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Pfirsichblüten und Lasagne

Wir haben gerade die blöde Kreuzung überquert, die so schwer einzusehen ist und finden unseren Takt auf dem Bürgersteig wieder. Zwei Mädchen kommen um die Kurve, uns entgegen, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Sie haben lange, seidig glänzende, sehr glatte, stundenlang gebürstete Haare, tragen Jeans und bauchfrei, zwei Grad, Nieselregen.

Die Mädchen reden laut und kichern. Ich denke, wie affektiert das ist und frage mich, ob ich wohl auch SO war?

Kaum sind wir aneinander vorbei gelaufen, eng auf dem Bürgersteig aneinander vorbei, stößt mir ein Geruch in die Nase. Es muss das Parfum einer der beiden sein, aber es ist auch: meine Kindheit. Süsslich, fruchtig, chemisch, aber appetitlich, mit einer rauchigen Note, und auch ein bisschen wie Plastik. Pfirsichblütenbarbie.

Das Kleid aus Tüll, fleischwurstfarben. Heute würde man sagen “nude”. Die Schuhe auch. Ich bin verliebt in die die langen, blonden Haare, stelle mir vor, wie ich später auch mal so ein Kleid tragen würde und auch so hübsche Augen hätte. Ich mag, wie elegant und gerade sie ist. Die Schuhe plöppen am Gummifuss, wenn man sie auszieht. Nach dem spielen riechen meine Finger nach ihr, der Geruch meiner Sehnsucht. Sehnsucht nach dem Leben wie Barbie, Ken und einem Haus. Mutter Vater Kind. Mein größter Wunsch. Davon habe ich geträumt und bin versunken darin. Eine ganz normale, total perfekte Familie zu sein, zauberschön.

Ich bin WG- Kind, habe das Wort Mama erst mit vier Jahren gelernt, wurde bis ich drei war jeden Abend außer am Wochenende von wem anders ins Bett gebracht, dafür hatte meine Mutter während der Schwangerschaft einen Vertrag mit vier Freundinnen abgeschlossen. Ernsthaft. Alle fünf Frauen waren gleichermassen für mich verantwortlich, bis zu meinem vierten Geburtstag, also dem vollendeten dritten Lebensjahr. Nichts war nie “normal”. Meine Pfirsichblütenbarbie war die einzige Barbie, die ich besessen habe. Ich hab sie sehr geliebt. Heute kann ich nicht mehr träumen.

Loslassen, Einlassen, Vertrauen, Unabhängigkeit, Selbstaufgabe, Verletzbarkeit, Verlustangst hindern mich am glauben und auch am träumen.

Jetzt dieser Geruch. Ich würde den Mädchen gerne hinterher rufen. “Hey, Du riechst wie meine Pfirsichblütenbarbie vor fast 40 Jahren. Wie heisst das?”

Ich wäre gerne Gerucherfinder, dann würde ich mir meinen Barbie- Geruch mixen. Um mich zu erinnern, wie träumen geht, ohne in Frage zu stellen und zu zweifeln.

Als ich so alt war, wie die Mädchen, denke ich, gab es noch kein Internet. An Mobiltelefone war nicht zu denken. Ich glaube, das war sogar noch vor Digitalkameras. Ich hatte eine Telefonkarte um von der Telefonzelle anrufen zu können, sollte ich mich verspäten. Nachmittags nach der Schule habe ich Radio gehört und gerne Zeitschriften gelesen. Am liebsten die “Young Miss”, eine Zeitschrift wie Brigitte, nur für Mädchen. Gibt es sowas noch, Zeitschriften für Mädchen? oder sind die jetzt Genderneutral?

Aus der Young Miss habe ich Rezepte ausgeschnittenen und in ein Buch geklebt. Eins davon habe ich schon eine Million Mal gemacht, sehr penibel nach Rezept am Anfang, bis ich es irgendwann auswendig konnte und angefangen habe, ihm meine eigene Note zu geben. Lasagne.

Julis Vater war etwa zwei Monate verschwunden, als ich das erste Mal wieder Lasagne gemacht habe. Klassisch gibt es Lasagne bei uns oft in Verbindung mit Tiramisu. Beides gehört zusammen und steht für sehr besonders gute Momente. Erst, wenn es beides (natürlich nacheinander) zusammen gibt, ist es vollkommen. Das Glück. Die Lasagne gibt es, weil es so besonders ist, vorm Fernseher, dazu einen Film, den alle sehen können (wir waren Mal viele).

Wie die Dankbarkeit aus Maltes Gesicht strahlt, bei der ersten Lasagne alleine im Haus, vergesse ich nie. “Boar Mama, das bist ja du, die die gute Lasagne macht.” Etwas ist damals von ihm abgefallen. Die Lasagne ist nicht verloren. Die Lasagne bleibt. Ein zu Hause Gefühl. Ein Barbie- Familientraum- Lebensglück- Moment.

Er arbeitet heute den zweiten Tag offiziell in der Küche. Ich bin froh, dass niemand hier ist, der sich darüber aufregt, dass ich meinen Grossen zur Arbeit fahre, ihm Frühstück mache und frage, was er sich zum essen wünscht. Eltern brauchen auch Eingewöhnungszeit. Manchmal etwas mehr, als ihre Kinder.

Heute gibt es Lasagne und Tiramisu und morgen früh klingelt der Wecker um sieben. Dieser eine Mensch ist mein ganzen Leben. Sein zu Hause Gefühl ist dieses Essen. Danke, Barbie.

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