Hoffnung, doch?
Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen: Rück- und Ausblick
Mit Spannung blickte die politisch interessierte Bevölkerung im gesamten Deutschland auf die Landtagswahlen am 01. September und insbesondere auf das Abschneiden der AfD und des BSW.
Spannung auch in den Bundesländern Sachsen und Thüringen selbst – und eine enorme Motivation, wählen zu gehen. Beide Länder verzeichneten eine hohe Wahlbeteiligung, in Thüringen mit 73,6 % die zweithöchste knapp unter dem Wert von 1994, in Sachsen mit 74,4 % ein Rekord.
Wie erwartet: Wahlen in Sachsen und Thüringen
Trotz überraschend hoher Wahlbeteiligung blieben die Überraschungen am Wahlabend aus. Die Wahlergebnisse entsprachen im Großen und Ganzen den letzten Umfragen der Institute. Die bittere Erkenntnis für das Mitte-Links-Lager aus SPD, Grünen und Linkspartei: Von der höheren Beteiligung ehemaliger Nicht-Wähler*innen profitierten vornehmlich die AfD und das BSW.
In Sachsen stellten sich vor der Wahl mehrere Fragen: Wer wird stärkste Partei? Ziehen SPD, Linke und Grüne in den Landtag ein? Erreicht die regierende Kenia-Koalition erneut eine Mehrheit?
Die CDU landete knapp vor der AfD. Im Vorfeld hatten die Konservativen diesen Wettkampf um Platz eins zur zentralen Frage erklärt, um Wähler*innen der Mitte-Links-Parteien zu gewinnen. Die SPD schnitt für sächsische Verhältnisse erstaunlich stark ab, minimale Verluste auf 7,3 % und damit deutlich über der 5-%-Hürde. Ein Blick auf die Wahlkreise zeigt, dass die SPD insbesondere in Großstädten relevant zulegte und so die Verluste in der Provinz ausglich.
Exemplarisch hierfür das Ergebnis im Wahlkreis Dresden Neustadt + Johannstadt. Vor der Wahl habe ich den grünen Abgeordneten Thomas Löser porträtiert (Opens in a new window) – er gewann erneut das Direktmandat, souverän mit 36,4 %. Erstaunlich dagegen die Entwicklung bei den Zweitstimmen: Die Grünen verloren 7,8 % auf 21,4 %, die SPD gewann 5,5 % auf 14,7 % hinzu. Vor allem in den grünen Hochburgen der Neustadt wie der Äußeren Neustadt und dem Hechtviertel scheint es eine erhebliche Wanderung von den Grünen zur SPD gegeben zu haben.
Die Grünen gewannen neben dem Wahlkreis von Thomas Löser ein weiteres Direktmandat in Leipzig, zudem erreichten sie 5,1 % der Zweitstimmen. Der Einzug in den Landtag damit garantiert. Die Linken verfehlten mit 4,5 % die 5-%-Hürde, sicherten sich den Wiedereinzug aber über die Grundmandatsklausel. Hierfür reichen in Sachsen zwei Direktmandate, diese Voraussetzungen erfüllte die Linke mit den Wahlkreissiegen von Juliane Nagel und Nam Duy Nguyen in Leipzig. In der größten Stadt Sachsens schnitt die Linke auch bei den Zweitstimmen mit 13,2 % gut ab, darüber hinaus flächendeckend bei unter 5 %. Vor dem Wahltag habe ich die nun ehemalige Abgeordnete Toni Mertsching in Weißwasser besucht (Opens in a new window), im dortigen Wahlkreis erhielt die Linke 2,3 %.
Der Wiedereinzug der Linken sorgte dafür, dass die AfD die viel diskutierte Sperrminorität im Landtag knapp verfehlte. Zugleich verhinderte er, dass die Koalition aus CDU, SPD und Grünen erneut eine Mehrheit errang. Jetzt führt kein Weg am BSW vorbei.
Und Thüringen? Hier wird die Regierungsbildung noch wesentlich schwieriger als in Sachsen. Auch ein diverses Bündnis aus CDU, BSW und SPD verfehlt die Mehrheit, es bedarf der Unterstützung der Linkspartei. Für die Linke waren die Ergebnisse am Wahlabend erwartbar, aber dennoch zum Haareraufen: Selbst der beliebte Ministerpräsident Ramelow konnte nicht verhindern, dass seine Partei von über 30 % auf knapp 13 % abstürzte. Ein Desaster, das Ramelow mit beeindruckender Demut und Gelassenheit aufnahm. Wir werden sehen, ob es dort tatsächlich zu einer Regierungsbildung kommt, die AfD doch noch Zugriff auf die Regierung erhält oder Neuwahlen drohen.
Mehr Inhalte statt Aufrufe zu strategischem Wählen
Meine Social-Media-Timelines vor den Landtagswahlen: zugepflastert mit Aufrufen zum strategischen Wählen. Bei Parteien mag dies ein Stück weit verständlich sein, sie versprechen sich dadurch Vorteile (Sachsen: CDU) oder wollen unnötige Verluste vermeiden (Sachsen: SPD, Grüne und Linke). Viele Wähler*innen dachten, dass sie CDU wählen müssten, um einen AfD-Wahlerfolg zu verhindern. Dem lag die irrige Annahme zugrunde, dass der erste Platz bei den Zweistimmen entscheidend sei. Die CDU befeuerte diesen Glauben, vermutlich erfolgreich. Mitte-Links-Parteien stemmten sich mit intensiven Kampagnen dagegen. Nachvollziehbar, dennoch fragt sich, ob die Vielzahl an Postings zu diesem Thema nicht überbordend war.
Für die Kampagnen aus der Zivilgesellschaft, allen voran von Campact, bringe ich weit weniger Verständnis auf. Die Fokussierung auf die AfD-Sperrminorität und die Frage, wie sich diese verhindern ließe, fußt auf einem grundsätzlich richtigen Gedanken. Die Sperrminorität gibt der AfD Macht, wie nun in Thüringen. Doch rechtfertigt dies eine solche Kampagne, die zwangsweise andere Themen verdrängt?
Die Debatte über strategisches Wählen hat den notwendigen Wettbewerb zwischen den Parteien jenseits der AfD untergraben. Durch Verdrängung von Inhalten – und durch konkrete Wahlempfehlungen für Kandidierende in Sachsen.
Ohnmächtig habe sie sich gefühlt, schreibt die grüne Kandidatin Christin Melcher auf ihrem Instagram-Account. Gegen die Campact-Empfehlung für ihren Konkurrenten Nam Duy Nguyen hatte sie keine Chance.
Schon im Vorfeld der Wahl hatte sich die Linke-Abgeordnete Juliane Nagel aus Leipzig-Connewitz beklagt, obwohl Profiteurin der Campact-Wahlempfehlung:
„Wir wurden nur über die Kampagne informiert und vor vollendete Tatsachen gestellt“, kritisiert die Linke Juliane Nagel. Es entstünde das Gefühl, dass ein Verein aus dem Westen über die Köpfe der Zivilgesellschaft und Politik im Osten hinweg entscheiden wolle.
Campact und Co. sehen sich zumindest durch die Ergebnisse in Sachsen bestätigt, während sich die massive Kampagne für die Grünen in Thüringen als Rohrkrepierer erwies. Doch war diese Kampagne in Sachsen überhaupt nötig? Hätten die Menschen in den entsprechenden Wahlkreisen Dresdens und Leipzigs eventuell auch ohne Handlungsanweisungen aus Niedersachsen Linke in ausreichender Zahl direkt gewählt? Vieles spricht dafür.
Mehr Fokussierung auf Inhalte statt strategischem Wählen: Dieser Ansatz birgt die Chance, mit populären Themen über die politisch stabilen Milieus hinaus zu wirken. Denn eines ist sicher: Teilen User*innen in sozialen Medien Aufrufe zum strategischen Wählen und erreichen damit zum Beispiel schwankende Arbeitskolleg’*innen (Linke oder BSW? SPD oder CDU? Nichtwahl oder Grüne?), dürfte der Effekt minimal sein. Bei einem populären Thema könnte das anders aussehen.
Landtagswahlen: Und jetzt?
Nun denn: Die Landtagswahlen sind Geschichte, in beiden Ländern folgen komplexe Koalitionsverhandlungen. Am BSW scheint kein Weg vorbeizuführen, es wird spannend. Kommen tatsächlich stabile Mehrheiten zustande? Das kann momentan niemand fundiert einschätzen. Ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor ist der Neuling BSW. Es wird auch davon abhängen, inwieweit sich die Landesverbände von den Direktiven aus dem Saarland emanzipieren.
Besucht auch meinen Blog Krimiperlen. Dort stelle ich gesellschaftlich relevante Kriminalliteratur vor, jüngst den vielfach ausgezeichneten Roman „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ von Kim Young-ha. (Opens in a new window)
Wagenknecht hat erkennbar keine Lust, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Außenpolitische Forderungen als wesentliche Koalitionsbedingungen? Friedensinitiativen von Dresden und Erfurt aus? Lächerlich. Wagenknecht will die Regierungsbildung untergraben, weil sie genau weiß, dass sie als reine Oppositionskraft bei der nächsten Bundestagswahl deutlich bessere Chancen hat. Viele Ostdeutsche neigen zum schnellen Enttäuschtsein, die Fallhöhe ist angesichts vollmundiger Versprechen zudem hoch.
Nur: Die Partei Wagenknechts scheint zwar auf die Parteivorsitzende zugeschnitten zu sein, ihre Durchsetzungskraft ist aber alles andere als sicher. In Thüringen gibt es mit der ehemaligen Eisenacher Oberbürgermeisterin ein eigenständiges Kraftzentrum. Katja Wolf: pragmatisch, im Ton gemäßigt, im Grunde das Gegenteil von Wagenknecht. Und Lust auf Regierungsverantwortung ausstrahlend. Kommt es am Ende zum Bruch zwischen Wagenknecht und Wolf? Auszuschließen ist nichts.
Die Landtagswahlergebnisse liegen auf dem Tisch, Klarheit existiert jedoch nicht. Vorausgesetzt, die Regierungsbildungen mit dem BSW kommen zustande: Was bedeutet dies für die Zivilgesellschaft? Für ÖPNV-Nutzer*innen, Lehrer*innen, Queere, Migrant*innen und insgesamt? In einem taz-Artikel stellte Jonas Löschau, der als grüner Stadtrat in Bautzen den dortigen CSD initiiert hatte, im Hinblick auf das BSW zu Recht fest:
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BWS) sei in Bezug auf queere Politik schwer einzuschätzen, sagt er, die Vorsitzende des Bündnisses äußere sich regelmäßig diffamierend.
Was ist Populismus? Was ernst gemeint? Im Bereich Queer deutet manches darauf hin, dass die Angriffe größtenteils bloße Rhetorik sind. Grüne und Linke machen nur Politik für Minderheiten, so tönt es aus dem BSW. Queere bieten sich bei diesem populistischen Ansatz an. Das BSW und vor allem deren Vorsitzende tragen damit zu einer vergifteten gesellschaftlichen Atmosphäre bei. Es fragt sich aber, ob daraus tatsächliche Politik folgt.
In anderen Bereichen könnte sich die BSW-Regierungsbeteiligung aus progressiver Perspektive als vorteilhaft erweisen. Die Sächsische Zeitung analysiert für Sachsen, dass es bei vielen landespolitischen Themen Gemeinsamkeiten zwischen SPD und BSW gebe. Schuldenbremse, eine Erhöhung staatlicher Ausgaben, längeres gemeinsames Lernen: Hier dürften die Konfliktlinien zwischen SPD/BSW und CDU verlaufen, ähnlich in Thüringen mit der Konstellation Rot-Rot-Rot vs. CDU. Mehr ÖPNV und bessere Bildung dank BSW?
Bei den Themenfeldern Ukraine und Migration sieht die Sächsische die Konfliktlinie dagegen zwischen SPD und CDU/BSW.
Scheitert die Regierungsbildung am russischen Angriffskrieg auf die Ukraine? Bei genauerer Betrachtung ist das kaum vorstellbar. Im Grunde geht es um bedeutungslose Bundesratsinitiativen, die in der Länderkammer keine Chance auf eine Mehrheit haben. Und selbst bei einer Mehrheit wäre die Bundesregierung nicht daran gebunden. Es spricht wenig dafür, eine Regierung an diesem Thema scheitern zu lassen. Außer Wagenknecht stellt unannehmbare Bedingungen, weil ihr Ziel das Verhindern von Regierungsbeteiligungen ist.
Wir werden es sehen. Zumindest in Sachsen würde es eine Alternative zu einer BSW-Beteiligung geben: CDU mit SPD, Grünen und Linken. Schließt die CDU aus. Wagenknecht besser als Linke, so die Annahme. Anstatt die unterschiedliche Handhabung wortreich zu analysieren und zu kritisieren, begnüge ich mich mit einem kurzen
Hä?
Kommunalwahlen fataler als die Landtagswahl
Nach den Landtagswahlen machte sich bei manchen Erleichterung breit: Es hätte schlimmer kommen können! Trotz schwieriger Mehrheitsverhältnisse scheint es unwahrscheinlich, dass die AfD Zugriff auf Regierungsposten erhält. Die Anti-AfD-Stimmen für die CDU dürften die Wahrscheinlichkeit ebenfalls verringert haben. Die CDU-Verantwortlichen wissen, dass ein Schwenk Richtung AfD fatale Folgen an den Wahlurnen zeitigen könnte.
Grund zur Erleichterung? Nein, der Schaden ist längst angerichtet.
In Bautzen hat der neu konstituierte Kreistag in geheimer Abstimmung beschlossen, das Amt des Migrationsbeauftragten abzuschaffen. In Döbeln wählten die Stadtratsmitglieder einen AfD-Politiker zum stellvertretenden Bürgermeister. Ebenso in Sebnitz, Bad Schandau und in einigen weiteren Gemeinden. Noch besser: In der kleinen Gemeinde Lunzenau übt nun die Freie-Sachsen-Politikerin Anne Liebing dieses Amt aus. Im Landkreis Bautzen hat der Kreistag derweil einen AfD-Mann zum stellvertretenden Landrat gewählt.
Hochwassergefahr in Pirna: Der Oberbürgermeister Tim Lochner (AfD) wendete sich an die Bevölkerung und lobte das gemeinschaftliche Handeln: „Pirna ist nicht bunt“, verkündete er. Selbst in einer dramatischen Gefahrensituation ließ er es sich nicht nehmen, gegen die Zivilgesellschaft und die queere Community in Pirna zu pöbeln.
Die Normalisierung des Rechtsradikalen ist längst im Gange – in vielen Gemeinden und Landkreisen. Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren sehen, dass dies in vielfältiger Weise konkrete Folgen zeitigen wird. Viele Demokratie- und Kulturprojekte hängen zum Beispiel von den Voten kommunaler Gremien ab. Rechte Mehrheiten aus AfD, Freien Sachsen und je nach Ort CDU oder diversen freien Wählervereinigungen werden sich zusammenfinden – das wird so passieren, hierfür braucht es keine hellseherischen Fähigkeiten.
Jetzt erst recht: Widerständig bleiben!
Hoffnung, doch? Nach den Kommunal- und Landtagswahlen fällt es schwer, optimistisch zu bleiben. Es macht sich Resignation breit, das ist in allen Bereichen der lebendigen Zivilgesellschaft zu spüren. Was bringt das alles? Diese Frage stellen sich viele.
Kurz vor der Landtagswahl in Sachsen besuchte ich das Herz-in-der-Hand-Festival in Zittau. Drei Tage lang Konzerte, Reden, vielfältige Aktionen und zum Abschluss eine Demonstration.
Eine Woche später die Landtagswahl in Zittau: verheerend. Die AfD erreichte in der Stadt 36,5 %, die SPD mit 4,5 % stärkste Partei des Mitte-Links-Spektrums.
Am Sonntag bei der Demo hielt der Zittauer Oberbürgermeister Thomas Zenker eine beeindruckende Rede. Er lobte die Organisator*Innen des Festivals und die seit vielen Jahren engagierte Initiative „Augen auf“. Zugleich mahnte er, dass dies nicht reiche. Er forderte dazu auf, in der gesamten Gesellschaft Präsenz zu zeigen.
Über die begrenzten Bubbles der stabilen Zivilgesellschaft hinauswirken: Das scheint in der Tat ein kluger Ratschlag zu sein. Die bittere Erkenntnis nach diesen Wahlen: Die Wirkung von Demokratiedemos und Co. hält sich in einem überschaubaren Rahmen.
Eine weitere Erkenntnis: Angesichts der ungünstigen Verschiebungen in vielen Kommunalparlamenten droht zahlreichen Projekten das Aus, der Zustrom staatlicher Fördergelder wird vielerorts versiegen. Keine Hoffnung, nirgends? Wer sagt denn, dass diese Projekte von staatlichen Mitteln abhängig sein müssen? Nun kann die Zivilgesellschaft zeigen, dass sie solche Projekte mit regelmäßigen Förderbeiträgen und Spenden am Leben hält. Das Kulturbüro Sachsen wirbt zum Beispiel um Fördermitglieder (Opens in a new window), das Netzwerk Polylux verteilt die eingenommenen Beiträge auf eine Vielzahl an Initiativen im gesamten Osten (Opens in a new window) – vom anarchistischen Treffpunkt Malobeo in Dresden-Neustadt über den Verein Colorido in Plauen bis zum Punkrockschuppen AK40 in Suhl.
Resignation ist keine Möglichkeit. Trotz alledem: Hoffnung, doch.