, ein Konzept zu entwickeln, eine Marketing- Kampagne oder eine Fernsehshow.
Mein Lektor-Freund und ich merken schnell, dass wir komplett unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was Kreativität eigentlich ist. Und damit beantworten wir auch die Frage, ob KI kreativ ist oder zumindest Kreativität simulieren kann, ganz unterschiedlich. „Nein“, sagt er. „Ja“, sage ich, obwohl wir KI so ziemlich das gleich zutrauen.
Was also ist Kreativität? Das ist erst einmal ganz einfach die Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen. Hier fängt es schon an, unscharf zu werden. Was heiß neu? Neu ist in jedem Kontext etwas anderes. Neu kann relativ sein, eine kleine Veränderung von etwas Bestehendem, aber auch absolut, eine nie dagewesene Idee. Dazwischen gibt es 50 000 Shades of „neu“.
Neu ist in jedem Kontext etwas anderes. Neu kann relativ sein, eine kleine Veränderung von etwas Bestehendem, aber auch absolut, eine nie dagewesene Idee. Dazwischen gibt es 50 000 Shades of „neu“.
Diese Grauzonen des Neu-seins beschäftigt mich seit vielen Jahren. Die Innovationsforschung behilft sich mit Skalen, die den Innovationsgrad bestimmen. Ist der Innovationsgrad gering, dann handelt es sich um minimale Neuerungen („inkrementelle Innovationen“), die vielleicht auch nur kleine Veränderungen sein können. Ist der Innovationsgrad hoch, dann reden wir von radikalen oder disruptiven Neuerungen. Dazwischen kann man je nach Bedarf Zwischenwerte einziehen. Diese Skalen helfen zu verdeutlichen, dass neu nicht gleich neu ist.
Wozu diese Erkenntnis gut ist? Sie hilft zum Bespiel, im unternehmerischen Kontext die passenden Rahmenbedingungen für Kreativität und Innovationen zu schaffen. Das ist die Grundidee zu meinen Ansätzen für Innovationsmanagement in der Medienbranche (Opens in a new window). Vereinfacht ausgedrückt: Will man radikale Innovationen, dann braucht es andere Rahmenbedingungen als bei inkrementellen Innovationen. Je höher der Innovationsgrad, desto mehr Kreativität – desto mehr muss das Umfeld kreativitätsfördernd sein.
Wenn es um Aufgaben geht, die wenig Kreativität erfordern, dann kann KI sehr gut eingesetzt werden.
Aber zurück zu KI: Als ich mit meinem Lektor-Freund über unsere unterschiedlichen Ansichten zu Kreativität diskutierte, wurde mit klar, dass beim Umgang mit KI eine differenzieret Betrachtung von Kreativität mit graduellen Abstufungen essenziell ist. Hohe Kreativität bietet für KI andere Herausforderungen als mittlere oder geringe Kreativität. Also folgere ich: Wenn es um Aufgaben geht, die wenig Kreativität erfordern, dann kann KI sehr gut eingesetzt werden. KI-Systeme können effizient „kreative Routinen“ ersetzen, z.B. Überschriften kreieren, Texte zusammenfassen, Standardtexte schreiben.
Bei Serien-Drehbüchern – um im Kontext von Büchern zu bleiben – kann KI auf jeden Fall hilfreich sein und viele Autor:innen, die ich kenne, nutzen KI zumindest teilweise. Sind z.B. Charaktere entwickelt und die horizontalen Plots stehen, kann KI Dialoge und logische Handlungen vorschlagen. Innerhalb eines formatierenden Rahmens kann KI Aufgaben von Kreativen übernehmen oder zumindest sehr gut zuarbeiten.
Je höher aber die Komplexität und die geforderte Kreativität ist, desto mehr stößt KI an die Grenzen. Schauen wir ans andere Ende der Skala von Kreativität, wo es um radikale Neuerungen oder künstlerischen Output geht, z.B. um eine innovative Serie oder Literatur. Hier geht es nicht nur um das Zusammensetzen von Bekanntem nach gelernten Mustern, sondern um bewusste Brüche, um das Zusammenfügen von Dingen, die nicht zusammenpassen, und um nie Dagewesenes. Vor allem geht es um Emotionen und um nichts Geringeres als die Sinnfrage. Dabei muss die Maschine noch kapitulieren.
Hier geht es nicht nur um das Zusammensetzen von Bekanntem nach gelernten Mustern, sondern um bewusste Brüche, um das Zusammenfügen von Dingen, die nicht zusammenpassen und um nie Dagewesenes. Vor allem geht es um Emotionen und um nichts Geringeres als die Sinnfrage. Dabei muss die Maschine noch kapitulieren.
„Noch“ ist dabei der Spoiler bei jeder Diskussion um KI. Wie kreativ KI ist, kann bei der rasanten Entwicklung nur für den Moment beantwortet werden. Für heute heißt das: KI ist gut, wenn es um kreative Routinen geht, kreative Leistungen, die standarisiert sind und als kreatives Handwert zu verstehen sind. Je größer der Grad an „Neu-sein“ des Ergebnisses sein soll, desto weniger gut ist KI. Sie ist nicht radikal kreativ. Obwohl sie lernt, und Daten und Muster nur die Basis bilden, sind komplexe Strukturen, die durch Emotionen Dichte und Sinn erhalten, für KI nicht machbar. Noch nicht. Würde ich die Kreativität von KI auf einer meiner persönlichen Skala von 1-10 bewerten, würde ich ihr jetzt eine 6 geben. Wahrscheinlich aber verschiebt sich schon während ich das schreibe, der Wert in Richtung 7.