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40

It was pain
Sunny days and rain
I knew you'd feel the same things
(Ben Folds) (Opens in a new window)

Als mein Vater 40 wurde, wollte ich ihm eine Single der damals recht populären Band UB40 schenken — nicht, weil er oder ich Fan von deren Musik gewesen wären, sondern weil mir der Bandname nach zwei Jahren Englischunterricht passend erschien. Bekommen hat er von meiner Mutter schließlich die Reinhard-Fendrich-CD „Brüder“, weil sich darauf - zwinker, zwinker - der Hit „Midlife Crisis“ (Opens in a new window) befand. Popkultur: Die Art meiner Familie, „Ich liebe Dich, ich sehe Dich“ zu sagen.

A Portrait of the Artist as a Young Man.

Im August dieses Jahres wurde UB40s Hitsingle „Red Red Wine“ (Opens in a new window) 40 und letzte Woche ich. (Es hängt immer alles mit allem zusammen!) Zumindest letzteres war gar nicht so schlimm. Mehr noch: Weil ich mich die letzten anderthalb Jahre (womöglich gar die letzten 39) darauf eingestellt hatte, 40 zu werden, war ich einigermaßen überrascht, dass es erst jetzt soweit war. Außerdem war ich ein paar Tage zuvor noch mal am (und natürlich auch im) Meer (Opens in a new window) gewesen und da kann dann ja eh nichts mehr schiefgehen.

Look around, that's not me
Not one shred of who I'll be
You don't know what I do
The one way getting out is through
(Jimmy Eat World) (Opens in a new window)

Als jemand, der gerne sein ganzes Leben kartographiert, nummeriert und so zu verstehen versucht, hab ich in den letzten Wochen natürlich noch ein bisschen mehr als sonst über die letzten zehn Jahre nachgedacht (obwohl ich das ja erst vor vier Jahren (Opens in a new window) gemacht hatte): An meinem 30. Geburtstag dachte ich wirklich, ich hätte jetzt langsam raus, wie das Leben funktioniert, und dann kam erstmal alles ganz anders und es wurde ein wilder Ritt, ohne den ich allerdings nicht da wäre, wo ich heute bin: bei meiner kleinen Patchwork-Familie.

Für jemanden, der mit 16 wahnsinnig stolz darauf war, nur Musik zu hören, die sonst keiner hört, hab ich vielleicht ein bisschen spät erkannt, dass „so wie alle anderen es machen“ nicht zwingend die naheliegende Herangehensweise ans eigene Leben ist. Das ist manchmal etwas anstrengend - gerade, wenn man mittendrin in Situationen ist, die eigentlich anders geplant waren -, aber irgendwas ist ja immer. Wenn alle Wunden verheilt sind, kann man seine Narben ja im Idealfall immer als Trophäen verkaufen und herzlich drüber lachen.

In der ersten Folge (Opens in a new window) unseres 2003-Specials bei Coffee And TV (auch die zweite ist inzwischen online (Opens in a new window)), die wir zwischen unseren beiden 40. Geburtstagen aufgezeichnet haben, um auf die Musik jenes Jahres zurückzuschauen, in dem wir beide 20 wurden, steigert sich mein guter Freund Jens Kölsch für uns beide überraschend in eine Art commencement speech, in der er unter anderem postuliert: „Es ist scheißegal, ob Du 40 bist oder nicht: Du hast keine Ahnung, was da jetzt kommt! […] Es wird noch ‘ne Menge Entwicklung geben!“, und ich überlege jetzt seit Wochen, wie ich diese Gedanken in ein Tattoo-Motiv umwandeln kann.

Oh, protect our secret handshake once more, with feeling
Let the toast to absent members push through the ceiling
Before we say goodnight
(The Weakerthans) (Opens in a new window)

Vor einem Jahr hat meine Omi mir noch zum Geburtstag gratuliert: Ich saß bei ihr an jenem Möbel, von dem uns allen klar war, dass es ihr Sterbebett sein würde, als sie fragte: „Du hast Geburtstag, nech? War der schon?“ Ich nickte, sie sagte mit einem strahlenden Lächeln, das gleichzeitig um Verzeihung für ihr Versäumnis bat, „Herzlichen Glückwunsch“, und ich wusste mit allem Gewicht der Welt, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie (oder irgendeines meiner Großeltern, denn die anderen waren ja schon alle tot) mir zum Geburtstag gratulieren würde.

Seit meine andere Großmutter im Sommer 2017 gestorben war, hatte ich mir zu meinen Geburtstagen diese belgischen Meeresfrüchte mit Nougatfüllung gekauft, die sie mir sonst immer geschenkt hatte. (Die Tage Ende September/Anfang Oktober schmecken für mich nach Nougat, soviel ist doch mal klar!) Dieses Jahr kamen also Schokolinsen (Opens in a new window) und Erfrischungsstäbchen dazu und ich stand kurz im Edeka und dachte: „Irgendwie wäre es jetzt voll cool, wenn Du gleich am Kassenband nicht einfach losheulen würdest“, und es ging.

Oh ein Kuss auf die Stirn
Und danke für die Stunden
Man fühlt sich, als habe man die Liebe erfunden
(Tomte) (Opens in a new window)

Es gibt ja diesen etwas immobilienkaufmännisch anmutenden Begriff „Lebensqualität“, unter dem sich alle etwas anderes vorstellen können. Ich meine das gar nicht in einem neoliberalen, selbstoptimierenden Sinn, aber: Es kann ja nicht schaden, sich von Zeit zu Zeit zu überlegen, was das eigene Leben besser machen, also: einen selbst glücklicher machen könnte.

Mir ist ziemlich genau letzte Woche aufgefallen, dass es mich sehr glücklich macht, in meiner Wohnung laut (nicht ohrenbetäubend und die Nachbar*innen verstörend, aber doch: dieses kleine bisschen lauter als angemessen) Musik zu hören — vor allem, wenn ich in der Küche arbeite. Ich mache das instinktiv relativ häufig, aber ich habe wirklich erst jetzt verstanden, dass in meinem Anforderungsprofil für ein eigenes Haus (also das, was man sich gönnt, wenn man im Lotto gewonnen hat) an zweiter Stelle stehen würde: „Laut in der Küche Musik hören können“ — was mehr Ansprüche an die Umgebung (oder Schallisolierung) stellt als an die Unterhaltungselektronik, denn letztere wäre ja durchaus schon in passender Größenordnung vorhanden. (Auf Platz 1 stünde: „Zu ebener Erde aus Küche und Wohnzimmer in den Garten gehen können.“)

Ich habe also meinen Geburtstag mit einigen meiner Lieblingsalben in der Küche verbracht und ein paar Kuchen gebacken, bevor ich ein paar Tage später endlich mal angefangen habe, mir eine Spotify-Playlist (Opens in a new window) für Samstagvormittage zusammenzustellen, denn dass Samstagvormittage eine ganz eigene Energie haben und entsprechend eigene Musik brauchen, ist ja wohl klar. (Samstagvormittage waren die Zeit, die wir mit Papa verbracht haben. Sie sind für mich untrennbar verknüpft mit Waschstraße, Getränkemarkt, natürlich Baumarkt und lauter Musik. In besonderer Erinnerung ist mir ein Samstagvormittag, an dem mein Vater mal wieder in der Musikredaktion von WDR 2 angerufen hatte, um sich den aktuellen Titel durchgeben zu lassen - es war die Zeit vor Shazam! -, und um dann nach dem obligatorischen Ausflug in den Baumarkt auch noch im glücklicherweise direkt daneben gelegenen Elektronikmarkt vorbeizuschauen und hernach Paul Youngs „I’m Only Foolin’ Myself“ (Opens in a new window) in deutlich mehr als ein kleines bisschen lauter als angemessener Lautstärke durch mein recht freistehendes Elternhaus zu ballern.) 

Ich denke ungefähr nie darüber nach, wie ein zukünftiges Ereignis - ob nah oder fern - aussehen könnte, aber letzten Samstag dachte ich: „So habe ich mir als Kind vermutlich ‚Erwachsensein‘ vorgestellt: vormittags laut Musik hören und danach ins Stadion!“ (Interessant wäre jetzt, auch zu wissen, wie sich die Gladbacher Ultras (Opens in a new window) oder die Spieler des VfL Bochum (Opens in a new window) das als Kinder vorgestellt hatten. Na ja.)

What became of everyone I used to know?
Where did our respectable convictions go?
(The Get Up Kids) (Opens in a new window)

Meine letzte reguläre Geburtstagsfeier war - natürlich (Opens in a new window) - vier Jahre her gewesen, weswegen ich mir lange Zeit gar nicht so sicher war, ob und wie ich eigentlich feiern wollen würde. Die naheliegende Idee wäre natürlich immer ein eigenes Festival, aber dafür hat sich mein Buch (Opens in a new window) einfach nicht gut genug verkauft. Jetzt schreibe ich ja ein neues und wenn alles nach Plan läuft (s.o.), können wir das mit dem Festival ja dann zu meinem 50. nachholen (Ben Folds wäre dann 67 und Marcus Wiebusch 65, also: warum nicht?!). 

Wir haben deshalb ein paar Nummern kleiner gefeiert; ich habe es irgendwie geschafft, das Ganze zu genießen (mir war natürlich recht kurzfristig wieder eingefallen, dass Geburtstagsfeiern immer ein einziger ADHS-Trip sind, bei denen ich zwischen den verschiedensten Gruppen hin- und herspringe und in den Tagen danach fast genauso viel Zeit damit verbringe, Menschen zu schreiben, dass wir ja leider nur kurz gesprochen hätten); und auch wenn ich noch ein paar Tage brauchen werde, alles zu verarbeiten: Der Moment, in dem mein Onkel mich angestupst und in eine Richtung gedeutet hat, und dann standen da nebeneinander mein Sohn und mein Vater nebeneinander in der Tür meiner Stammkneipe, der hat sich als perfekte bildliche Umsetzung dieses Lebensabschnitts jetzt schon einen Platz im Supercut meines Lebens gesichert: Sie befinden sich hier.

'Round here, we always stand up straight
'Round here, something radiates
(Counting Crows) (Opens in a new window)

Warum erzähle ich Euch das alles? Jedenfalls nicht, um jetzt hier noch ein paar Hundert nachträgliche Glückwünsche einzusammeln.

Meine Schwester hat vor ein paar Jahren mal gesagt: „Ich hab mich neulich gefragt, in welchem Alter man wohl anfängt, auf seinen eigenen Geburtstagsfeiern eine Rede zu halten. Und da hab ich für mich beschlossen: Nie!“ Das ist natürlich eine theoretisch sehr weise Entscheidung (meine Schwester ist ja auch klüger als ich), andererseits bin ich praktisch ein sucker for solemnity und habe immer das Gefühl, die Welt besser verstehen zu können, wenn ich alles aufschreibe. So here we are.

Den Abonnent*innen, die seit der letzten Ausgabe (Opens in a new window) dieses Newsletters neu hinzugekommen sind, möchte ich außer „Hallo!“ auch ein „Es ist nicht immer so!“ zurufen. Andererseits: It’s my party and I cry if I want to! (Opens in a new window)

https://www.youtube.com/watch?v=3UgGe50SbeI (Opens in a new window)

Wenn Dir diese Ausgabe des Newsletters gefallen hat, leite sie gerne an eine Person weiter, von der Du glaubst, dass auch sie Interesse daran haben könnte.

Und wenn Dir dieser Newsletter so gut gefällt, dass Du dafür bezahlen möchtest (ich sag nur: Festival zum 50.!), kannst Du das hier tun:

Habt ein schönes Wochenende!

Always love, Lukas

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