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Teil 2: Was nach der Demokratie kommt

Nach den letzten Europawahlen im Juni und angesichts aktueller geopolitischer Ereignisse scheint das Fundament des alten Europa, das auf friedliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten baut, mehr denn je zu wackeln. Zerfallen damit früher noch selbstverständlich geglaubte Werte und Wohlstand? Oder ist diese Krise nur der Beginn von etwas ganz Neuem auf einer höheren Entwicklungsstufe, das wir noch nicht kennen und noch nicht (be-)greifen können?

Zunächst aber ein Aufruf in eigener Sache …

*** Testleser*innen gesucht! ***

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Foto: pexels

Der unleugbare Aufstieg der rechten Parteien in Europa ähnelt Schmerzen in einem Körper: Zuverlässige Signale, dass sich grundlegend systemisch etwas ändern muss. Es liegt ziemlich nahe, dass ein Vorwärtskommen hier durch keine Partei, schon gar nicht einzelne Führungspersönlichkeiten im bestehenden System zentral gesteuert werden kann – alle Parteiagenden heben unterschiedliche Facetten von Werten und Realitäten hervor, die in eins zu integrieren sind. Das aber kann nur ein gesamtgesellschaftlicher Prozess der Vielen sein, hervorgebracht sowohl durch klassisch progressive Kräfte als auch “Otto Normalbürger”, der sich aus Not zu Veränderung entschließt. Was für einen politischen Rahmen aber könnte so etwas hervorbringen? Dazu im Folgenden ein Gedankenexperiment.

Disclaimer: Dabei gilt, wie immer in diesem Newsletter, dass es nicht um “Blaupausen” oder konkrete Agenden geht, die von irgendjemandem zeitnah umzusetzen seien. In einer Welt, die von Kriegsszenarien geprägt ist, erscheint eine friedliche Neuordnung internationaler Verhältnisse erst einmal weit hergeholt. Umso essentieller ist es, das eigene Bewusstsein für alternative Szenarien, den “Möglichkeitssinn”, zu verfeinern. Diese geistige Flexibilität bedeutet immer den ersten Schritt für Evolution, auch wenn diese zunächst hochgradig unrealistisch erscheinen mag.

Bild: Von Európa Pont - EUT3, CC BY 2.0 (Opens in a new window)

Europa und der Nationen-Schwund

Parteien wie der Rassemblement National argumentieren protektionistisch und wollen globalen Freihandel einschränken, den Fokus wieder auf die eigene (in dem Fall “französische”) Identität legen, indem sie die Rolle der Nationalstaaten stärken. Sich um das Eigene zu kümmern ist zunächst einmal ein legitimer Wert – aber er müsste nicht den Staatsgebilden, sondern den kleinsten demokratischen Einheiten, den Individuen, zugute kommen und außerdem Kooperation mit dem internationalen System nicht ausschließen. Überhaupt – wenn es um die Identität eines Menschen geht, spielt dann nicht (nur) seine Nationalität, sondern viel mehr seine regionale Herkunft eine entscheidende Rolle? Das liegt nahe, wenn man sich ansieht, welche großen Mentalitätsunterschiede es zum Beispiel zwischen Süd- und Norditalien oder Bayern und NRW gibt.

Friede den Regionen

Die Intellektuelle und Forscherin U. Guérot, die in diversen Organisationen zu europapolitischen Themen gearbeitet hat und bis 2023 Professorin für Europapolitik war, veröffentlichte schon vor zehn Jahren mit Robert Menasse ein “Manifest zur Gründung einer Europäischen Republik“ (Opens in a new window). Europa bestehe, so die These, erst seit relativ kurzer Zeit aus Nationalstaaten, viel länger dagegen aus ca. 50 historischen Regionen (wie Flandern, Venetien, Bayern, Bretagne, Katalonien …) – alle mit ca. 7-15 Millionen Einwohnern, die Identität stifteten, ebenso wie traditionsreiche Städte wie Hamburg oder Köln. Die Identität der Bürger wurzele hier stärker als in den nationalstaatlichen Konstrukten.

Bild: Überlegungen aus einem aktuellen Vortrag von U. Guérot: Karte der Regionen. Quelle: YouTube (Opens in a new window)

Sie schlagen darin vor, dass die Europäische Regionen je zwei Senatoren in eine Kammer des Europäischen Parlamentes schicken sollten. Die Abgeordneten der zweiten Kammer würden die europäischen Bürger direkt wählen, nach gleichem Wahlrecht für alle. Zwischen den Regionen und der demokratisch kontrollierten Regierung in Brüssel bräuchte man keine Bundesregierung mehr. Nicht Staaten seien Souveräne, Bürger (also echte Menschen) einer europäischen Republik sollten es sein. Mittels der europäischen Republik würden diese Regionen sich also koordinieren und durch sie nach außen in der Weltöffentlichkeit eine Stimme haben.

Bild: Idee eines Europäischen Bürgerausweises. Quelle: YouTube (Opens in a new window)

Wie führt man so etwas?

Die EU wird häufig für ihren Bürokratismus und die Allgegenwart unzähliger Lobbyisten kritisiert. Wäre also ein System denkbar, das effektiver und näher an den Menschen orientiert ist? Rein technisch gibt es so viele Möglichkeiten wie nie, um Prozesse zu dezentralisieren. Schaut man sich dann um, was es in punkto innovativer Führungs- und Selbstorganisationsmethoden schon an erprobten Alternativen gibt, stößt man auf die Soziokratie und deren Unterform der Holokratie. Hierbei experimentiert man in vielen Unternehmen schon mit flacheren Hierarchien und mehr Verantwortung für die Mitarbeiter*innen (auch wenn dabei die Geld-/Eigentumsverhältnisse meist nicht angetastet werden – die strukturelle, unsichtbare Macht hat bei aller Egalität daher am Ende doch der, meist weiße und männliche, Geschäftsführer, der auch haftet. Es braucht somit neue systemische Bedingungen für diese Form der Selbstorganisation …).

Bild: Beispiel für soziokratische Kreisstrukturen

Die Soziokratie an sich ist also eine Art inhaltlich leeres Instrument, das Gleichwertigkeit, Selbstorganisation/Selbstverantwortung, Transparenz und Feedback in jede denkbare Organisation bringen kann. Für mehr Info empfehle ich das tolle Portal soziokratie.org (Opens in a new window) bzw. dieses kostenfreie Ebook (Opens in a new window), aus dem auch die folgenden Inhalte stammen. Wie aber lassen sich die genannten Werte denn jetzt dank Soziokratie konkret im Alltag umsetzen?

Alle sind gleichberechtigt

Die Organisation ist aus halb-autonomen Kreisen von Beteiligten aufgebaut, die mit unteren und oberen Kreisebenen durch Vertreter*innen verbunden sind. In diesen Kreisen werden nacheinander alle Perspektiven zu einer bestimmten Entscheidungsfrage eingesammelt. Bei einem Vorschlag für einen Beschluss dokumentiert man in einer KonsenT-Runde Bedenken, die unabhängig von der jeweiligen Position, dem Rang oder der Dauer der Betriebszugehörigkeit gleich viel zählen.

Man organisiert sich selbst, aber ist auch selbst verantwortlich

Es gilt das Subsidiaritätsprinzip: Auf den unteren Ebenen sollen die Teams/Kreise all das selbst regeln, was sie selbst regeln können. Der nächsthöhere Kreis gibt zwar einen Rahmen vor, in dem sie aber selbstverantwortlich bestimmen können durch die Kreis-Vertreter*innen in diesem nächsthöheren Kreis, die zudem diesen Rahmen selbst mitbestimmen können.

Informationen werden geteilt

Wer mitbestimmen soll, braucht auch die notwendigen Informationen. Die erste Phase der Kreisrunde ist daher eine Informationsrunde. Jede*r Teilnehmer*in wird gefragt, welche Information man noch braucht, um sich eine Meinung bilden zu können.

Bild: pexels

Experiment Europäische Regionen – gleichberechtigt, kooperativ, agil?

Soweit der Entwurf. Was, wenn wir spekulativ nun die soziokratischen Grundprinzipien auf eine neue Europäische Gemeinschaft der Regionen anwenden? Diese könnten dann in Kreisen, die auf verschiedenen lokalen, nationalen und internationalen Ebenen angesiedelt sind, über die jeweiligen lokalen, nationalen oder internationalen Belange entscheiden, aufgefächert in unzählige Themenbereiche (Landwirtschaft, Ökonomie, Digitales …). In jeder Runde kämen, unterstützt etwa durch neue KI-gesteuerte Protokollierungs- /Moderationsmethoden, die Perspektiven aller Regionen (inkl. Stadtstaaten etc.) auf den Tisch, bevor Beschlüsse zu Entscheidungsfragen gefasst würden. Dazu würden ebenso alle vorhandenen Bedenken eingesammelt und die Beschlüsse angepasst.

Zum Beispiel: Migration

Die EU schafft es seit Jahren nicht, das Thema Migration auf menschenwürdige Weise zu regeln und effektive Lösungen zu erarbeiten. Das hat den Aufstieg rechtsradikaler Stimmen befeuert. Wäre ein Kreis der Regionen fähiger, mit so einem komplexen Thema umzugehen? Man würde es auf der höchsten (also europäischen) Kreisebene diskutieren: Wie verteilen wir Migrant*innen gerecht? Wie verhandeln wir bessere Einwanderungsabkommen mit den Herkunftsländern, schaffen bessere einheitliche Ausbildungsprogramme und effektive Abschiebungsmechanismen bei Kriminalität?

Foto: pexels

Alle diese Fragen könnten viel alltagsnäher diskutiert werden. Die Probleme der europäischen Regionen, die oft viel näher am Thema dran sind als die Staatsregierungen, würden gehört und bei allen Beschlüssen Bedenken systematisch eingesammelt. Es gäbe eher keine Blockaden einzelner Akteure mehr, weil alle Missstände offengelegt und konstruktiv diskutiert werden könnten und sich auch die weniger getroffenen Regionen verantwortlich fühlen müssten für die Probleme des ganzen Verbundes.

Das ist natürlich nur ein Gedankenspiel, aber die Idee, den Regionen Europas mehr Entscheidungsmacht und damit auch wieder mehr Profil zu geben, finde ich grundsätzlich spannend. Generell könnten solche Prozesse wie gesagt nie durch einen “gutmenschlichen” diktatorischen Akt von oben durchgesetzt werden, sondern müssten sich von der Basis her entwickeln.

Heute inspiriert durch U. Guérots Europäische Republik und durch die Soziokratie.

Das geschieht aber nur, wenn jeder Mensch auch der (Auf-)Gabe nachgehen kann, die ihm liegt und die ihn antreibt. Erfüllt jede*r Bürger*in ihren Platz im System, würde das das ganze System wandeln, so eine letzte These dieses Newsletters. Dafür muss jede*r aber zuerst für sich herausfinden, was ihn*sie erfüllt. Eine solche Form von kollektiver Selbstorganisation könnte sich dann, frei nach dem Forscher M. de Stefano, “Ontokratie” nennen.

Ob letzten Endes ein solch starkes, geeintes, dezentralisiertes Europa der Regionen global geo- und machtpolitisch gewollt wäre, ist natürlich eine ganz andere Frage, die an anderer Stelle thematisiert werden muss.

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