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Blauzungenvirus: Geschwurbel im Stall

Seit Monaten beschäftigt das potenziell tödliche Blauzungenvirus die Landwirtschaft. Die damit verbundenen Unsicherheiten sind ein Stall-Einfallstor für wissenschaftsfeindliche und verschwörungsideologische Inhalte wie die «Germanische Neue Medizin».

Schlachtvieh- und Kälbermärkte, Ziegenshow, Fasnachtsveranstaltungen: Die Markthalle Toggenburg in Wattwil (SG) ist landwirtschaftlich geprägt. Ein grosses Thema ist in der Landwirtschaft das Blauzungenvirus und die Impfung dagegen. Es überrascht also nicht, dass ein Flyer für einen Informationsanlass in der Markthalle vom 10.Februar 2025 dazu wirbt.

«Blauzungenimpfung: mit Erkenntnis verantwortungsbewusst entscheiden», so das Motto des Abends, an dem ein Mann eine «wissenschaftliche Analyse» zum Thema Viren präsentieren will. Der Flyer macht klar: An Viren wird erst gar nicht geglaubt.

Das Blauzungenvirus wird durch Mücken auf Wiederkäuer wie Schafe oder Rinder übertragen. Seit vergangenen August breitet sich die Blauzungenkrankheit wieder in der Schweiz aus. Für Menschen ist die Seuche ungefährlich, Tiere reagieren unterschiedlich stark auf eine Infektion – sie kann aber tödlich enden. Ein Medikament gegen die Krankheit gibt es nicht, ist sie einmal ausgebrochen, können nur noch die Symptome gelindert werden.

Bund: Impfung bewahrt vor schlimmem Leid

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen empfiehlt aktuell dringend eine Impfung gegen das Virus: «Die Impfung ist die einzige Massnahme, mit der die Tiere vor einer schweren Erkrankung geschützt und massive, langfristige wirtschaftliche Schäden vermieden werden können», schreibt das Amt auf seiner Website. Die Impfung bewahre Schafe und Rinder vor grossem Leid. Die Tiere hätten das Recht, vor schlimmen Verläufen, also etwa Ersticken oder der Ablösung von Klauen, geschützt zu werden, so das Amt. Eine Ansteckung lasse sich nicht immer verhindern, der Krankheitsverlauf werde jedoch gemildert.

Die Impfung wird durch den Bund finanziell subventioniert. Das hat das Parlament im Dezember 2024  entschieden. Swissmedic hat die regulär noch nicht zugelassene Impfung gegen die aktuell grassierende Virus-Variante im November 2024 per Allgemeinverfügung notfallmässig in der Schweiz freigegeben. Stirbt ein Tier nachweislich  wegen der Blauzungenkrankheit, erhält der Besitzer eine Entschädigung. Die Höhe der Entschädigung ist unabhängig davon, ob das Tier geimpft wurde.

Zurück zum beworbenen Vortrag. Der Referent, der eine «verantwortungsbewusste Entscheidung» entgegen der Empfehlungen der Behörden, der Schaf- und Rinderbranche, der Tiergesundheitsdienste und der kantonalen Tierärzt:innen ermöglichen will, sowie der zweite Redner des Abends werden auf dem Einladungsflyer mit der Schreibweise «:vorname [nachname]» aufgeführt. Die Schreibweise ist ein typisches Merkmal von Staatsverweigerer:innen.

Wissenschaftsfeindliche Pseudomedizin

Nach Auffassung der Staatsverweigerer:innen bedeutet diese Schreibweise, keine «Person», sondern ein «Mensch» zu sein. Und für diese «freien Menschen» würden die Schweizer Gesetze nicht gelten. Der Staat und seine Behörden seien sowieso illegitim. Die Schweiz, die kein Staat sei, sondern eine Art Firmenkonstrukt, ist die Parallelerzählung zur angeblich nicht existierenden Bundesrepublik Deutschland, wie sie deutsche Reichsbürger:innen verbreiten.

Der Referent ist nicht nur Experte im Nicht-Staatswesen, sondern auch in gesundheitlichen Belangen. Er ist Vertreter der «Germanischen Neuen Medizin», einer wissenschaftsfeindlichen und mit Antisemitismus durchtränkten Pseudomedizin.

Expert:innen gehen von mehreren Hundert potenziell vermeidbaren Todesfällen aus, die der «Germanischen Neuen Medizin» zuzuordnen sind, weil sich Menschen auf deren angebliche Wirkung verlassen haben, anstatt sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Die Behörden haben in zahlreichen Strafverfahren nach Anzeigen gegen diese selbsternannten Heiler:innen ermittelt, per se verboten ist ihre Tätigkeit aber nicht.

Die «Germanische Neue Medizin» (auch «(Neue) Medizin nach Hamer», «Germanische Heilkunde» oder «Die 5 biologischen Naturgesetze») geht davon aus, dass der Ursprung aller Krankheiten «Konflikte» seien.

Krebs oder der Schoggi-Osterhasen-«Verhungerungskonflikt»

Man würde denken, man kann sich das nicht ausdenken, aber: Ein bösartiger Tumor am Gebärmutterhals stehe für sexuelle Frustration. Karies sei ein «Konflikt» des «Nicht-zubeissen-Könnens», der bei Kindern zum Beispiel entstehe, wenn sie von älteren migrantischen Mitschüler:innen eingeschüchtert würden.

Wenn eine linkshändige Frau an Diabetes erkranke, liege das an ihrem Ekel vor Penissen. Der Witz eines Arztes (also so einer mit Studium, Berufsbewilligung und Zulassung), dass ein kleiner Junge wohl Bauchschmerzen habe, weil er zu viele Schoggi-Osterhasen gegessen habe, könne ebenfalls einen «Konflikt» auslösen. Weil der Junge danach nichts habe mehr wissen wollen von Schokolade, sei ein «Verhungerungskonflikt» der Leber, also deren Anschwellung, entstanden. Das Kind verstarb beim Versuch, den riesigen Tumor notfallmässig herauszuoperieren.

Wenn die «Konflikte» aufgelöst würden, würde sich der Körper selbst heilen, so die Behauptung des Erfinders der «Germanischen Neuen Medizin», Ryke Geerd Hamer. Der Deutsche studierte zwar Medizin, bekam seine Zulassung als Arzt aber 1986 entzogen.  Das hielt ihn aber nicht davon ab, weiterhin zu praktizieren, seine Inhalte zu verbreiten und trotz Fluchtversuchen mehrfach im Gefängnis zu landen. Er starb 2017 im «Exil» in Norwegen.

Antisemitismus und Rassismus als zentrale Pfeiler

Hamer stellte klar, dass die «Germanische Neue Medizin» – deren Namen den Bezug auf Rassentheorien offensichtlich macht – der Schulmedizin weit überlegen sei. Und darum, behauptet Hamer, würden jüdische Menschen angeblich auch auf die «Germanische Neue Medizin» setzen, und gleichzeitg würden sie nicht-jüdische Menschen mittels Schulmedizin – etwa durch Chemotherapie oder Impfungen – dezimieren. Hamer sprach in diesem Kontext von einem Massenmord an nicht-jüdischen Menschen und relativierte dabei den Holocaust. Die antisemitische Aufladung der Kritik an der Schulmedizin ist nicht Hamers Erfindung, sondern wurde insbesondere durch den Nationalsozialismus verstärkt. Auch queerfeindliche Inhalte finden sich in der «Germanischen Neuen Medizin».

Antisemitische Impf- und Wissenschaftskritik: Die «Germanische Neue Medizin» lässt seit der Covid-19-Pandemie noch viel mehr Herzen aufgehen. Schon Jahre zuvor verbreitete Hamer antisemitische Verschwörungserzählungen zu tödlichen Mikrochips, die per Impfung eingepflanzt würden. Ab 2020 wurden solche Aussagen für breitere Kreise anschlussfähig und zu festen Glaubenssätzen. Kreise, die der Überzeugung sind, dass man weder Staat, noch Schulmedizin vertrauen dürfe. Die Pseudomedizin wabert bis heute durch einschlägige Telegram-Kanäle, bei Post-Corona-Bewegungen finden Vorträge dazu statt.

In einer Stellungnahme macht die «Deutsche Krebsgesellschaft» klar, dass die «Germanische Neue Medizin» mit allem Nachdruck als gefährlich und unethisch zurückzuweisen sei.

Regionaler Bauernverband geht auf Distanz

Hansruedi Thoma geht in Bezug auf die «wissenschaftliche Aufklärung» zur Nicht-Existenz von Viren in der Markthalle Toggenburg das Herz nicht auf. Er ist Präsident des Bauernverbands Toggenburg. Gemäss Flyer unterstützt der Verband die Veranstaltung. Das stimme nicht, schreibt Thoma auf Nachfrage. Glaubhaft legt er dar, dass sich der Verband von der Veranstaltung distanziere, auf die Empfehlungen des Bundes verweise und rund eine Woche vor der Anfrage von FLIMMER.MEDIA (Opens in a new window) den Referenten gebeten habe, das Logo des Vereins vom Flyer zu entfernen.

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen kann auf Anfrage keine Einschätzung dazu geben, ob sich in Schweizer Ställen die Impfverweigerung ausbreitet. Zwischen August 2024 und Anfang Februar wurden schweizweit mehr als 2’200 Fälle der Seuche gemeldet. Das, nachdem die Seuche in der Schweiz jahrelang nicht auftrat. Gebiete, welche im Jahr 2024 nicht so stark betroffen waren, müssen gemäss Bund mit einer sehr viel stärkeren zweiten Krankheitswelle im Jahr 2025 rechnen.


Unsere Quellen:

Derstandard.at: "Wunderheiler" Ryke Geerd Hamer ist tot (Opens in a new window)

Krebsgesellschaft.de: Stellungnahme Neue Germanische Medizin (Opens in a new window)

Srf.ch: Franco Cavalli fordert Strafartikel gegen Scharlatane (Opens in a new window)

blv.admin.ch: Blauzungenkrankheit (Bluetongue BT) (Opens in a new window)

derstandard.at: "Neue Germanische Medizin": Es gibt keine Krankheiten, nur seelische Konflikte! (Opens in a new window)

Psiram.com: Opfer der Germanischen Neuen Medizin (Opens in a new window)

Sg.ch: Blauzungenkrankheit (Opens in a new window)

Faz.net: Entdecke deine gesunden Emotionen (Opens in a new window)

Relinfo.ch: Graswurzle schafft Raum für gefährliche Alternativmedizin – Felix Opprecht und die «Germanische Neue Medizin» (Opens in a new window)

sfne.info (Opens in a new window)

Pilhar.com: Korrespondenz 2000 Neue Medizin, Dr. Hamer im Gespräch mit Dr. Rosenholz (Opens in a new window)

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