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PIWO statt KEW: Podiumsdiskussion zum Antisemitismus an Leipziger Hochschulen

„Antisemitismus an Leipziger Hochschulen“ - unter diesem Titel lud die Gruppe Hochschulen Leipzig gegen Antisemitismus (HLGA Leipzig) heute Morgen zu einer Podiumsdiskussion. Im Rahmen der Progressiven Initiativwochen (PIWO) - seit 2023 die Alternative zu den mittlerweile linksautoritär dominierten Kritischen Einführungswochen.

HLGA-Ringvorlesung als „erster Versuch einer progressiven und emanzipatorischen Intervention“

Wie an vielen anderen Uni-Standorten wirkt sich der Nahostkonflikt auf die Hochschulen in Leipzig aus. Am Campus und darüber hinaus spüren Jüdinnen und Juden sowie Antisemitismus-Sensible und Israel-Solidarische die Folgen.

Das wesentliche Merkmal der propalästinensischen Szene in Leipzig sind Grenzüberschreitungen: in Äußerungen und in Aktion.

Beteiligte Gruppen relativieren das antisemitische Massaker nicht nur, sie feiern es explizit als Widerstandsakt. Erschütterndes Beispiel: Die mittlerweile überregional bekannte Gruppe Handala begrüßte den 07. Oktober einen Tag später mit einem Beitrag auf Instagram – bestehend aus dem Slogan “from the river to the sea” und einem gezeichneten Paraglider. (Öffnet in neuem Fenster) Dieses Flugmittel hatten einige Islamisten genutzt, um die Grenzanlage zu überwinden. Eine Mitgründerin von Handala: Dozentin an einer Leipziger Hochschule.

Bundesweit Schlagzeilen machten diese Gruppen mit der Besetzung des Audimax und einem Protestcamp im Innenhof des Campus. Die Konferenz Sächsische Studierendenschaften forderte eine sofortige Räumung:

Das Rektorat der Universität Leipzig muss die Besetzung und das Protestcamp sofort beenden. Aktuell ist die Sicherheit von jüdischen und israelischen Studierenden und Mitarbeitenden akut gefährdet. Die Sicherheit jüdischer Menschen ist unverhandelbar.

Pressemitteilung KSS, 07.05.2024 (Öffnet in neuem Fenster)

Die Lage hier ist angespannt, das wird mir sofort klar: Zum ersten Mal in meinem Leben betrete ich einen Hörsaal nach einer Taschenkontrolle. Der Kulturwissenschaftler Matthias, der zu den Gründungsmitgliedern von HLGA gehört, stellt in seinen einleitenden Worten die Gruppe und die Diskussionsteilnehmer*innen vor. Und schildert die Situation an den Leipziger Hochschulen. Spricht von einer Raumnahme antisemitischer und linksautoritärer Gruppen, die „ein Klima der Angst und Verunsicherung“ schaffe. Betont die Bedeutung der diversen K-Gruppen, welche das antisemitische Massaker politisch ausnutzen würden. Die im letzten Semester von HLGA organisierte Antisemitismus-Ringvorlesung bezeichnet er als „ersten Versuch einer progressiven und emanzipatorischen Intervention“.

RIAS Sachsen: Hohe Fallzahlen an israelbezogenem Antisemitismus

Nach dieser Einleitung haben Lisa und Charlotte vom RIAS Sachsen das Wort und präsentieren den Jahresbericht „Antisemitische Vorfälle in Sachsen 2023“ - der erste seiner Art. Diese systematische Erfassung und Kategorisierung kommt zum richtigen Zeitpunkt.

Insgesamt 192 Fälle registrierte RIAS Sachsen, viele davon über das Portal report-antisemitism.de (Öffnet in neuem Fenster) gemeldet. Mit einem rasanten Anstieg seit dem 07. Oktober, ein beträchtlicher Anteil lässt sich dem Bereich des israelbezogenen Antisemitismus zuordnen. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden in Sachsen, Dr. Nora Goldenbogen, schreibt in ihrem Vorwort von einem „eruptionshaften Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland“.

Die beiden RIAS-Vertreterinnen sprechen auch für 2024 von einem anhaltend hohen Niveau. RIAS bietet den Bericht auf seiner Homepage zum Download an, (Öffnet in neuem Fenster) inklusive prägnanter Beschreibungen der unterschiedlichen Kategorien bei Aspekten wie Erscheinungsform, politischer Hintergrund und Tatorte.


„Ein politisches Klima, das Angst macht“

An der anschließenden Podiumsdiskussion beteiligen sich neben den beiden RIAS-Vertreterinnen Prof. Gert Pickel und Alexander. Prof. Pickel lehrt an der Theologischen Fakultät und ist seit Anfang 2024 Antisemitismusbeauftragter der Uni Leipzig. (Öffnet in neuem Fenster)Alexander ist Vorsitzender der Jüdischen Allianz Mitteldeutschland, die sich Ende Oktober 2023 gegründet hat. Allerdings nicht als Reaktion auf den 07. Oktober, die Gründung war schon zuvor geplant – das Massaker hat zwischendurch eher zu Zweifeln geführt, ob sich die Initiator*innen so exponieren wollen. Es setzte sich aber die Überzeugung durch, dass der Bedarf an einem Netzwerk gerade angesichts der zahlreichen antisemitischen Vorfälle groß ist.

Prof. Pickel erläutert detailliert seine Aufgaben und die damit einhergehenden Schwierigkeiten. Er sieht bei den Verantwortlichen an der Uni durchaus Willen, antisemitische Veranstaltungen zu unterbinden und insgesamt gegen Antisemitismus vorzugehen. Verweist aber unter anderem auf die Überforderung in manchen Fakultäten und auf die Scheu vor potenziellen Gerichtsverfahren, zumal das Land Unis mit solchen Prozessen allein lasse. Zum Teil, so Pickel, fehlte es in der Vergangenheit auch an entsprechenden Hinweisen an die verantwortlichen Stellen. Er legt zudem dar, dass zum Beispiel der Innenhof des Campus – Ort des Protestcamps – öffentlicher Raum sei. Verantwortlich dafür sei die Stadt, bei der die Sensibilität für Antisemitismus ausbaufähig sei.

Ein düsteres Bild zeichnet Alexander von der Jüdischen Allianz Mitteldeutschland. Detailliert schildert er die Ereignisse bei der Besetzung des Audimax und dem Aufbau des Protestcamps am 07. Mai 2024. Propalästinensische Kräfte hätten Angst und Schrecken verbreitet, kurzzeitig hätten sie sogar eine Art Einlasskontrolle eingerichtet, um angeblichen Zionist*innen den Zutritt zum Uni-Hauptgebäude zu verwehren. Anrückende „anständige Linke, Antideutsche“, wie Alexander formuliert, hätten dies unterbunden. Er berichtet von betroffenen Mitgliedern seines Netzwerks, darunter einem verletzten Studenten, der im Krankenhaus behandelt werden musste. Und schildert die Erlebnisse einer Studentin, die von propalästinensischen Kräften abgefilmt wurde und in den Tagen danach stark unter dem Erlebten litt.

Er berichtet darüber hinaus von einem linken Studierenden aus Chemnitz, der aufgrund seiner Einstellung zum Nahostkonflikt aus queer-linken Zusammenhängen herausgemobbt wurde – mit erheblichen psychischen Folgen.

Matthias von der Gruppe HLGA erwähnt die Ereignisse während einer Plakataktion auf dem Uni-Campus, mit der die Verantwortlichen an die israelischen Geiseln erinnerten. Zwei Mal traten Anwesende unter Beschimpfungen die Plakatwände ein. „Ein politisches Klima, das Angst macht“, resümiert der HLGA-Vertreter.

Diskurs mit linken Antisemit*innen: nahezu unmöglich

Und nun? Viele Uni-Verantwortliche setzen darauf, diese Problematik diskursiv zu lösen. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Siehe zum Beispiel Berlin. Prof. Pickel macht hierfür unter anderem die postkoloniale Zuschreibung für Israelis als „weiße, machtvolle Menschen“ verantwortlich. Einige Linke würden aufgrund dieser Zuschreibung glauben, ihr Kampf sei gegen Rassismus gerichtet und sie würden die Wahrheit auf ihrer Seite haben. Eine Vertreterin von RIAS bestätigt dies und fügt hinzu: Linke Studierende hätten Antisemitismus zwar auf dem Schirm, Antisemit*innen seien aber nur die anderen. Sie selbst würden sich als Menschenfreunde sehen.

Alexander zieht daraus eine Konsequenz: Er fordert das konsequente Unterbinden antisemitischer Protestformen, damit jüdische Studierende angstfrei studieren können. Zudem ruft er die Universitäten auf, von sich aus Veranstaltungen zum Thema Antisemitismus anzubieten.

Aber auch der rechte und verschwörungstheoretische Antisemitismus bleibt eine Herausforderung: Das machen die Teilnehmer*innen dieser wichtigen Veranstaltung an diesem Morgen ebenfalls klar. Eine Veranstaltung, die störungsfrei vonstattenging. Traurig, dies erwähnen zu müssen.

Die Gruppe HLGA wird noch einen Audiomitschnitt veröffentlichen.


Lesenswerte Artikel

Zur Situation an den Hochschulen in Leipzig und insgesamt in der Stadt (beides lässt sich kaum voneinander trennen) gibt es zahlreiche fundierte Beiträge. Empfohlen seien unter anderem:

Tobias Prüwer widmete sich im Kreuzer unter dem Titel „Avantgarde von gestern“ dem Aufstieg linksautoritärer Gruppen in Leipzig – und den lauter werdenden Gegenstimmen. (Öffnet in neuem Fenster)

Ebenfalls im Kreuzer porträtierte Martin Wagner vor wenigen Tagen die antisemitische Gruppe Handala und die verbündeten linksautoritären Gruppen. (Öffnet in neuem Fenster) Der Text beinhaltet folgende interessante Einschätzungen:

Obwohl sich Handala stets als links und antifaschistisch tituliert, konzentrieren sich die Gruppe und ihre Verbündeten mit ihren Aktionen ausschließlich auf linke und antifaschistische Projekte und Personen. Aktionen der Gruppe gegen die CDU und AfD sucht man vergeblich.

Kreuzer-online: Ein Jahr Krieg in Nahost - ein Jahr Kampf um die Köpfe, 13.10.2024 (Öffnet in neuem Fenster)

Und:

Für Handala, JID, KO, Young Struggle und Zora scheinen rechtsextreme Umtriebe generell ein blinder Fleck zu sein, was angesichts der selbst proklamierten Rolle als politische Fürsprecher von Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchteten besonders zynisch wirkt.

ebd.

„Anständige Linke“ –Leipzig als Hochburg

In Leipzig positionieren sich beträchtliche Teile der linken Szene traditionell gegen jede Form des Antisemitismus, einige davon auch explizit pro-israelisch. Das geht im Getöse der hyperaktiven Pro-Pali-Gruppen unter. Entsprechend gibt es zahlreiche linke Veranstaltungen zu diesem Thema, jüngst im Rahmen der Aktionswochen gegen Antisemitismus. Eine überregional bekannte Location ist das geschichtsträchtige Conne Island, in dem die Gruppe HLGA diesen Donnerstagabend zu einem Kneipenabend einlädt.

Auch jenseits der Aktionswochen und der Progressiven Initiativwochen wird es Veranstaltungen zum Antisemitismus und zu den Herausforderungen durch linksautoritäre Gruppen geben. Es lohnt ein Blick auf Seiten wie planlos-leipzig.org (Öffnet in neuem Fenster) und knack.news (Öffnet in neuem Fenster) sowie auf Social-Media-Accounts von Gruppen wie BIG Leipzig (Bündnis israelsolidarischer Gruppen und Personen in Leipzig), [k]appa – Kommunistische Gruppe Leipzig, Fantifa, Utopie & Praxis Leipzig sowie Punks against Antisemitism Leipzig. Ü-30-Erstis finden mit der Gruppe Florida den richtigen Ansprechpartner. Erwähnung verdient auch das Bündnis Reclaim Antifa, das sich gegen antisemitische und autoritäre Strukturen richtet.

Veranstaltungen an der Uni

Die Progressiven Initiativwochen finden bis Mitte November statt. Vielfältige Gruppen jenseits des Linksautoritären beteiligen sich – mit einer diversen Palette an Themen. Das detaillierte Programm findet sich hier. (Öffnet in neuem Fenster)

An der Theologischen Fakultät veranstalten Prof. Yemima Hadad und Prof. Pickel in diesem Semester eine hochkarätig besetzte Ringvorlesung mit dem Titel „Traditionen und Gegenwart des Antisemitismus“ (Öffnet in neuem Fenster), unter anderem mit einem Auftritt von Prof. Benny Morris. Der israelische Historiker hat das Standardwerk „1948. Der erste arabisch-israelische Krieg“ verfasst, 2023 beim Leipziger Hentrich & Hentrich Verlag als Übersetzung erschienen. Die Vorlesungen finden donnerstags um 19 Uhr statt.

Besucht auch meinen Blog Krimiperlen für politisch relevante Kriminalliteratur, zum Beispiel Dror Mishanis “Vertrauen”. (Öffnet in neuem Fenster)

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