Skip to main content

Föhrenwalde

Eine interessante Heimatgeschichte hat der aus Bayern stammende Alois Berger, der inzwischen als freier Journalist in Berlin lebt, zu berichten. Er schreibt in seinem Buch „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ über seine Heimat Wolfratshausen.

Heimatkunde auf sehr hohem Niveau, mit vielen Zeitzeugen. Die Tochter einer Bekannten, die ihre Oma für eine Facharbeit interviewte, lüftete den Schleier über eine Zeit, von der niemand redete. Berger wusste nichts von der Vergangenheit des Ortes aus dem er stammte und begann ebenfalls zu recherchieren.

Das Lager Föhrenwald wurde in der Nazizeit als Mustersiedlung für Beschäftigte der nahen Rüstungsbetriebe, später als Bleibe für die Überlebenden des KZ Dachau genutzt, dann zu einem Lager für jüdische Überlebende des Holocausts, den sogenannten Displaced Persons umfunktioniert, bevor es 1957 dann zum Ortsteil Waldram umbenannt wurde.

Damals war sogar die Rede davon einen jüdischen Staat in Bayern zu gründen, denn nirgends in Europa wurden so viele jüdische Kinder geboren, nirgends so viele jüdische Hochzeiten gefeiert wie in Föhrenwald in Oberbayern – und das nach 1945.

Mit der Zeit kamen immer mehr überlebende Juden nach Föhrenwald, so dass das Lager im September 1945 von der amerikanischen Militärverwaltung zum „Jewish Displaced Person Center“ erklärt wurde. Von den dort Lebenden wurde die Siedlung „Schtetl“ genannt. Gesprochen wurde in der Siedlung Jiddisch, das nahezu alle Bewohner sprachen.

Föhrenwald war die letzte jüdische Siedlung in Europa. Von 1945 bis 1957 lebten zeitweise mehr als 5000 Juden dort. Überlebende des Holocaust – mit Synagogen, Religionsschulen und einer eigenen Universität für Rabbiner. Föhrenwald hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jiddische Zeitung und eine jüdische Polizei.

Ab April 1956 wurden auf dem Gelände immer mehr geflüchtete und heimatvertriebene, zumeist katholische Familien angesiedelt, so dass bis Anfang 1957 Displaced Persons und deutsche Heimatvertriebene und Flüchtlinge gemeinsam auf dem Gelände des Lagers Föhrenwald lebten. 1957 wurde Föhrenwald gegen den Willen vieler Bewohner aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt.

Föhrenwald hieß nun Waldram und wurde aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Daher auch ein weitgehend unbekannter Teil der deutschen Geschichte.

Die meisten Bewohner des Lagers Föhrenwald bemühten sich darum, nach Israel beziehungsweise in die Vereinigten Staaten oder Kanada auszuwandern. Föhrenwald war für sie sozusagen ein „Wartesaal“.

Neben denjenigen, die noch auf eine Ausreise warteten, mussten zwischen 1949 und 1953 „Rückwanderer“ und nach dem Pogrom im polnischen Kielce viele jüdische Flüchtlinge aus dem Osten zeitweise in Föhrenwald untergebracht werden.

Ben-Gurion und Eisenhower waren da, um über Föhrenwald zu verhandeln. Das Camp in der früheren NS-Rüstungsarbeitersiedlung im Wolfratshauser Forst war das am längsten von allen Auffanglagern existierende.

Deutsche Nachkriegsgeschichte. Unterhaltsam geschrieben. Sehr lesenswert!

 

 

Ernst Reuß

 

 

Alois Berger, Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte, Piper Verlag, München 2023, 240 Seiten, 24  €.

Topic Shoa/Judentum

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Historisches Sachbuch and start the conversation.
Become a member