Die Erfindung von Pulvermilch war kein Akt der Nächstenliebe
Dieser Beitrag wurde am 21.9.2021 auf dem Blog veröffentlicht (Opens in a new window).
Falls Du glaubst, dass Muttermilchersatzpulver erfunden wurde, um arme Babys zu retten, deren Mütter gestorben waren oder körperlich nicht in der Lage waren zu stillen, dann muss ich Dich enttäuschen.
Der erste Menschenmilch-Ersatz in Pulverform wurde 1865 von Justus von Liebig (Opens in a new window) erfunden, als dieser Professor für Chemie an der Universität München war. Dank Liebigs guten Rufes wurde die "Liebig'sche Suppe" bald sehr beliebt. Das Pulver wurde in kaltem Wasser gelöst und dann gekocht. Da das Rezept kein Geheimnis war und keinem Patent unterlag, konnte es in jeder Apotheke bestellt oder zuhause hergestellt werden. Die Hauptzutaten waren Weizenmehl, Malz und Pottasche (Opens in a new window).
Schon bald kam eine Vielzahl an Variationen der Liebig'schen Suppe auf den Markt. Sie wurden als "Kindermehl" bezeichnet und als erste Beikost vermarktet. Je nach Zubereitung konnten sie als Milchersatz oder Brei verfüttert werden. Kindermehle waren nicht für Kinder unter drei Monaten bestimmt.
Die meisten Firmen, die Kindermehl herstellten, sind lange in Vergessenheit geraten; auch wenn einige sehr erfolgreich gewesen waren. Hersteller wie Timpe, Liebe, Wiedemann, Loeslund, Opel, und Kufeke (Opens in a new window) bewarben ihre Produkte als Nahrungergänzungsmittel. Während sie primär als Beikost verkauft wurden, wurden sie auch als Heilnahrung für Kranke jeden Alters angepriesen.
Schon 1868 begann der Apotheker, Erfinder und Unternehmer Henri Nestlé (Opens in a new window) (1814-1890), seine eigene Version der Pulvermilch zu verkaufen. Der Hauptunterschied zur Liebig'schen Suppe war, dass Nestlé seinem Kindermehl kondensierte Kuhmilch hinzufügte. Nestlé testete sein Produkt als Alleinnahrungsmittel für Neugeborene, indem er zwei Babys zur Pflege aufnahm. Eines dieser Babys war angeblich ein Frühchen, dass er vor dem Verhungern rettete. Diese Geschichte hat er jedenfalls zur Vermarktung seines Kindermehls (Opens in a new window) als vollständige Nahrung für Babys genutzt und es explizit als "Muttermilchersatz" bezeichnet.
Dadurch wurde das Nestlé'sche Kindermehl zum Verkaufsschlager. Bereits 1872 wurde es weltweit verkauft. Als Henri Nestlé seine Firma 1875 verkaufte und sich zur Ruhe setzte, war er ein reicher Mann.
An diesem Punkt müssen wir uns fragen, wie es sein konnte, dass ein Produkt, das angeblich als Lebensretter für nicht gestillte Babys erfunden wurde, einen so großen Markt hatte, dass es dutzende von Herstellern gab, von denen einige in sehr kurzer Zeit sehr reich wurden. Die Vorstellung, der viele Menschen heutzutage anhängen, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur solche Babys nicht gestillt wurden, deren Mutter verstorben war oder nicht genug Milch hatte, ergibt keinen Sinn.
Schauen wir uns zur Klärung dieser Frage einige Zahlen und Beispiele an. Im Jahr 1871 gab es in ganz Bayern 1236 Todesfälle, die in Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett standen; 1875 waren es 1659; 1880 waren es 1139 laut dem Bayerisches Ärzteblatt (Opens in a new window). Das sind 6-8 Todesfälle pro 1.000 Geburten, andere Länder hatten ähnliche Quoten. Das ist aus heutiger Sicht viel, aber es ist nicht genug, um einen derartig großen Bedarf an Pulvermilch zu erzeugen und große Gewinne einzufahren.
Bedeutet das, dass eine große Anzahl an Müttern unfähig war zu stillen? Körperlich - nein. Selbst die pessimistischsten Schätzungen gehen davon aus, dass höchstens 5% aller Mütter stillunfähig sind, die meisten Quellen gehen von 2-3% aus. Wir können uns hier nur auf Schätzungen berufen, da es unmöglich ist zu bestimmen, ob eine Person ganz, ganz wirklich und ehrlich tatsächlich nicht stillen konnte. Eine solche Beurteilung ist außerdem entwürdigend und erniedrigend.
Was wir aber mit Sicherheit feststellen können, ist das Mütter einfach nicht gestillt haben. Ob gestillt wurde oder nicht, war eine Frage des Standes und der regionalen Gepflogenheiten. Die oberen Stände hatten Ammen (Opens in a new window), welche bis kurz nach der Jahrhundertwende vollständig durch teure Pulvermilch ersetzt wurden. Die mittleren Schichten in den Städten stillten in der Regel bis das Nichtstillen als Zeichen von Wohlstand (Opens in a new window) angestrebt wurde. 1883 kostete Nestlés Kindermehl 1,35 Mark pro 550 g-Dose und galt damit als teuer(1). Heute wären das 9,86 Euro (Quelle (Opens in a new window)). Stillquoten in Berlin sanken drastisch von 50.7% im Jahr 1890, über 43.1% 1895, bis 32.5% im Jahr 1900(2), während in München bereits 1883 nur 15% aller Babys gestillt wurden(1).
Für Arbeiter*innen waren die Arbeitsbedingungen während der Industrialisierung so schlecht, dass sie ihre Kinder bei anderen Familienmitgliedern oder Fremden lassen (Opens in a new window) mussten. Sie konnten nicht stillen, weil sie viele Stunden pro Tag nicht bei ihren Kindern sein konnten. Unverheiratete Dienstmädge gaben ihre Kinder schon bald nach der Geburt in Pflege (Opens in a new window).
Ein Großteil der Bevölkerung waren jedoch Bäuer*innen. Während diese in Ländern wie Sachsen oder Preußen ihre Kinder mit aufs Feld nahmen - in Körben oder Tragehilfen -, ließen sie sie in Bayern oder der Schweiz zuhause bei den Großeltern oder anderen Haushaltsmitgliedern. Die zwei Hauptgründe dafür waren die Landschaft und das jeweilige Erbrecht.
Ein Baby jeden Tag die Berge hoch und runter zu schleppen - vor allem in einem Korb oder Steckkissen (Opens in a new window) - macht nicht sonderlich viel Spaß. Wer kann, lässt das sein. Wenn noch dazu eine Aufsichtsperson nur für die Kinder mitkommen müsste, die sich dadurch nicht an der Feld- oder Vieharbeit beteiligen kann, ziehen die Eltern es vor, die Kinder und die Aufsichtsperson gleich ganz zuhause zu lassen.
In weiten Teilen Sachsens erbte meist der jüngste Sohn den Hof ("Minorat (Opens in a new window)" oder "Ultimogenitur"); manchmal die jüngste Tochter, wenn sie keine (überlebenden) Brüder hatte oder diese schon auf einen anderen Hof geheiratet hatten. Mit der Heirat übernahm das Ehepaar den Hof der Eltern und stand somit auf eigenen Füßen; konnte eigene Entscheidungen treffen.
In Bayern und Preußen hingegen erbte der älteste Sohn den Bauernhof ("Majorat (Opens in a new window)" oder "Primogenitur"). Wenn er bereit war zu heiraten, waren seine Eltern noch lange nicht so weit, aufs Altenteil zu gehen. In Bayern galt lange Zeit ein Ehe- und Ansässigkeitsgesetz, das es Paaren nur erlaubte zu heiraten, wenn sie ein eigenes Einkommen hatten. Im Falle von Bauerskindern hieß das, sie mussten einen Hof erben. So kam es, dass viele Paare über Jahre unverheiratet blieben, aber schon eine Familie gründeten (Opens in a new window). Die Frau lebte entweder bei ihren Eltern oder bei den Schwiegereltern. Wo die Paare heiraten durften, lebten sie auf dem Hof, den sie später einmal erben würden. Jedenfalls entschieden nicht die jungen Mütter, ob sie stillten oder nicht. Ihre Arbeitskraft war den (Schwieger-)Eltern wichtiger als ihre Milch.
Schon Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Stillen in diesen Landen argwöhnisch betrachtet. Mütter hielten es für unter ihrer Würde zu stillen. Milch geben die Tiere! Der Mensch ist was besseres! Sie fütterten ihre Babys mit verdünnter Kuhmilch, Ziegenmilch, Getreideschleim und einer Reihe weiterer selbstgemachter Mixturen (Opens in a new window). Die Folgen für die Gesundheit der Kinder waren schwerwiegend und schlugen sich deutlich in den Sterberaten nieder. Die folgende Tabelle zeigt die Todesfälle von Kindern im ersten Lebensjahr Anfang der 1880er(1).
Genf: 12.5 %
London: 17 %
Paris: 17.5 %
Preußen: 18 %
Sachsen: 18.1 %
Berlin: 24 %
Frankfurt/Main: 24 %
Bayern: 31.54-33.48 %
Württemberg: 31.2-40.8 %
südliche Teile Württembergs: 49.9 %
Niederbayern: 50 %
Diese Sterberaten waren zu recht alamierend für Ärzte. Sie versuchten energisch, Mütter zum Stillen zu bringen. Ihre Methoden waren jedoch arrogant und wenig hilfreich. Sie bauten auf Befehlstöne und mütterliche Pflichten. Es wurde ein regelrechter Druck erzeugt, indem den Müttern vorgeworfen wurde, dass sie das Stillen nicht ernst genug versuchten und sich nicht an die von den Ärzten vorgegebenen Stillregeln hielten. Die Mütter seien also selber Schuld, wenn das Stillen nicht funktionierte. Dem Kind die Brust "vorzuenthalten" wurde als egoistisch und ignorant dargestellt.
Vielleicht hätten sie sich weniger Gründe ausdenken sollen, warum manche Frauen nicht stillten, und sich lieber darauf konzentieren sollen, warum andere Frauen es taten. Dann wären sie vielleicht in der Lage gewesen, dies günstigen Konditionen für andere Familien zu reproduzieren. Aber in einer streng hierachischen und patriarchalen Gesellschaft (Opens in a new window) wäre das wohl zu viel verlangt (Opens in a new window)! Das Patriarchat will Frauen nicht aufbauen und unterstützen. Es will ihnen nur sagen, was sie zu tun haben.
Das ist die Situation, die von Liebig und Nestlé in den 1860ern vorfanden. Nur eine kleine Zahl an Frauen in ihrer Umgebung stillten überhaupt. Von Liebig akzeptierte dies und versuchte einen Ersatz zu kreieren, der besser war als das, was die nicht gestillten Babys sonst so bekamen. Dies war jedoch nur ein kleiner Teil seiner Forschungsarbeit und er überließ es anderen, das Produkt weiter zu entwickeln. Kinderärzt*innen warnten bis weit in die 1920er davor, jegliches Kindermehl als Menschenmilchersatz zu verwenden. Es mag besser gewesen sein, als Kuhmilch und so weiter zu verwenden, aber es war noch immer ein angemessenes Alleinnahrungsmittel für Babys. Für manch ein Baby mag es ein Lebensretter gewesen sein, aber der ultimative Lebensretter war noch immer das Stillen - neben besser Hygiene und Fortschritten in der Medizin. Grundlegende Inhaltsstoffe wie Vitamine fehlten der Pulvermilch noch bis in die 1980er.
Henri Nestlé jedoch war kein Wissenschaftler wie von Liebig. Er war Erfinder und Unternehmer. Während er sicherlich wollte, dass auch ungestillte Kinder gesund blieben, so wollte er doch in erster Linie deshalb ein Ersatz-Produkt herstellen, weil er dafür einen großen Markt sah.
(1) Das Buch von der gesunden und kranken Frau, Dr. med. Ernst Kormann, 1883
(2) Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, Gustav Temme, 1908