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Die russische Tragödie

Der 1974 in St. Petersburg geborene ehemalige Chefredakteur des GEO Magazins in Russland und heutiger Redakteur der Deutschen Welle Vladimir Esipov, erklärt ausgesprochen lesenswert und mit sehr viel Empathie für seine Landsleute die Entwicklung seiner Heimat in den letzten Jahrzehnten.

Russland ist das größte Land des Kontinents und hat sich in den letzten vierzig Jahren unter den Protagonisten Gorbatschow, Jelzin und Putin extrem verändert. Vieles von dem was dort an Katastrophen geschah hat man hierzulande bereits wieder weitestgehend vergessen. Die westeuropäische Erwartung, dass man dieses riesige Russland innerhalb weniger Jahre in eine westliche Konsumgesellschaft umwandeln kann, so wie das Baltikum, die DDR oder Polen, trat nicht ein. Warum das nicht geschah, versucht Esipov verständlich zu machen.  

Alles dort schien in die richtige Richtung zu laufen und Russland wurde dank seiner Energiereserven wohlhabend, aber dann kam 2014 die Maidan-Revolution in Kiew und in der russischen politischen Elite entstand die Berürchtung, dass von der Ukraine eine Gefahr ausgeht. Man hatte Angst, dass sich in Russland etwas Ähnliches wiederholen könnte.

Seitdem rollt die Propagandamaschine in den von Putin gleichgeschalteten Staatsmedien. Seit Jahren wird dort erklärt, dass die Ukrainer von Nazis regiert werden und dass Russen dort gemeuchelt würden. Es ist eine Dauerbeschallung auf allen Kanälen, aus der dann eine vermeintliche Wahrheit entstand, an die inzwischen die Mehrheit des Volkes glaubt. Esipov sagt: „Die Bevölkerung steht ziemlich geschlossen hinter ihrem Präsidenten. Und wer den Krieg nicht unterstützt, schweigt, trinkt oder setzt sich ins Ausland ab.“ Für Westeuropäer ist das alles oft nur schwer zu verstehen.

So konnte es zu diesem absurden Krieg zwischen zwei Ländern kommen, die eine jahrhundertelange Geschichte und millionenfache Verwandtschaften und Freundschaften verband. Inzwischen scheint nachvollziehbarerweise Hass das Gefühl zu sein, das die meisten Ukrainer für Russland empfinden, sagt Esipov. 

Dennoch führt - laut Esipov - Putin seinen Kreuzzug nicht unbedingt gegen die Ukraine, sondern gegen den ganzen westlichen Lebensstil. Er schreibt: „Die ganze Annäherung ist passé, (...) die ‚Wandel durch Handel‘-Beschwörungen entpuppten sich als ein selbstbetrügerisches Feigenblatt der deutschen Wirtschaft, als ein Alibi für Milliardeninvestitionen in ein Land, das westliches Geld wollte, aber nicht die Idee der Freiheit. (...) Es gibt inzwischen mehr als zehn Sanktionspakete, es gibt keine Direktflüge zwischen Berlin und Moskau, zwischen der EU und Russland, und die Ostsee-Pipeline Nord Stream, ein Milliardenprojekt, ist durch einen gezielten Anschlag zerstört. Die heile Welt der demonstrativen deutsch-russischen Zuneigung, wie wir sie bis 24. Februar 2022 kannten, gibt es nicht mehr.“

 

 

Ernst Reuß   

 

 

Vladimir Esipov, Die russische Tragödie, Wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde, München 2024, 320 Seiten, 18 €.

Topic Russland/Ukraine

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