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Meine Tante Christa

Bild einer etwas mitgenommenen Puppe, die alleine an einer Tür steht
Bild von Secoura auf Pixabay

Am Ende schrieb mir meine Cousine Susanne eine WhatsApp.

„Die Mama ist gestorben. Ich muss zu ihr ins Krankenhaus. Magst du mich begleiten?“

Von sieben Geschwistern war Christa die Jüngste. Als ich noch klein war, war sie meine Lieblingstante. Sie war nicht ganz so spießig wie meine Eltern, ihr Mann, der Onkel Norbert, auch – und der war lustig. Meistens. Er sprach ja auch lustig – denn er kam aus dem Elsass. Norbert war gut in Mathe – er war Ingenieur – und seine Lebenslust und sein Umgang mit Neffen und Nichten einfach -viel unkomplizierter. Sie hatten zwei Kinder. Susanne und Torsten.

Sie lebten direkt drüben überm Rhein. Über die Brücke, rechts in den Ort, nochmal rechts am Hotel und dann nochmal rechts an der Bäckerei, in der Tante Christa arbeitete. Danach kam schon ihr Haus. Ein großer Baum in der Einfahrt, ganz früher ein kleiner Triumph, dann ein Citroen mit Fließheck in der Einfahrt. Hinten ein großer Garten, Bäume, ein geheimnisvoller Ort für kleine Jungs, wie ich es damals einer war. Und das noch im Ausland.

Schon das Haus war anders, in dem sie lebten. Es war eine Doppelhaushälfte, aber keine moderne Version, wie sie sich heute in Vorstäten aneinander schmiegten, sondern so ein altes Haus, knarzend und mit einem leicht komischen Geruch. In der anderen Hälfte lebte der Karl, sein Bruder. Der war noch elsässerischer wie Norbert und da er nicht so richtig zu unserer Familie gehörte, nur indirekt sozusagen, sahen wir ihn also nur, wenn wir bei Christa waren. Und das waren wir früher oft. Wir lebten ja in einem Dreifamilienhaus, das meine Eltern Anfang der 1970er gebaut hatten und wir hatten eine Zentralheizung. Mit Öl. Heute heizen die Eltern mit Gas und es kommt nicht mehr der Öl-LKW, der seinen langen Schlauch durch unsere Einfahrt bis zum Anschluss in die Garage legte und dann Öl in den großen Tank pumpte. Auch ein großes Abenteuer.

Aber bei Christa und Norbert, da gab es einen Ölofen. Nicht im Zimmer, sondern im Keller. Direkt hinter der Eingangstür war ein hübsches Gitter, braun, passend zum Fußboden und unter dem stand der Ofen und damit wurde geheizt. Das fand ich schon komisch. Aber es gehörte halt dazu – irgendwie war bei denen alles anders als bei uns.

Das Haus hatte zwei Stockwerke und zu meiner Verwunderung lebte im Erdgeschoss – also im 1. Stock, wie man bei uns das nennt – die Oma. Die Oma war immer da und die Oma konnte backen, dass es für uns Kinder (und für viele der Erwachsenen) eine Freude war. Ich hieß ja in meiner Kindheit „Kuchenberg“ und so ging ich also gerne zu Tante Christa, Onkel Norbert und der Oma im 1. Stock – weil die einen SO leckeren Frankfurter Kranz machte. Alle anderen Kuchen waren mir egal, der Frankfurter Kranz, mit weichen, wohlschmeckenden Teigschichten, Creme zwischen den Etagen und außen herum, alles mit Krokant außenrum und zur Krönung Cocktailkirschen. Klar, dass da alle anderen Kuchen „dehoim bleibe hen kenne“ – wie man bei uns halt so sagt.

Im Obergeschoss – danach war Ende – also im badischen 2. Stock lebten Christa und Norbert. Christa war ja wie meine Mutter gar nicht aus dem Elsass, aber sie hatte diesen Elsässer geheiratet. Eine gute Wahl, wie sich rausstellen sollte. Als ich 6 Jahre alt war, kam erst Susanne, später denn Torsten dazu. Wir sahen uns regelmäßig und auch wenn Susanne ein wundersames Geschöpf war, sehr frech und vorlaut, und der Torsten weit unter meiner Würde der genaueren Beachtung, weil zu jung, so war ich doch gerne dort. Frankfurter Kranz, die Lieblingstante, der lustige Onkel, der lustig sprach, andere Cousins und Cousinen, Fernsehen (ich erinnere mich, wie die ganze Familie, also alle, die da waren - im Winter 1976 die Miniserie „Sandokan“ geschaut hat. Alle zusammen – denn diese Miniserien in der Adventszeit durfte man ja nicht verpassen. Zum Glück konnte man im Elsass auch deutsches Fernsehen empfangen.)

Und so schien alles rund und schön und familiär und die Zukunft konnte kommen – und sie kam. Aber anders, als wir alle dachten.

Als Christa 26 Jahre alt war, hatte sie einen Hirnschlag. Danach war alles anders. Sie war lange in Reha und wir haben sie da besucht. Aber das war schwer zu verstehen. Teile der großen Familie trafen sich im Krankenhaus, dann in der Rehaklinik und die Erwachsenen redeten viel und machten sich Gedanken und betroffene Gesichter. Wir Kinder fanden zum Glück einen Kinderbespaßungsraum mit Tischkicker und ich glaube einem Flipper, bin da aber nicht mehr sicher, und waren so beschäftigt. Die Tante war krank und das war furchtbar. Aber mir schien meine Cousine Silvia, mit der ich damals vor Ewigkeiten zusammen Kommunion hatte und wir zusammen gefeiert hatten, in diesen Tagen interessanter.

Ich konnte ja wenig von dem verstehen, was da vor sich ging. Christa verweigerte jedenfalls irgendwann einen Teil der Therapie und lernte so nur schlecht wieder sprechen. Sie war bis an ihr Lebensende mit einer Körperhälfte stark eingeschränkt, konnte einen Arm nicht mehr benutzen und nur sehr schlecht gehen.  Aber immerhin konnte sie gehen. Die Krankheit veränderte aber nicht nur das – sondern sie war auch nicht mehr so himmelsgleich hübsch wie früher. Alles ging langsam und die Schwestern und Brüder halfen in der Anfangszeit – aber Christa war auch wesensverändert. Eine gewisse  Sturheit liegt ja bei uns in der Familie und davon konnte ich mich sicher nicht ausnehmen – aber das war manchmal schon sehr anstrengend für die Erwachsenen, die helfen wollten. Die Krankheit verstärkte manche ihrer Eigenheiten. Was mir heute sehr viel klarer vor Augen steht, ist die Familie. Da war ein Haushalt zu versorgen – die Oma konnte nicht mehr so und dann wurde auch sie krank und bettlägrig, da war ein Mann, der zwar kochen konnte und alles weitere und viel Kraft hatte, eigentlich – aber sie brauchten Hilfe. Die Tochter, meine kleine Cousine Susanne, ein Wirbelwind, war schwer zu bändigen und mein Onkel sicher mit ihr und seiner Not völlig überfordert. Da ist sicherlich viel Übergriffiges geschehen, wenn die Tanten “halfen” und den bestimmenden Ton meiner Tanten (und meiner Mutter) kannte ich ja zur Genüge – auch wenn ich erst heute vieles richtig einordnen kann.  Die Tochter bekam vom Vater einen Maulkorb, er litt still unter der  Verwandschaft seiner Frau – er hatte ja zum Glück eigene.

Und so kann ich gut verstehen, dass sich Christa nach Kräften manchmal gegen Maßnahmen gewehrt hat – und meine Tanten, meine Mutter, das als Undankbarkeit gewertet hatten. Werten und gleich danach urteilen tat man gerne in meiner Familie. Sie waren Staatswanwalt und Richter in einem, Rechtsanwälte gab es nicht. Und wenn - dann wurde ihnen über den Mund gefahren. Schluss, aus, fertig.

Wir lebten also nun mit der Tante drüben überm Rhein, die Hilfe brauchte. Wenn sie anrief, was sie tat, waren die Gespräche schwer. Sie konnte ja nicht richtig sprechen. „Es, es Jörg gut?“ solche Sätze waren es. Die einem das Herz brachen und es nur schwer aushaltbar machten, überhaupt mit ihr zu reden. Aber sie rief an. Zur geburt meiner Söhne, manchmal an Geburtstagen. Sie kam zu den Familienfeiern. Da sah ich sie regelmäßig, aber irgendwie hatte sich natürlich auch unser Verhältnis getrübt – denn man konnte nicht mehr mit ihr rumtollen, Witze verstand sie auch schlechter, sie sah komisch aus, war komisch angezogen und im Ohr hatten wir ja ständig die Geschichten, die man sich drum herum erzählte. Sprich: die Familie zerriss sich das Maul und wir Kinder bekamen dann halt doch manches mit.

Als wäre all das nicht genug, hatte mein kleiner Cousin einen tödlichen Autounfall. Er überquerte unvorsichtig mit seinem Fahrrad nach dem Schwimmbadbesuch die Straße, nicht sehr weit von seinem Zuhause, wurde von einem Auto erfasst und starb an den Unfallfolgen. Das der Autofahrer ein Fußballkumpel des Vaters war, macht all das nicht einfacher.

Ich weiß gar nicht, wie ich das ausgehalten hätte. Aber Christa hielt es aus, Susanne hielt es aus und Norbert hielt es aus. Sie machten weiter, irgendwie und alles war halt nicht so gutbürgerlich, sondern oft chaotisch und manchmal auch nicht mehr nachvollziehbar - für Außenstehende. Norbert hatte eine Freundin. Natürlich. Man zerriss sich das Maul, Mir war die Freundin lieber, als wenn er in den Puff gegangen wäre. Er hatte sich nicht scheiden lassen, er lebte immer noch in diesem wunderbaren verzauberten Doppelhaus und hielt irgendwie durch, hielt zu seiner Frau, hielt zu seiner Tochter. Susanne rebellierte – und auch sie, trotz aller ihrer Not, trotz alledem, sie wurde zur Persona Non Grata in der Familie. Sie gab patzige Antworten, hielt nicht mit berechtigter Kritik hinterm Berg. Zu einer der großen Familienfeiern kam sie im knappen Minirock und hautengem Top. Die Gesichter hättet ihr sehen sollen - und zu meinem Glück war ich schon glücklich verheiratet. Sie war eine große Provokation für alle und sie war sicher nicht immer gerecht – aber wer kann das schon verlangen in so einer Situation?

Die Jahre gingen ins Land. Die große Familie zerstritt sich, die Familienfeiern wurden weniger, manchmal wollte man die Christa auch nicht mehr abholen oder zurückfahren. Natürlich lebte ich mein eigenes Leben – ich war verheiratet, hatte 4 Söhne, ließ mich scheiden, bekam noch 2 Söhne und war auch wieder verheiratet. Mein eigenes Leben hatte ausreichende Auf und Abs, als das ich die Tante zwar lebendig wusste – aber nur selten hinkam. Und das muss man sagen – es war ja auch anstrengend mit ihr. Zweimal im Jahr fuhr ich ins Elsass, um Wein zu kaufen und ab und an fuhr ich dann bei ihr vorbei, trank einen Kaffee, eine Glas Wasser, blieb so eine Stunde oder so – und fuhr erleichtert traurig und mit schlechtem Gewissen wieder davon.

Der Rest ist schnell erzählt. Onkel Norbert bekam Krebs, starb bald darauf. Christa lebte mit der Tochter und deren Ehegatten und Tochter alleine in immer noch im selben Haus. Jetzt lebte sie unten und Susanne oben und es war trotzdem nicht mehr so schön, wie es damals gewesen war, als wir Kinder waren. Auf Familienfeiern und Beerdigungen trafen dann viele wieder aufeinander – aber so richtig anfangen konnten wir alle nichts mehr miteinander. Susanne war da nie und so sah ich sie sehr, sehr selten und traf erst wieder bei der Beerdigung ihres Vaters auf sie. Auch hier wurde auf sie herab gesehen, nichts von dem, was sie organisiert hatte, war recht. Und dass sie keinen Leichenschmaus gebucht hatte, man also nicht hinterher zusammen sitzen konnte - das konnten sie nicht verstehen. Ich fand es genauso richtig. Ich hätte ihnen auch nicht nur ein Glas Hahnenwasser gegönnt. Ich gesellte mich demonstrativ an ihre Seite.

Als Christa starb, war es ähnlich. Jetzt war sie also tot und ein Leben, das geprägt war von Krankheit und Leid war zu Ende. Die Beerdigung – geprägt  von diesem Leben. Die Tochter, die Enkelin sagten etwas, der Pfarrer auch. Ich wollte, konnte dann aber nicht. Nicht in der Aussegnungshalle.

Aber als dann alle am Grab standen, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen, viele hatte ich über Jahre nicht gesehen, erhob ich dann doch mein Wort. Ich nahm mich selbst nicht aus, in meiner Verzweiflung, wie wir diese Menschen, die doch unsere Familie waren, über die Jahre im Stich gelassen hatte, über sie urteilten, der Streit der sieben Geschwister verhinderte, dass wir alle es geschafft hätten, uns dem Leid zu stellen und zu helfen. Mit Menschlichkeit, mit Offenheit und ohne Urteil.

„Es es Christa, es es gut“.

Topic Großfamilie