Vom Besen zum Weihnachtstraum
Ein Rausch zum Jahresende, viele Themen – und ich unterm Weihnachtsbaum
Als ich das Zirkuszelt betrete, habe ich die Liedzeilen der Berliner Band MIA in den Ohren:
„In der Manege, in dem Rampenlicht.
Sieht man meine weiße Schminke - ich steh dahinter.
In der Arena, auf dem Trapez.
Hab ich Zeit für Fantasie.“
Noch zehn Minuten und dann geht es los, ich stehe hinter der Bühne, dehne und recke mich. Leggins und Gymnastikanzug sitzen, die Haare sind festgesteckt, mein Gesicht glüht und glitzert. Meine Partnerin sieht wunderbar aus und dann macht es dreimal „Gong, Gong, Gong“.
Jemand stößt mir in die Seite „Gehen sie weiter oder schlafen sie im Stehen?“ Zeit für Fantasie… summe ich vor mich hin – und die trifft mich hier mit voller Wucht. Es ist Premierenabend und meine Tochter ist seit einiger Zeit eine Trampolin-Artistin im Kinderzirkus Cabuwazi. Ich ergattere Plätze in der ersten Reihe und bin sehr aufgeregt. Ich bin immer sehr aufgeregt, egal wer, was, wann, wo zu tun hat, ich gehöre zur Kategorie Mensch, die, vor welcher Art von Auftritt nervös sind. Auch wenn ich nicht selber betroffen bin, sondern wie heute eben nur die Mama.
Meine Gedanken schweifen wieder zu MIAs Song. Während meines Studiums war ich mal bei einem Konzert der Band, in Köln. Es war besagte Zirkus-Tour, passend zum gleichnamigen Album. Ich erinnere mich genau an diesen Song während des Konzerts. Dabei sang Frontfrau Mieze Katz hoch oben auf einem Trapez, anschließend vollführte sie eine Kür. Es war spektakulär. Auch sie sagte damals in einem Interview, sie habe sich damit einen Traum erfüllt und sehr lange trainiert. Das Trapez ist hier heute noch an den Pfosten des Zeltes festgezurrt, gemeinsam mit den langen Vertikaltüchern, deren Einsatz mir später noch mehrfach ein „OOOOooohhhh“ und „AAAAAAhhhhhh“ entlocken wird.
Ich war lange nicht mehr im Zirkus, aber ich fühle mich so wohl wie selten irgendwo. Alles scheint perfekt und ist doch so unperfekt. Denn hier finden sich die Menschen zusammen, die nicht ohne ihren kreativen Sinn leben können. Hier sitzen sie Seite an Seite, hängen an utopisch hohen Schaukeln und wickeln sich in Tücher, dass ich vor Schreck die Hand vor den Mund halte, als sie sich herunterlassen und dabei nicht auf den Boden aufschlagen.
Auf den Boden bin ich dieses Jahr auch kein einziges Mal aufgeschlagen. Obwohl es ein paarmal knapp war. Ich habe riskiert und gepokert, gefordert und eingesteckt. Vieles in den Griff bekommen und manches nicht angeschaut. Altes beendet und Neues begonnen. Und hin und wieder auch was bereut. Ich finde, es ist in Ordnung auch zu bereuen. Oft heißt es, man solle nichts bereuen, ich tue es wohl. Es ist für mich ok, auch mal zuzugeben, dieses oder jenes ist nicht so gut gelaufen. Wahrscheinlich muss man das Meiste genau so erleben, um es besser machen zu können. Frau (man) muss sich nur daran erinnern, bevor sie den Fehler erneut begeht.
Aber genug geschwafelt, zurück zur Show, die immer weiter geht. Auftritt Peter Pan und Tinker Bell, die Angst hat, Wendy nähme ihr ihren Rückzugsort, dabei will die nur helfen. Sie lässt ihrer Fantasie freien Lauf, erfindet Geschichten und nimmt die Kinder mit in eine eigene Welt. Auch ich bin gebannt, staune, schwebe und lache mit den Artistinnen und Artisten. Fast fühle ich mich, als wäre ich ein Teil der Aufführung.
Als das Stück langsam dem Ende zugeht, möchte ich weinen vor Freude, weil ich stolz bin auf alle, die mitgewirkt haben. Und weil ich ein bisschen wehmütig bin. Wehmütig, weil mir meine Kreativität fehlt. In den vergangenen Monaten habe ich viel gearbeitet, ich habe „ok“ verdient, so dass ich einen kleinen Januar-Puffer anhäufen konnte, aber ich war nicht richtig kreativ. Obwohl ich mit meiner Freundin Tilli einen kleinen kreativen Schreibkurs mache, an dem wir jeden Tag drei Seiten in ein Notizbuch schreiben. Wir lösen Aufgaben und Gedankenspiele dazu, aber das reicht nicht ganz um die Kreisel in meinem Kopf freizusetzen. Sie drehen eckig, aber nicht rund und das vermisse ich.
Und dann passiert etwas Magisches. Wir verbringen Weihnachten dieses Jahr nicht zu Hause, sondern in den Alpen. Ein bisschen Flucht aus Berlin, ein bisschen Wunsch nach weißen Weihnachten und nicht zuletzt gehören wir zu diesen letzten Skiurlaub-Liebhabern und -haberinnen, die unbelehrbar sind. Es ist einfach zu schön hier, mit den Bergen und den gezuckerten Spitzen, die die Welt weich machen und in Watte tauchen. Wir haben sogar einen Weihnachtsbaum dabei, aus Plastik. Er ist schon 25 Jahre alt und hat mich schon mehrfach begleitet. Ich habe ihn meistens gehasst und fand ihn zu klein, zu unecht, nicht duftend genug. Als kleines Mädchen war er für mich der Inbegriff von abstoßend. Später bauten wir ihn in unserer Mädels-WG auf, da war er schon besser und heute hat er mich sehr berührt.
In einer kaputten, völlig zerrammelten Pappkiste fristete er sein Dasein in unserem Keller, auf dem Abflussrohr liegend, immer kurz vor Abschuss Richtung Mülltonne. Hier im Ötztal holte ich das Bäumchen vorsichtig aus seinem Karton, drehte es in den dafür vorgesehen Ständer und bog die Äste herunter. Der Baum sah wirklich aus, wie ein abgefressener Besen – bevor er sich verwandelte. Mein Mädchen und ich zupften vorsichtig an den „Ästen“, immer auf der Hut nichts abzubrechen, auch Draht hat schließlich Charakter. Mit jedem Ast, den wir hinunter bogen, strahlte er mehr. Dann die Spitze und die Lichterkette erst, er wurde immer schöner. Wir behängten ihn von oben bis unten, erfüllten ihn mit Glanz und Liebe und am liebsten hätte ich eine Nacht an seiner Seite verbracht – und dann plötzlich flossen meine Gedanken. Ich konnte nicht aufhören diesen Rausch zu tippen. Angefangen hatte ich vor vier Wochen und nie die Zeit gehabt, fertig zu werden. Jetzt spät am Abend mit dem Prinzesinnen-Bäumchen vor der Nase flogen meine Gedanken durch den Nebel und meine Finger über die Tastatur. Ich legte mich unter das kleine Bäumchen, hörte MIA und weinte ein bisschen.
Am liebsten würde ich neben ihm schlafen, so dankbar war ich. Nagut, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber für das Foto dieses Rausches bleibe ich noch ein bisschen liegen. Ich schicke den Rausch einen Tag vor dem Heiligen raus. Mein Letzter dieses Jahr und damit verabschiede mich aus 2022, dass genauso verrückt war, wie das vergangene und ebenso absurd wird, wie das kommende Jahr. Wie immer, jedes Jahr, immer wieder aufs Neue. Es kommt und geht, wirbelt und tobt, lacht und weint, nur der Plastikbaum, der bleibt – und wird dabei immer schöner.
In diesem Sinne: Schaut euch ruhig mal um, wagt eine Blick zurück, aber vor allem nach vorn.
Helen
PS: Mein Mann hätte sich das Ende dieses Rausches so gewünscht: Es kommt und geht, wirbelt und tobt, lacht und weint, nur der Plastikbaum, der bleibt – und wird dabei immer schöner. In diesem Sinne: Esse ich gleich einen Döner, den gibt es nämlich dieses Jahr zu Weihnachten. (was natürlich Blödsinn ist!)
Jetzt ist aber Schluss mit den Stuss. Weihnachtet schön und rutscht sanft und sauber.