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Valentina

Während der kurzen Phase der Kollaboration zwischen der UdSSR und Deutschland wurden viele dieser Emigranten verhaftet und als Freundschaftsbeweis den deutschen Sicherheitsbehörden »ausgehändigt«, was den sicheren Tod bedeutete. Wer übrig blieb, galt nach Hitlers Angriff auf die Sowjet plötzlich als Deutscher und wurde in den Osten Auch von ihnen hat kaum einer überlebt

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 135)

„Schon von klein auf hatte ich französische Romane und verschiedene psychologische Abhandlungen gelesen und fühlte mich bestens für alles gewappnet, was mit Liebe und zwischengeschlechtlichen Beziehungen zu tun hatte. Sobald mir die nie gekannte, berauschende Macht über die jungen Männer in meiner Nähe verliehen war, machte ich sogleich Gebrauch von ihr, um bestimmte Aspekte des theoretischen Wissens in der Praxis auszuprobieren. Dies geschah mit der Gründlichkeit einer Forscherin, ganz so als würde ich eine spannende Untersuchung im Labor betreiben. Ich war wirklich überrascht, wie leicht die Manipulationen mit den Versuchskaninchen gelangen und wie vorhersehbar sie reagierten, wenn ich die aus Romanen und Theaterstücken abgeschauten weiblichen Taktiken anwandte. Es war eine Zeit, in der ich das männliche Geschlecht zu verachten begann (später wurde ich verständnisvoller).“

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 138)

 

„Doch 1940 stießen wir auf ein Phänomen, das für einen westlichen Menschen unfassbar war: Sämtliche Vereinbarungen und Deklarationen, deren Gültigkeit in einer demokratischen Gesellschaft vertraglich garantiert ist und die man daher für selbstverständlich hält, wurden wirkungslos. Wir wussten natürlich, dass sich die Gesetze in der Sowjetunion radikal von denjenigen unterschieden, die für uns galten. Wir waren jedoch nicht darauf vorbereitet, in eine Situation zu geraten, in der die Sowjetmacht die von ihr selbst erlassenen Gesetze und Vertrug mit Füßen trat.“

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 195 f.)

 

„Später ging mir auf, dass die Letten - jedenfalls ein Teil von ihnen damals zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Deutschen zujubelten. Die Erfahrung von Jahrhunderten bis hin zu der unverhohlenen Ablehnung des Hitlerstaats durch Ulmanis in den letzten Jahren der Unabhängigkeit - all das hatte der Schock eines einzigen sowjetischen Jahres ausgelöscht. In Riga, von der sowjetischen Armee verlassen, von der Wehrmacht noch nicht eingenommen, machte sich aber auch ein Gefühl entsetzlicher Ohnmacht breit und die Ahnung, dass unsere Entscheidung hierzubleiben ein fataler Irrtum gewesen war. Der letzte Akt im Leben nicht nur unserer Familie hatte begonnen.“

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 216)

 

„Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern ins Ghetto gehen mussten. Natürlich stand auch ich auf der Liste, und der redliche Hausmeister Obolevics trug denn auch ins Hausbuch ein: »Alle drei ins Ghetto gegangen.« Ich erinnere mich an das letzte Gespräch mit meiner Mutter. Wir saßen in der Küche, und ich weinte hemmungslos. Mama konnte solche Gefühlsausbrüche nicht leiden, und ich hatte längst gelernt, mich zu beherrschen. Doch in diesem Augenblick vermochte ich es nicht. Mir kommt es bis heute so vor, als sei meine Mutter noch nie so schön gewesen wie an jenem Tag, als ich sie zum letzten Mal sah. Völlig ruhig saß sie auf dem Küchenstuhl wie eine Königin auf dem Thron. Sie war zweiundvierzig Jahre alt, wirkte jedoch viel jünger. Uneingeweihte hielten sie oft für meine ältere Schwester. Vater war älter als sie, Ende vierzig, ein Mann in den besten Jahren.“

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 237)

 

In den beiden »Aktionen« am 30. November und 8. Dezember 1941 kamen fast alle meine Angehörigen ums Leben -meine Mama und ihre Eltern, meine Großmutter väterlicherseits, Onkel Max, die Familien meiner Tanten mit den kleinen Cousins - insgesamt siebzehn meiner nächsten Verwandten. Offenbar wurden sie bereits mit der ersten Marschkolonne aus dem Ghetto gebracht, doch wirklich wissen werde ich es nie.

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 249)

 

 Als die Eltern gerade ins Ghetto gegangen waren, erhielt ich von Vaters Arzt, Dr. Goldberg, eine Ampulle mit Zyankali. Mit diesem Gift hatte er sowohl sich selbst als auch einige seiner Patienten versorgt, denen Gefahr drohte. Die kleine Ampulle beruhigte mich enorm. Ich nähte sie so in den Träger meines Büstenhalters, dass ich sie durch Beugen des Kopfes mit dem Mund erreichen und zerbeißen könnte, falls beispielsweise meine Hände auf dem Rücken gefesselt wären. Jedesmal, wenn ich die Wäsche wechselte, zog auch meine Dosis Gift mit um. Auch zur Sowjetzeit bewahrte ich sie noch lange in meiner Reiseapotheke auf, für alle Fälle. Irgendwann in den sechziger Jahren habe ich das kleine Glasröhrchen schließlich entsorgt.

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 269)

„Ich glaube, dass alle meine Toten - die Menschen, die ich liebte und die mich geliebt haben -, wo immer sie jetzt auch sein mögen, sich freuen, dass ich noch lebte. Ich weiß nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Wenn ja, dann bin ich überzeugt: sie schauen von dort mit Wohlwollen auf mich. Ich empfinde keine Schuld, sondern Verantwortung ihnen gegenüber. Ich bemühe mich, mein Leben anständig zu leben, weil ich es auch an ihrer statt lebe. Schuldig würde ich mich nur dann fühlen, wenn ich mein Leben vergeudet hätte.“

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 288 f.)

„Mein persönlicher Kampf war noch nicht zu Ende. Ich wusste, dass ich mich auch weiterhin Tag für Tag würde verteidigen müssen. Es würde ein anderes Ringen sein, das aber ebenfalls sämtliche Kräfte erforderte. Und ich war vollkommen allein.“

(Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 333)

Valentina Freimane (Opens in a new window), Adieu, Atlantis, Erinnerungen, Aus dem Lettischen von Matthias Knoll, € 22,90 (D) | € 23,60 (A), lieferbar, 341 S., 46 Abb., geb., Schutzumschlag, 12 x 20 ISBN: 978-3-8353-1603-4 (2015)

Topic Krieg/Nazis

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