Am Leben sein
Am Leben sein, dabei denken wir gern an Glücksmomente. An Marmeladengläser gefüllt mit Zettelchen. An große Träume und kleine Wunder. An Sternschnuppentage und Lachtränen. An randvolle Herzen. An Sand zwischen den Zehen, Wind um die Nase, den Geschmack nach Salz und Sorglosigkeit.
Am Leben sein, was für ein Druck. Was für ein unmögliches Ziel, jedem Tag etwas abgewinnen zu wollen. Wenn’s doch so wenige sind. Wenn Unendlichkeit doch nur eine Illusion ist, poetisches Wunschdenken. Wenn doch die Minuten wie Sandkörner rieseln, unaufhaltsam und viel zu schnell, besonders dann, wenn außer Aushalten gerade nichts geht.
Am Leben sein, aber du schreist und kein Laut kommt über deine Lippen. Am Leben sein, eingerollt gegen die verbleibenden Stunden. Am Leben sein, während du dir am liebsten die Haut abziehen und in eine andere schlüpfen würdest. Am Leben sein, was für ein Scheißgefühl das manchmal ist.
Am Leben sein, das ist so verdammt heftig.
Denn was, wenn’s das gewesen ist? Was, wenn die Sanduhr zerplatzt, bevor du dein Irgendwann erreichst? Was, wenn du nie gesagt hast, was dir die Seele verbrennt? Was, wenn die Liebe, die du immer nur denkst, wirklich einen Unterschied macht?
Am Leben sein, aber du bist dir nicht sicher, ob du gerade lachst oder weinst oder ob das gar kein Oder ist. Sondern beides.
Am Leben sein, das wird nicht einfach so besser werden. Du wirst nicht immer eine gute Aussicht haben, meistens gar keine. Aber lauf weiter. Leb weiter. Lieb, so viel du kannst. Schrei, wenn es sein muss. Und dann hör auf, dich hinter deiner Wut zu verstecken.
Am Leben sein, das ist kein Wettbewerb. Niemand verleiht dir am Ende einen Preis. Niemand schenkt dir Gummistiefel, damit du im Regen tanzen kannst. Ganz ehrlich, wir gehen doch alle barfuß.
Am Leben sein, und wenn du dich schon im Kreis drehst, warum nicht mitten im Wald, warum nicht am Meer, warum nicht ohne Wände um dich herum. Warum nicht einfach mal stehen bleiben, still sein, zuhören. Wie dein Herz schlägt. Wie du hier bist. Am Leben sein, was für ein krasser Zufall. Und es ist schon okay, schon okay, wenn sich’s nicht immer gut anfühlt. Ist schon okay, schon okay. Wirklich.
Am Leben sein, das ist nichts für übermorgen. Das ist nichts für den Tag, an dem du wieder aufrecht stehst, an dem dir das Laufen wieder leichtfällt. Und scheiß auf Marmeladengläser. Lass mal Kunst aus unseren Scherben machen. Lass mal Pläne schmieden, und dann doch improvisieren.
Am Leben sein. Am besten genau jetzt.