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Zeit ist Zeitlos

Ein Rausch über Zeit, die wir uns (nicht) nehmen

„Eigentlich habe ich keine Zeit“, antworte ich meiner Freundin, die mich zu einer Veranstaltung eingeladen hat. Sie ködert mich mit einigen Leuten/Bekannten/Freunden, die auch dort sein werden. Ich wusste, es wird voll und eigentlich gibt es an einem solchen Ort auch keine Zeit für echte tiefe Gespräche. Darauf hatte ich keine Lust. Aber bevor ich abends meine Zeit damit verbringe, darüber zu sinnieren, dass ich mal eher ins Bett gehen müsste und es doch nicht schaffe, ging ich zu der Veranstaltung. Die erste Person, die vor mir in der Schlange am Empfang stand, hörte ich zu ihrem Begleiter sagen: „Aber ich kann nicht so lange bleiben, eigentlich habe ich keine Zeit.“ Beinahe hätte ich mich eingemischt und zugestimmt.

Drinnen gab ich meine Jacke ab und bekam direkt ein Glas Sekt in die Hand. Die Dame mit dem Tablett fragte noch, ob ich lieber etwas Alkoholfreies haben möchte. Ich verneinte und dachte, ich bleibe ja nicht so lange, hab nicht so viel Zeit, ein Gläschen ist ok. Ich wurde von meiner Freundin entdeckt, sie umarmte mich, drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand wieder im Gewusel. Kurz drehte sie sich um und flüsterte mir entgegen: „Keine Zeit, wir quatschen später“. Ja, ja, weiß ich doch, dachte ich und trank mein Glas leer.

Immer müssen alle woanders hin, mit jemandem sprechen, in ein Meeting oder noch einkaufen. Ich mischte mich unter die anderen Gäste, traf den oder die eine oder andere, hielt reichlich Smalltalk und bekam mit, wie sich die ersten schon wieder verabschiedeten. Sie müssen morgen früh raus und haben – Überraschung – eigentlich nicht so viel Zeit heute Abend. Aber was soll ich sagen, auch mir hing die Zeit im Nacken, auch mein Wecker würde morgen 6.20 Uhr das Radio einschalten. Ich muss aber auch gestehen, dass ich, je öfter ich an diesem Abend hörte, jemand hätte eigentlich keine Zeit, desto bockiger wurde ich. Diese kurzen inhaltlosen Gespräche machten mich wütend.

Wie konnten sie alle eigentlich keine Zeit haben und waren doch hier? Offenbar hatten sie ja doch Zeit. Ich blieb jedenfalls und wurde belohnt, denn ich lernte eine interessante junge Frau kennen, die erst kürzlich nach Berlin gezogen war. Wir quatschten gut, verließen schnell die Smalltalk-Ebene und genossen eine richtig gute (!!!) Zeit. Das erste Mal an diesem Abend hatte ich nicht das Gefühl, jemand sei in Eile. Dazu folgendes Zitat aus dem Buch „Alle_Zeit“ der Journalistin und Autorin Teresa Bücker:

„Demzufolge spüren Menschen Zeitmangel dann, wenn sie ihre Erwartungen nicht in den Spielraum des tatsächlich Möglichen einhegen. Sie wollen zu viel. Ist die menschliche Lust an der Maximierung die Hauptursache dafür, dass wir Zeit als zu knapp empfinden? Könnten wir Zeit durch Bescheidenheit entzerren?“

Eine Frage, die mich kaum loslässt. So oft bekomme ich auch von Freundinnen zu hören, sie hätten eigentlich keine Zeit, hierhin und dahin zu kommen. Nicht mal innerhalb von Berlin ist es möglich, eine halbe Stunde aus dem gewohnten Umfeld herauszufahren, weil die Zeit so knapp ist. Sollten wir also bescheidener sein im Bezug auf Geld oder auf Zeit? Oder am besten auf beides? Ich stelle fest, wenn ich Menschen besuche, die weiter weg wohnen und mir bewusst ein ganzes Wochenende Zeit nehme, dann klappt das meistens und die gemeinsame Zeit ist richtig intensiv. Warum geht das im Alltag nicht? Warum nehmen wir uns keine echte Zeit füreinander?

Zurück zu Marie, so heißt die Lady, die ich auf der Veranstaltung kennenlernte. Wir nahmen uns also Zeit – und das war wunderbar. Nicht nur, dass sie eine sehr interessante Person ist, denn sie arbeitet als Sommelière in einer ganz neu eröffneten Weinbar in Berlin. Sie findet mich offenbar auch spannend. Wir sind immer noch in Kontakt, ich lese demnächst nicht nur in ihrer Bar aus meinem unveröffentlichten Roman-Manuskript, sondern wir waren auch schon zusammen auf einer Party und gemeinsam Sport machen. Die Zeit, die wir uns nahmen und dafür auf andere maximierte Smalltalks verzichteten, hat sich also mehr als gelohnt.

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Ich habe in diesen ersten drei Wochen des Jahres noch eine andere Frau kennengelernt, die ich schon lange auf meiner „To-do-Liste“ hatte. Das klingt vielleicht ein bisschen merkwürdig, aber so war es.  Wir versuchten schon länger zusammen zukommen, immer war ein Kind krank oder wir selbst. Unsere Männer sind Kollegen und sprachen über uns. Schnell waren sie sich einig, dass Chrissy und ich uns kennenlernen sollten. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, bekam ich eine Nachricht von ihr: „Ich war auf deiner Seite und finde toll, was du machst.“ Ich antwortete: „Und ich finde toll, was du machst.“ Schnell war klar, wir müssen uns treffen.

Das war vergangenen Juli. Aber die Zeit war erst mal nicht auf unserer Seite. Ich muss gestehen, wenn ich Zeit habe, dann versuche ich, meine „alten“ Freund*innen zu sehen, und bin froh, wenn das klappt. Aber Chrissy blieb an mir dran – und ich an ihr. Jetzt, nach über einem halben Jahr, haben wir uns endlich getroffen.

Erst war ich unsicher, ob es sich lohnen würde, meine freie Zeit für jemanden zu „opfern“, den ich gar nicht kenne und am Ende weiß ich, ob es sich überhaupt lohnt. Aber macht nicht genau das (Frei-)Zeit aus? Und was Chrissy und ich taten, war so wertvoll. Wir trafen uns in der Ausstellung „Urban Nation“ in Berlin-Schöneberg, übrigens kostenfrei und sehr lohnenswert. Es gibt dort urbane und zeitgenössische Kunst, die zum Dialog auffordert. Und was kann man Besseres machen, als mit jemandem, den man nicht kennt, in eine Ausstellung zu gehen, die Dialog fordert. Wir führten tiefgründige Gespräche, fanden Gemeinsamkeiten und das wichtigste: Wir werden uns wiedersehen. Auch dazu ein Auszug aus „Alle_Zeit“:

„Um starke und vertrauensvolle Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen, brauchen wir Zwiegespräch und entspanntes Zusammensein. Das soziale Bedürfnis nach Verbundenheit wird über das bloße Unter-Menschen-Sein nicht ausreichend gestillt, daher ist es wichtig, zwischen Zeit für Beziehungen und Zeit für soziale Kontakte zu unterscheiden.“

Dazu passt übrigens auch die Tatsache, dass ehemalige Kolleg*innen oft keine Freund*innen werden. Ich habe das schon oft beobachtet, dass ich bei der Arbeit viel Zeit mit diesen Menschen verbrachte, mit denen ich in einem Büro saß. Man teilt Alltag zusammen und erlebt Hoch-und Tiefpunkte des Lebens gemeinsam, Aber oft blieben sie nicht an meiner Seite, wenn ich den Job wechselte. Wir hatten eben keine Zeit für Zwiegespräche oder entspanntes Zusammensein.

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Eine weitere Textstelle aus Teresas Buch, die mich sehr bewegt hat, möchte ich noch zitieren:

„Ich war mir lange Zeit sicher, keine Kinder zu wollen. Dahinter steckte die Ablehnung von traditionellen Geschlechterrollen und die Annahme, nichts mit kleinen Kindern anfangen zu können, außerdem wollte ich mich voll und ganz auf einen Beruf oder eine Leidenschaft konzentrieren. Eine Entscheidung für eigene Kinder, so glaubte ich, bedeutet für eine Frau, den Großteil ihrer Zeit für ihre Familie opfern zu müssen und darüber Freiheit zu verlieren.“

Nach diesem Absatz brauchte ich eine Pause, ich musste blinzeln, um nicht zu weinen. Denn hier hat mich Teresa voll erwischt. Viele Jahre nach der Geburt meiner Tochter fühlte ich mich gefangen in der Rolle, die ich einnehmen sollte. Die Rolle, die von mir erwartet wurde – und zuletzt auch die Rolle, die ich mir selber zuteilte. Keine dieser Rollen konnte ich erfüllen, geschweige denn mich damit identifizieren. Was folgte war der Zusammenbruch. Und mit ihm die Zeit, mich neu zu suchen und zu finden. Natürlich hatte ich dafür eigentlich keine Zeit. Aber ich war so am Boden, dass ich nicht anders konnte, als mir Zeit zu nehmen.

Hier bin ich und ich habe einen (k)einen Vorsatz für das neue Jahr: „Eigentlich“ streiche ich im Zusammenhang mit Zeit aus meinem Wortschatz. Ab jetzt gibt es nur noch: „Ich habe Zeit.“ oder „Ich habe keine Zeit.“

In diesem Sinne empfehle ich: Nehmt euch Zeit, sie vergeht sowieso von alleine und dann doch wenigstens leicht&lebendig,
Helen

PS: Ja, dieser Rausch ist voller Wortwiederholungen. Pure Absicht.

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