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Von Mariupol nach Franken

Natascha Wodin gelingt das, was Autoren von historischen Sachbüchern oft nicht gelingt. Sie kleidet die Welt des letzten Jahrhunderts mit ihren katastrophalen Verwerfungen und den Auswirkungen auf die Familien in wunderbare Prosa, so dass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann, ohne es aus der Hand zu legen.

Das beweist sie auch in ihrer neuen, autobiografisch anmutenden Sammlung von fünf Erzählungen, die zum Teil schon in anderen Büchern erschienen sind und von ihr überarbeitet wurden. Das Schreiben ist für Wodin Aufarbeitung, was auch in diesem glänzend erzählten Buch deutlich wird. Ein leicht zu lesendes, aber kein leichtes Buch ohne Happy End, das tief in die Seele der Autorin blicken lässt.

Die Titelgeschichte „Der Fluss und das Meer“ kommt vom kleinen Fluss Regnitz in Forchheim, in dem die Mutter Suizid beging, zum Asowschen Meer ihrer Heimatstadt Mariupol. Dann beobachtet und beschreibt sie eine verwahrloste Frau aus der Nachkriegszeit, deren gut situierte, sich von ihr gestört fühlende, Nachbarschaft sie wissentlich zugrunde gehen lässt und für deren Tod sich die Erzählerin auch persönlich verantwortlich fühlt. Danach erzählt Wodin von einem Mann, der in einer geschlossenen Anstalt dahinvegetiert und zu dem sie eine platonische aber unerfüllte postalische Liebesbeziehung pflegt. Eine Reise nach Sri Lanka wird für sie eher katastrophal. Zuletzt berichtet sie von einer Angststörung, die eines Tages scheinbar grundlos kam und sie über Jahrzehnte hinweg kaum noch ihre jeweilige Wohnung verlassen lässt. All die Figuren in ihren Geschichten nehmen ihren Ursprung in der eigenen Lebensgeschichte Natascha Wodins, die als Kind russisch-ukrainischer „Ostarbeiter“ in der BRD aufwuchs.

 

Für ihr erfolgreichstes Buch mit dem Titel „Sie kam aus Mariupol“ wurde Natascha Wodin zu Recht schon 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichnet.

In der auf Tatsachen beruhenden Erzählung geht es vordergründig um das Leben ihrer ukrainischen Mutter, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als „Ostarbeiterin“ nach Deutschland kamen. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Niedergang ihrer Familie im Bürgerkrieg und anschließendem Terror miterlebte, beging 1956 mit 36 Jahren Selbstmord, als die Tochter gerade einmal zehn Jahre alt war. Eine dramatische Familiengeschichte in Zeiten von Revolution, Hunger, Krieg, Gulag, Selbstmorden, Mord und dem Leben als „Heimatloser Ausländer“ in der fränkischen Provinz.

Die wechselvolle Geschichte ihrer Familie ist sowohl ein Familiendrama als auch eine Flüchtlingsgeschichte aus dem letzten blutigen und sehr ereignisreichen europäischen Jahrhundert. Mit Hilfe eines computeraffinen Hobbyhistorikers aus Russland rekonstruiert sie die Herkunft ihrer Mutter. Die Geschichte dieser im ersten Teil des Buches aufgeschriebenen Recherche liest sich wie ein Krimi.

Der zweite Teil des Buches verdankt sie den dadurch entdeckten Aufzeichnungen ihrer nicht mehr lebenden Tante. Er führt aus deren Perspektive vom vorrevolutionären Russland einer zu großem Vermögen gekommenen italienischstämmigen und adligen Familie, zu stalinistischen Terror und furchtbaren Hungersnöten. Ihre 1920 geborene Mutter hatte die einstmalige Pracht nie erlebt und daher auch nie thematisiert. Deren Leben begann im revolutionären Chaos und stolperte von einer Katastrophe in die nächste. Ihre bürgerliche Herkunft war in der Ukraine lediglich eine Bürde und war für sie kein Grund in der Vergangenheit zu schwelgen.

Der dritte Teil des Buches erzählt den Werdegang der Mutter, die trotz ihrer bürgerlichen Herkunft studieren konnte und nach dem Einmarsch der Wehrmacht eine Anstellung beim deutschen „Arbeitsamt“ fand, der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter. Möglicherweise war diese Form von Kollaboration auch ein Grund ihres Exils in Deutschland und im Gegensatz zu vielen anderen Ostarbeitern keine Verschleppung. Wodin wurde in einem Arbeitslager des Flick-Konzerns gezeugt und kam 1945 auf die Welt.

Der vierte und letzte Teil des Buches erzählt von der Nachkriegszeit. Im Schuppen einer Eisenwarenfabrik in Nürnberg wächst die rebellische Tochter schließlich in ärmlichsten und schwierigen Verhältnissen auf. In ihrem Elternhaus mit einem gewalttätigen Vater und einer depressiven Mutter herrschen chaotische Verhältnisse, ansonsten wird geschwiegen. Wodins Mutter trauerte ihren engsten Familienangehörigen nach, die sie alle zu verloren haben scheint.

Erst ihre Tochter findet nun wieder die Spuren dieser Familie und stellte dabei fest, dass man - ohne voneinander auch nur zu ahnen - sich nach dem Krieg an Orten befand, die nicht allzu weit entfernt waren. Die Nachkriegszeit und der beginnende Kalten Krieg ließen jedoch kein Wiedersehen zu.

 

Ernst Reuß

 

 

Natascha Wodin, Der Fluss und das Meer, Erzählungen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 192 Seiten, 22 Euro.

Natascha Wodin, Sie kam aus Mariupol, Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg 2017, 364 Seiten, 19,95 Euro.

Topic BRD und DDR

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