Mit Toni Mertsching (Linke / Wahlkreis Görlitz 1) in Weißwasser
Zieht die Linke erneut in den sächsischen Landtag ein? Das ist eine der spannenden Fragen dieser Landtagswahl. In Weißwasser habe ich die Landtagsabgeordnete Toni Mertsching begleitet – Heidi Reichinnek und Stefan Hartmann waren ebenfalls vor Ort.
Von Dresden aus dauert die Zugreise bis Weißwasser über zwei Stunden. Entweder über Görlitz oder Cottbus. Sachsen und auch Brandenburg sind Flächenländer, teilweise dünn besiedelt. Bei meiner Zuganreise über Cottbus wird mir das plastisch vor Augen geführt. Umstieg in den Zug Richtung Zittau nach Weißwasser. Zwischenhalte in Neuhausen, Bagenz, Spremberg und Schleife.
Weißwasser: Dort lädt die Landtagsabgeordnete Antonia Mertsching zum Kaffeeklatsch im Stadtpavillon und anschließend zu einer Wahlkampfaktion an der örtlichen Skateanlage ein. Mit Heidi Reichinnek begrüßt sie einen prominenten Gast. Die gebürtige Sachsen-Anhaltinerin sitzt der Linkspartei-Gruppe im Bundestag vor, gemeinsam mit dem Leipziger Sören Pellmann.
Der Abschluss meiner dreiteiligen Serie: Nachdem ich mit Martin Dulig (SPD) wandern war (Öffnet in neuem Fenster)und mit Thomas Löser (Grüne) das Sommerfest in der Jüdischen Kulturgemeinde besuchte (Öffnet in neuem Fenster), nun eine andere Partei und örtlich weit entfernt vom großstädtischen Raum. Doppelt spannend.
Kaffeeklatsch: Altersarmut und andere soziale Themen im Vordergrund
Im Stadtpavillon versammeln sich rund ein Dutzend ältere Damen und Herren. Vor Veranstaltungsbeginn erzählt ein Senior von einem Verwandten, der im Volkssturm sein Leben gelassen hat. „Ein Irrsinn“, echauffiert er sich. Später wird er sich über Hakenkreuz-Schmierereien an örtlichen Gebäuden aufregen: „Kein Gewissen!“
Willkommen bei der Linkspartei, bei welcher der Antifaschismus zur DNA gehört. Das Thema dieses Treffens bei Kaffee und Kuchen ist aber nicht der Rechtsruck, die Linke will über soziale Themen wie Altersarmut und medizinische Versorgung diskutieren.
Die Linke interessiere sich nur noch für Minderheiten, schallt es aus dem BSW. Ich frage mich an diesem Nachmittag: Von welcher Linken sprechen Wagenknecht und Co.?
Toni Mertsching, Heidi Reichinnek und der ebenfalls anwesende Linke-Landesvorsitzende Stefan Hartmann reden im weitläufigen Saal des Stadtpavillons vornehmlich über Themen, die breite Bevölkerungsschichten berühren.
„Eine Rente, die zum Leben reicht“, fordert Heidi Reichinnek. Und plädiert für eine staatliche Mindestrente von 1.200 Euro. Zugleich warnt sie davor, Alte und Junge gegeneinander auszuspielen. Ihrer Erfahrung nach haben alle Generationen dieselben Sorgen: Mangel an Ärzt*innen und Krankenhäusern nennt sie als Beispiel. Sie erwähnt auch das Thema „Einsamkeit“ und fordert öffentliche Orte, an denen sich Menschen treffen können.
Heidi Reichinnek: fröhlich, redegewandt, direkt – einfache, klare Sprache. Auch optisch fällt sie auf, beim Kaffeeklatsch mit Grauhaarigen genauso wie im Bundestag: tätowiert, ein Rosa-Luxemburg-Tattoo zeigt ihre politische Gesinnung. Geld und Eigentum seien ungerecht verteilt, betont sie während ihrer Rede. Sie findet die richtigen Worte, ob hier bei den Senior*innen oder bei TikTok für das junge Publikum:
https://www.tiktok.com/@heidireichinnek/video/7248990655387602203?is_from_webapp=1&sender_device=pc&web_id=7404921954451506721 (Öffnet in neuem Fenster)Die Linke interessiere sich nicht mehr für die realen Probleme der Menschen, tönt es aus dem BSW. „Wir richten unsere Politik an den realen Problemen der Menschen aus“, stellt Stefan Hartmann bei seinem Statement fest. Und bestätigt dies sogleich: Auch er spricht das große Altersarmutsrisiko in der Gesellschaft an.
Bibliothek statt Waffenlieferungen
Im Vorfeld habe ich vermutet, dass es bei dieser Veranstaltung zu einem Streit über die Ukraine-Politik kommen könnte. Ein bedeutendes, vieles überstrahlende Thema in diesem Wahlkampf. Hitzig wird es tatsächlich kurz: Es geht aber nicht um Waffenlieferungen, sondern um den Umzug der städtischen Bibliothek und die Sanierung des Bahnhofs.
Einspruch von Toni Mertsching, der Anti-Wutbürgerin, der Zuversichtlichen: Sie wirbt dafür, abzuwarten. Neuerungen würden häufig auf Skepsis treffen, sie betont die Chancen dieses Vorhabens.
Mangelnde Möglichkeiten an Freizeitaktivitäten, wie es aus dem Publikum angedeutet wird? Toni Mertsching sieht das vollkommen anders und zählt die zahlreichen Angebote für Jung und Alt in Weißwasser auf. Die Zuversichtliche, die Anti-Populistin.
Die älteren Teilnehmer*innen interessieren sich stark für lokale Themen. Heidi Reichinnek kann dazu wenig beitragen. Toni Mertsching und Stefan Hartmann versuchen, die Diskussion auf die Bundespolitik zu lenken. Mit begrenztem Erfolg. Wagenknecht will von Dresden und Erfurt aus die Außenpolitik ändern, die Gäste der Linkspartei in Weißwasser interessieren sich für den lokalen Bahnhof.
Ein älterer, redebedürftiger Mann echauffiert sich über die Corona-Politik der AfD. Für ihn unverantwortlich! In den 90ern habe er NPD gewählt, danach AfD, aber seit Corona sei damit Schluss! Den Versammelten stockt der Atem. Ich zücke meinen Kugelschreiber und schreibe interessiert mit: Wie unterschiedlich die Wahlmotivation von Wähler*innen ist! Corona als Grund, mit den Rechten zu brechen.
Toni Mertsching: Ökologie und Entwicklungspolitik als Schwerpunkte
Die Veranstaltung ist zu Ende, Toni Mertsching und Heidi Reichinnek räumen die reichlich gedeckten Tische ab. Der Ex-NPD-Wähler erzählt Toni Mertsching von seiner verstorbenen Frau, er gibt den Ärzten die Schuld daran. Andere würden versuchen das Gespräch abzuwürgen, Toni Mertsching fragt interessiert nach, versucht den Mann davon abzubringen, die Ärzte zu beschuldigen. Mehr Sozialarbeiterin als Wahlkämpferin.
Die Abgeordnete fährt mich im Auto zur Skateanlage an der Fanmeile, zweite Aktion an diesem Tag. Ich frage sie nach ihren bisherigen Erfahrungen im Wahlkampf. Die Antwort ähnlich wie bei Martin Dulig und Thomas Löser: größtenteils freundlich, keine beängstigenden Erlebnisse. Sie glaubt, dass es auch am eigenen Auftreten liegen könnte. Nachdem ich ihr Gespräch mit dem älteren Mann verfolgt habe, glaube ich das sofort.
Toni Mertsching: Seit 2019 vertritt sie die Linke im sächsischen Landtag. 1985 in Berlin geboren, Studium der Politikwissenschaften, Rechtswissenschaften und Soziologie an der TU Dresden. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt angesichts des Wahlkreises auf der Hand: der Strukturwandel in der Lausitz. Zugleich verfügt sie über ein ausgesprochen ökologisches Profil, eine Öko-Linke, die Umwelt- und Klimaschutz mit dem Sozialen verbindet. Eng damit zusammen hängt ihr Engagement in der Entwicklungspolitik. Während des Studiums beteiligte sie sich in der TU-Umweltinitiative, nach dem Abschluss arbeitete sie beim Entwicklungspolitischen Netzwerk Sachsen im Themenfeld Wirtschaft und Menschenrechte.
Wahlkampf an der Skateanlage: Der Trend ist rechts, die Linke hält dagegen
Wir erreichen den Skatepark an der Fanmeile. Eben hat mir Toni Mertsching die vornehmlich positiven Eindrücke im Wahlkampf geschildert. Auf der Skateanlage ein Graffiti: „Fick die Linke. 1161“.
Die Linke hat groß aufgefahren. Mehrere Pavillons, Hüpfburg, großes Display mit der Spitzenkandidatin Susanne Schaper, Grill, Eis, Kuchen, Wassermelonen, Menschel-Limo aus der Region.
Eine kleine Gruppe sehr junger Jugendlicher steht in der Gegend herum. Potenzielle Wähler für die Linke in einigen Jahren?
Neben mir Stefan Hartmann, der Linke-Landesvorsitzende. Wir essen Kuchen, als wir davon erfahren, dass es sich um eine rechte Jugendclique handelt.
Alles wenige Meter voneinander entfernt: die rechten Jugendlichen, Stefan Hartmann und ich den Kuchen genießend, dazwischen die Landtagskandidatin Hanni Stiller aus dem benachbarten Wahlkreis im Einhornkostüm. Eine absurde Szenerie.
Keinerlei Bedrohungslage, die Stimmung entspannt. Stefan Hartmann aber besorgt: Er nennt sehr junge Rechte ein flächendeckendes Problem, Berichte aus zahlreichen Regionen geben ihm recht. Momentan, so Hartmann, gehe es um Abwehr und um Eindämmung. Er thematisiert den Rechtsruck, stellt fest, dass Linke in der Defensive seien. Das Problem entstehe im Rahmen der aktuellen politischen Kultur. Und er stellt nüchtern fest, dass es ein langer Kampf werde. „Dicke Bretter bohren“, um die Gesellschaft wieder in eine positive Richtung zu bewegen.
Kampf um jede Zweitstimme
Toni Mertsching engagiert sich intensiv in diesem Wahlkampf, täglich zeigt sie in ihrem Wahlkreis Görlitz 1 Präsenz. Wissend, dass sie keine Chance auf ein Direktmandat hat und ihr Listenplatz mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen wird.
Ihr geht es darum, die Linke zu retten. Explizit wirbt sie um Zweitstimmen für ihre Partei – jede Stimme zählt, wenn die Linke die 5-%-Hürde überschreiten will. Auch in Weißwasser, Niesky, Rothenburg und Bad Muskau.
Zum Wahlkreis Görlitz 1:
Toni Mertsching wohnt in Weißwasser – mit rund 15.000 Einwohner*innen die größte Stadt in ihrem Wahlkreis. Es folgen Niesky mit 9.100, Rothenburg mit 4.300 und Bad Muskau mit 3.700. Zudem umfasst der Wahlkreis Görlitz 1 anderthalb Dutzend Gemeinden.
Dieser Wahlkreis war jahrelang eine unangefochtene CDU-Hochburg, nun liefert sich die CDU in Weißwasser und Co. einen Zweikampf mit der AfD. Bei der Landtagswahl 2019 lag die CDU bei den Zweitstimmen mit 36,6 % vor der AfD mit 35,4 %. Der AfD-Kandidat Roberto Kuhnert errang mit 36,6 % aber das Direktmandat, Tilmann Havenstein von der CDU hatte mit 34,3 % das Nachsehen.
Den dritten Platz erreichte Toni Mertsching mit 9,5 %, die Linke erzielte 8,6 % der Zweitstimmen.
Beim Kampf um das Direktmandat dürfte es erneut einen Zweikampf zwischen CDU und AfD geben. Toni Mertsching kämpft vornehmlich um Zweitstimmen, das machte sie jüngst in einem Instagram-Video deutlich. Nach dem Motto: Jede Zweitstimme für die Linke in Weißwasser, Niesky und dem gesamten Wahlkreis kann darüber entscheiden, ob die Partei in den sächsischen Landtag einzieht.
Zur Lage der Linken vor der Landtagswahl in Sachsen:
Die Linke muss bibbern: So viel ist klar. In Sachsen könnte sie zum ersten Mal seit 1990 den Einzug in einen ostdeutschen Landtag verpassen. Ehemals ostdeutsche Volkspartei, im Zuge der Anti-Hartz-Proteste mit hohen Zustimmungswerten und Wahlergebnissen. 2004 errang sie bei den Landtagswahlen in Sachsen 23,6 % der Stimmen.
4,9 % der Stimmen: Das ist das Ergebnis der Europawahl in Sachsen. 3,3 %, diesen Stimmenanteil verzeichnete die Linke im Landkreis Görlitz.
Gründe für diesen Abschwung gibt es viele. Der jahrelange interne Streit mit Sarah Wagenknecht dürfte der Partei nachhaltig geschadet haben, die Linke hat sich vorführen lassen und hätte sich wohl proaktiv von der heutigen BSW-Parteivorsitzenden trennen sollen.
Die Probleme basieren aber auch auf einem gesamtgesellschaftlichen Wandel, der vielen linken Parteien in Europa das politische Wirken erschwert. Im Vordergrund stehen Themen wie Migration, Klimaschutz und Minderheitenrechte. Wichtige Themen, keine Frage. Die Stärke linker Parteien lag aber lange Zeit darin, progressive Milieus und gesellschaftlich eher konservativ eingestellte Beschäftigtenmilieus gleichermaßen an sich zu binden: die zweitgenannten Milieus über die verbindende Klammer der sozialen Gerechtigkeit.
Soziale Ungerechtigkeit gibt es weiterhin, nimmt eher zu denn ab. In der Bevölkerung dominieren aber andere Themen, das macht es Parteien wie der Linken schwer.
Ein Sonderproblem hier im Osten: die niedrige Arbeitslosigkeit. Zur Hochzeit der Anti-Hartz-Proteste waren viele Ostdeutsche selbst betroffen, kannten einen Betroffenen im Umfeld oder glaubten, durch einen Jobverlust bald selbst betroffen zu sein. Heute haben die meisten einen Job, beim Bürgergeld denken viele nur noch an Migrant*innen und angebliche Faulenzer*innen. Die Stimmung hat sich diesbezüglich gravierend geändert: erschwerte Bedingungen für die Linken.
3 bis 4 % sagen Umfrageinstitute der Linken in Sachsen voraus. Die Überwindung der 5-%-Hürde: möglich, aber unsicher. Das sächsische Wahlrecht sieht mit der Grundmandatsklausel aber eine weitere Option vor, um in voller Stärke in den Landtag einzuziehen. Hierfür müssen Parteien mindestens zwei Direktmandate gewinnen.
Die Hoffnungen der Linken ruhen auf Leipzig. Die Abgeordnete Jule Nagel wird ihr Direktmandat im Wahlkreis Leipzig Süd mit hoher Wahrscheinlichkeit verteidigen. Chancen bestehen zudem in den Wahlkreisen Leipzig West und Leipzig Mitte-Ost, in denen Marco Böhme und Nam Duy Ngyuen antreten.
Bei der Stadtratswahl holte die Linke in Leipzig 17,6 % - ein starkes Ergebnis angesichts der widrigen Umstände. Eine gute Ausgangsbasis für den Wahlkampf, in welchem die Linke eine enorme Präsenz in der Stadt zeigt und mit plakativen Botschaften („100 % sozial, 0 % käuflich“) für Aufmerksamkeit sorgt. Gut möglich, dass sich die Linke am Sonntag über zwei oder drei Direktmandate freuen kann.