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Notes From The Future II: Die 1st Responder sind wir!

(Foto: TM. Trauer um einen der Erschossenen in Skarpnäck)

Liebe Leute,

seitdem ich ein card-carrying member von Team Kollaps geworden bin, benutze ich diesen Begriff sehr oft – wie Ihr vielleicht wisst, glaube ich verstanden zu haben, dass Kognition, Wahrnehmung, nicht über intellektuelles Verständnis läuft, sondern über bloße Wiederholung, so if enough people say “collapse” enough times, dann werden es irgendwann Alle... wiederholen können – aber mir ist ein Problem in meiner Nutzung des Begriffes aufgefallen: niemand weiß, was genau ich damit meine.

Systemischer Kollaps

Also, aus der Perspektive eines spezifischen Systems, mein Lieblingsbeispiel: das globale Klimasystem, ist “der Kollaps” kein an einem Tag oder einem kurzen Zeitraum stattfindendes Event, wie das z.B. in “The Day After Tomorrow” dramatisch dargestellt wurde – da steht eines Tages einfach die Atlantic meridional overturning circulation (Opens in a new window) still, landläufig und etwas fälschlicherweise als “Golfstrom” bekannt, und innerhalb weniger Minuten friert ein Großteil Nordamerikas ein, Menschen retten sich in Panik vor der sich blitzartig ausbreitenden Kälte. Wenn ich vom “Makrokipppunkt” des Klimasystems rede, der sich von den individuellen Kipppunkten im Klimasystem unterscheidet, die uns Rockström und Rahmstorf erklärt haben (westantarktischer Eisschelf, Amazonas, AMOC, Methanclastrate, sibirisches Eis,a yadayadayada...), dann meine ich damit einen konzeptionellen Punkt, an dem die relative Stabilität des Klimasystems, also die, die uns das Holozän und 12.000 Jahre “human civilisation” ermöglicht hat, ein Ende hat, das System sich nicht mehr in gewohnten Bahnen reproduziert, und eine unvorhersagbar lange Periode von “Klimachaos”, also einem instabilen globalen Klimasystem beginnt.

Das ist, wie gesagt, kein one-off Event, sondern ein (wieder: unvorhersagbar) langer Prozess, in dem Stabilität zunehmend von Instabilität abgelöst wird. Aber: es ist trotzdem ein “0/1”-Event: die Stabilität kollabiert, oder sie kollabiert nicht, das ist wie schwanger, oder tot – man ist es, oder ist es nicht, es gibt da keine Graubereiche. Deswegen sind Sätze wie “wir können den Klimakollaps verlangsamen oder abschwächen logischer Quatsch: eine Tasse fällt vom Tisch, oder nicht, sie bleibt nicht mit 85% der Tasse in der Luft hängen, während die restlichen 15% gerade noch auf dem Tisch stehen. Und wie schon mehrfach geschrieben bin ich der Meinung, dass die Tasse schon vom Tisch gekippt ist, und wir eventuell noch die Härte des Aufpralls beeinflussen können, but tipped it has.

Oder wie das in La Haine (Opens in a new window), diesem brutalen und gleichzeitig wunderschönen 90er Jahre Film aus den Pariser Banlieues gesagt wurde: C'est l'histoire d'un homme qui tombe d'un immeuble de 50 étages. Le mec, au fur et à mesure de sa chute, il se répète sans cesse pour se rassurer : Jusqu'ici tout va bien. Jusqu'ici tout va bien. Jusqu'ici tout va bien. Mais l'important, c'est pas la chute, c'est l'atterrissage. (Es ist die Geschichte eines Mannes, der von einem 50-stöckigen Gebäude fällt. Der Mann sagt sich im Laufe seines Sturzes immer wieder, um sich zu beruhigen: Bis hierher ist alles in Ordnung. Bis hierher ist alles in Ordnung. Bis hierher ist alles in Ordnung. Aber das Wichtigste ist nicht der Fall, sondern die Landung.)


Kollaps aus der Subjektperspektive

Aber ich analysiere hier ja nicht abstrakte Kollapsdynamiken, sondern will verstehen, wie wir uns als progressive gesellschaftliche Akteure im Kontext multipler miteinander verschränkter Kollapsdynamiken (“die Gesamtscheiße”) aufstellen können/müssen, und dafür ist nicht die große Systemperspektive relevant, sondern die Frage: wie erleben individuelle und kollektive Subjekte im Alltagsleben die Kollapsdynamiken der Polykrise (entschuldigt die langen Worte, wenn ich mich neu in Themen reindenke, kommt manchmal meine sonst besser kontrollierte akademische Sozialisation allzu stark durch)?

Reasoning from first principles: die Alltagsleben gesellschaftlicher Subjekte – unsere Alltagsleben – finden an der Kreuzung (Intersektion) einer Vielzahl von Systemen statt: Verkehrs- und Landwirtschaftssystem, Klimasystem und politisches System, Freundschafts- und sexuelle Systeme; es gibt Biome und Pandemien, internationale Handelsabkommen und Schmetterlingsflügel, die auf Bali schlagen, es gibt Tornados in Hagen und Hagel in Toledo. What I'm trying to say, is: der Zusammenbruch der Stabilität eines Systems bedeutet nicht, dass gleich Dein ganzes Leben, die gesamte Gesellschaft kollabieren wird. Stattdessen, so meine These, (Opens in a new window) bestimmte für notwendig und/oder legitim erachtete Güter oder Dienstleistungen werden an bestimmten Orten und für bestimmte Zeiten nicht durch die etablierten Kanäle erhältlich sein.

Kollaps in Skarpnäck, Stockholm

In Skarpnäck, dem Stockholmer Vorort, in dem ich gerade bei meinem alten Freund und Genossen Pär Plüschke zwei Wochen verbringe, um mehr über solidarische Kollapspolitiken zu lernen, sind zwei notwendige “Dienstleistungen” (im Sinne gesellschaftlicher Services) nicht in ausreichendem Maße erhältlich: erstens physische Sicherheit, weil im Kontext eskalierender Kämpfe zwischen rivalisierenden Drogengangs (ja, das ist wirklich so, keine rechte Moralpanik: Pär erzählt von tatsächlichen Hinrichtungen fast direkt vor seiner Haustür: Drogenkuriere, die in Fallen gelockt und von maskierten Mördern in Hals und Kopf geschossen, sprich, exekutiert werden) regelmäßig, quite literally alle paar Wochen, manchmal alle paar Tage, Menschen in Skarpnäck angeschossen, abgestochen oder erschossen werden. Als ich gestern abend hier ankam, und die 10-15 Minuten zu Pärs Wohnung mit ihm zusammen lief, war das wie eine makabre “hier wurde X erschossen, da drüben Y”-Stadtwanderung. Auf wenigen hundert Metern.

Zweitens: medizinische Notversorgung. An Stich- und Schusswunden können Menschen innerhalb weniger Minuten verbluten, während Krankenwagen in Stockholm im Schnitt 15 brauchen, bis sie am Einsatzort ankommen.

Einschub: Pär steht am Herd und kocht Abendessen, ich schreibe diesen Text. Ich frage, ob es stimmt, was ich re: Verbluten schreibe. Daraufhin beginnt er, mir zu erklären, was er in seinen “Stop the Bleed”-Workshops jungen Menschen in Stockholmer Vororten beibringt – wie man Stich- und Schusswunden notbehandelt, bevor die Ärztin kommt. Er macht seinen Rucksack auf, in dem ein Tourniquet und andere 1. Hilfe Utensilien stecken. “Hast Du die immer dabei?”, frage ich? “Klar”, sagt er, “es kann ja immer was passieren.” Als ich am Boden liege, und er an meinem Bein demonstriert, wie er eine Blutung stoppen würde, fällt mir auf: das ist jetzt politische Praxis. Das ist Kollapspolitik. Ich bin kein combat medic – aber irgendwie müssen wir vielleicht alle bald ein Bisschen combat medics werden.

Denn: nach dem 11.9. in NYC haben wir alle den Begriff “first responder” kennengelernt, Polizist*innen, Rettungssanis, Feuerwehrleute. Im Katastrophenfall haben wir gelernt, die anzurufen. Aber im Kollaps kann es sein, dass die nicht schnell genug kommen, vielleicht gar nicht. Und da wird mir plötzlich eines klar (naja: eigentlich hat Pär es mir gesagt): die waren 1st responder sind immer wir selbst. Natürlich sollten wir ausgebildete 1st responders kontaktieren, wenn Scheiße passiert. Aber die 1st response kommt immer von uns, und die sollte über einen Telefonanruf hinausgehen können.

Nur das wird Menschen an unser politisches Projekt binden: liefern wir den Menschen, was sie brauchen, und wie tun wir es.

So, jetzt ist Essen fertig. Mehr morgen. Puss och kram.


Euer Tadzio

Topic Notes From The Future

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