Welche Realität?
Autor: Manuel Benjamin Lehmann
In der überfüllten Regionalbahn von Konstanz nach Radolfzell. Verschwitzte und erschöpfte Menschen, denen zudem teilweise die schlechte Ernährung anzusehen ist. 2024 erleben wir vermutlich nicht die Blüte der Menschheit. Sondern eine sogenannte Poly-Krise. Von der Krise der deutschen Bahn bis zum Ukrainekrieg. Plus die Klimakrise. Nach Tagen mit viel Regen ist der Bodensee randvoll. Es ist noch einige Tage bevor er über die Ufer tritt. Und vor den Europawahlen. Auch bei den Europawahlen fühlt es sich vermutlich für manche an, als bestände das Risiko, dass das Wasser über das Ufer tritt. Oder als drohe, das Fass zu überlaufen.
Im Milchwerk, einem Ort des Wandels – ehemals Milchverarbeitungswerk, heute Veranstaltungs-, Kultur- und Messezentrum – ist Mitmachkonferenz. Es treffen sich engagierte Bürger:innen lokaler Initiativen, der Oberbürgermeister und rüstige Rentner:innen. Es herrscht zwar nicht gerade Aufbruchstimmung; beim ersten Mal hatte es mehr Menschen. Aber doch aufgeräumte Stimmung. So könnte man sich die Zukunft vorstellen. Gemüsekooperativen, Energiegenossenschaften, Energieproduktion auf dem eigenen Balkon, eine Bildungsoffensive mit Fokus auf nachhaltiger Entwicklung. Menschen, denen die Natur am Herzen liegt. Menschen mit Veränderungswillen. Menschen, die strahlen. Vielleicht ist die Blütezeit ja doch nicht so weit weg.
Diese Bewegung gibt es bald seit fünfzehn Jahren. Transition, Wandel, (Mit-)Machen. Und häufig arbeitet die Bewegung wunderbar mit Verwaltung und Politik zusammen. Auch etwas verquere Meinungen weniger, tun dem keinen Abbruch.
Eine Aufbruchstimmung in der breiten Bevölkerung ist aber daraus nicht entstanden. In der Politik, selbst im fernen Berlin, ist man sich dem Potential von Bürgerbeteiligung, sozialer Innovation und gemeinwohlorientierter Wirtschaft bewusst. Man schreibt entsprechende Konzepte und entwickelt Förderprogramme. Und passiert dies genauso in Nischen, wie sich diese Bewegung meist in Nischen bewegt. Und wenn sie erfolgreich ist in gewissen Regionen, dann erreicht sie maximal 30 % Prozent der Bevölkerung. Aber nicht die Mehrheit. Die Grundstimmung ist eine andere.
In der Regionalbahn, symbolisch für die breite Bevölkerung, herrscht eher Niedergangs-, denn Aufbruchstimmung. Eine breit angelegte, internationale Studie hat zwar ergeben, dass siebzig Prozent der Bevölkerung ein Prozent ihres Einkommens für Klimaprojekte spenden würden. Gar 90 % Prozent befürworten politische Massnahmen. Die Menschen in der Regionalbahn wissen also von der Dringlichkeit.
Vermutlich ist für viele die Klimakrise gefühlt eher ein Teil des Niedergangs, den viele empfinden. Für die Menschen ist spürbar, dass im öffentlichen Verkehr, dem Gesundheitssystem und dem Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten zusehends mehr gespart wurde. Und die Politik redet tagtäglich davon, dass dies noch nicht reicht. Es muss noch mehr gespart werden. Die guten Zeiten sind vorbei. Dass in der aktuellen Mehrfachkrise mittels höherer Besteuerung von Firmen und den Reichen mehr Mittel generiert werden könnten, ist kaum ein Thema. Auch wenn die Steuern während des sogenannten Wirtschaftswunders in den 50er- und 60er-Jahren viel höher waren.
Die Energiewende wird von vielen als eine Bedrohung wahrgenommen. Diese könnte teuer werden. Zudem erzählen die Grünen bereits seit langem, dass der Gürtel enger geschnallt werden muss. Vielleicht waren sie sogar die ersten, die vom Sparen und Verzichten erzählten. So könnte die diffuse Wut auf die Grünen erklärt werden, obwohl eine Mehrheit von der Notwendigkeit des Wandels weiss. Und die Meinung derer an der Mitmachkonferenz, dass der Wandel ein Schritt hin zu einem besseren Leben sein könnte, kommt bei ihnen nicht an. Mit diesem Blog und Ima Adama wollen wir herausfinden, wie die hoffnungsvolle Realität des Wandels in der anderen Realität landen kann.
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(Opens in a new window)Foto: Jan Kellermann (unsplash)