April // Margot Friedländer
Seit mehreren Minuten versuche ich, diesen Text zu beginnen – und scheitere immer wieder daran, wie die Leichtigkeit, mit der ich diesen Satz eröffne, unweigerlich zu einem Punkt führen wird, an dem das Gedächtnis, bemüht um die Wahrheit, die Atmosphäre der hier niedergeschriebenen Worte verändert.
Es könnte in den späten Grundschuljahren gewesen sein, als unsere ganze Klasse zu einem verpflichtenden Ausflug im Rahmen des Geschichtsunterrichts aufbrach – zum nahegelegenen Vernichtungslager. Ich bin in Großpolen aufgewachsen, nicht weit von meinem Heimatort entfernt, direkt hinter einer Wand aus Kiefernwald, steht bis heute ein Mahnmal kollektiver Erinnerung. Das deutsche Vernichtungslager Kulmhof in Chełmno an der Ner war ein Ort der sofortigen und systematischen Ermordung von Juden im sogenannten Warthegau. Zwischen 1941 und 1945 wurden dort etwa 200.000 Menschen getötet – die meisten von ihnen Juden aus dem Ghetto in Łódź.
Fährt man heute mit dem Auto durch diesen Wald, könnte man diesen Ort leicht übersehen. Denn nichts von dem, was wir uns über jene Zeiten vorzustellen versuchen, passt zu den ästhetischen Formen von Denkmälern oder der modernen, interaktiven Logistik musealer Vermittlung. Und schon gar nicht zu jenem Stück Geschichte Europas, das sich tief im Inneren des Waldes verbirgt – heute still, wie eingefroren in der Vergangenheit, aber zutiefst real, düster. Europa – ein Kontinent, dessen Nähte sich heute bedenklich auflösen. Wer werden wir morgen sein, wenn wir doch schon wissen, wozu wir fähig sind? Oder ist es vielleicht noch wichtiger zu wissen, wer wir unter keinen Umständen werden wollen – als Einzelne, als Gesellschaft, als großer menschlicher Verbund?
Dieser Besuch kam zu früh, so empfinde ich es heute. Damals wurden wir Zeugen – durch Dinge. Leere, Stille, und die materiellen Beweise für die Existenz von Menschen, die der kollektiven Hasswelle nicht entkommen konnten. Schuhe in allen Größen, zu einem dramatischen Haufen gestapelt. Dinge, die man ihnen entriss – oder von toten Körpern nahm. Und durch die geöffneten Fenster des dunklen Erinnerungsmuseums drang das Leben: der Duft der Kiefern des nahen Waldes, Vogelgesang, Geräusche der Natur, das Rauschen des Windes, die Lethargie eines aufgeheizten Sommernachmittags. Wir verließen diesen Ort in Schweigen. Es war die Abwesenheit der Opfer die uns begleitete.
Die noch lebenden Zeitzeug:innen jener Epoche sind die kostbarste Lehre und die lauteste Stimme dessen, was wir heute erleben. Es sind nur noch wenige. Und deshalb ist jede Begegnung, jedes Zitat, jeder Gedanke so wertvoll. Margot Friedländer, heute 104 Jahre alt, überlebte Verfolgung und Krieg im Untergrund in Berlin und im Konzentrationslager Theresienstadt. Sie ist eine der letzten lebenden Stimmen des Holocausts. Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil widmete sie ihr gesamtes zweites Lebenskapitel der Aufklärung junger Menschen – über die Kraft ihrer Entscheidungen und ihre Verantwortung für das heutige Europa und die Welt. Eine Bernsteinkette, mit der sie sich nie trennt, und ein Adressbuch – das sind die einzigen Dinge, die Margot von ihrer Mutter geblieben sind. Die Veröffentlichung ihrer Geschichte in Buchform unter dem Titel „Versuche, dein Leben zu machen“ half ihr, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen.
Wenn Frau Margot Friedländer spricht, ist es still im Raum – eine beredte, gewichtige Stille. Alle hören zu. Jedes ihrer Worte wiegt. Es trifft – mitten ins empfindlichste Zentrum unserer unsicheren menschlichen Existenz. Sie weiß. Und deshalb hören wir ihr zu. Überleben ist nicht dasselbe wie gerettet werden. Überleben bedeutet, dass die Lebensfunktionen erhalten bleiben. Gerettet zu werden heißt, im Innersten der Seele unversehrt zu bleiben.
Ich bin tief bewegt, wenn ich ihre ruhig gesprochenen, aber so bedeutsamen Worte höre. Sie klingen wie ein Appell – eindringlich, schwer zu überhören, und sie graben sich ein ins Gedächtnis.
" Seid wachsam, seid Menschen!"
Als ich darüber nachdachte, welche Frau auf dem Titelblatt des Kalenders für das Jahr 2025 erscheinen sollte, war mir vor allem eines klar: Dieses Jahr wird turbulent – und niemand passt besser dorthin als Frau Margot Friedländer. Ich habe sie porträtiert mit der Bernsteinkette ihrer Mutter, den Blick direkt auf uns gerichtet.
