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Holocausterben

Andrea von Treuenfeld trieb die Frage um, wie die Nachfahren von überlebenden Holocaustopfern in zweiter oder dritter Generation mit den Traumata der Eltern umgegangen sind.

Dafür hat die Autorin prominente Söhne und Töchter befragt. Marcel Reif, Nina Ruge, Ilja Richter und andere berichten vom Aufwachsen im Schatten der Vergangenheit. Der Holocaust blieb auch für die, die ihn nicht persönlich erlebt hatten, ein wesentliches Element ihrer Biografie. So manchen beschäftigte schon früh die Frage, warum gerade sie so wenig Verwandte hatten. Im Gegensatz zu anderen deutschen Familien, waren Oma, Opa, Onkel oder Tante oft einfach nicht mehr existent.

Eine berührende Episode erzählt Gert, der mit seinem Vater „Hänschen“ Rosenthal im Berliner Olympiastadion war. Da sein Vater damals Vereinspräsident des Erstligisten Tennis Borussia war, saßen sie auf der Ehrentribüne. Hans Rosenthal drehte sich zu seinem Sohn und erklärte ihm feierlich, warum es für ihn gerade ein ausgesprochen besonderer Moment der Genugtuung sei, denn hier auf der Ehrentribüne habe einst Hitler gestanden und unter anderem auch ihn töten wollen. Sein Vater habe damals resümiert: „Und jetzt stehe ich hier, und er ist tot.“ 

Tragischerweise hatte Hans Rosenthals jüngerer Bruder da weniger Glück. Er wurde deportiert und ermordet.

Fast alle der für das Buch Interviewte sind nach dem Krieg im westlichen Teil Deutschlands aufgewachsen und es war wohl schwer für ihre Eltern mit dem Wissen zu leben, dass der Nachbar vor nicht allzu langer Zeit möglicherweise ein antisemitisch eifernder Nazi gewesen sein könnte.

Wie auch in christlichen Familien wurde nach dem Krieg über das Erlebte zumeist trotzdem geschwiegen, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Während die einen ihre Beteiligung oder ihr Mitläufertum verdrängten, wollten die anderen vergessen, einfach endlich leben oder ihre eigenen Kinder mit den Schrecknissen des Holocaust nicht belasten.

Marcel Reif kommt daher zum Schluss:

„Ich habe eine glückliche Jugend gehabt. Eine nasebohrende Luxus-Jugend, für die meine Eltern gesorgt haben mit ihrer Hände Arbeit und mit ihrem Schweigen. Ich hatte eine unbeschwerte Kindheit und ich sag das wirklich mit großer Verantwortung und im Wortsinn: eine völlig unbeschwerte Kindheit. Und das vergesse ich ihnen nicht. Ich bin ihnen für vieles dankbar, aber ich bin ihnen, meinem Vater vor allem, für dieses Schweigen sehr dankbar. Sie fragen mich, warum hast Du nicht gefragt? Weil ich - und da mache ich es mir ganz schön jetzt, abschließend auch für mich, denn ich werde nie wieder darüber reden - sein Lebenswerk, das er noch hinterlassen wollte, beschädigt hätte.“

Auch in jüdischen Familien kam das Thema „Holocaust“ oft erst mit der gleichnamigen amerikanischen Fernsehserie auf, die im Januar 1979 in der BRD für Gesprächsstoff sorgte. Interessant wäre natürlich auch gewesen, zu erfahren, wie es sich der Alltag für Juden im östlichen Teil des geteilten Nachkriegsdeutschlands angefühlt hat, aber das kann auch Thema eines weiteren Buches sein.

Auch die heutige Situation in Deutschland und Europa macht einigen der Interviewten Angst und sie warnen vor einem Wiederaufflammen des Hasses. Sandra, die Tochter von Georg Kreisler meint:

„Es kann jederzeit wieder passieren, auch wieder den Juden. Es wird zuerst gegen andere gehen, Roma und Sinti, Muslime. Und dann gegen die Juden. Weil die immer dabei sind. Deswegen wissen alle Juden, dass es wichtig ist, so viele Pässe wie möglich zu haben. (…) Früher hatte ich tatsächlich immer einen gepackten Koffer rumstehen, weil ich dachte, es könnte mal sein, dass man wirklich schnell weg muss. Dieses Gefühl habe ich jetzt wieder, weil der Antisemitismus schon wieder enorm ansteigt, weil in deutschen Straßen wieder geschrien wird: ‚Juden ins Gas!‘ Nur der Koffer ist heute einem USB-Stick gewichen.“

 

 

Ernst Reuß

 

 

Andrea von Treuenfeld: Erben des Holocaust, Leben zwischen Schweigen und Erinnerung, Gütersloh 2017, 19,99 €

Topic Krieg/Nazis

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