Sehnsucht nach dem Lockdown?
Zwei Drittel der Deutschen blicken ängstlich in die Zukunft und es gibt einen Trend zum Rückzug ins Private. Das wird in der „Zukunftsstudie 2021“ beschrieben, die Ende letzten Jahres erschienen ist. Das ist eine tiefen·psychologische Studie des Rheingold Instituts Köln. Stephan Grünewald kommentiert diese Studie. Er ist der Gründer des Instituts. Außerdem ist er Psychologe und Autor.
Er spricht über die Problematik von Lärm und Hektik in unserer modernen Welt, in der Technisierung und Effizienz eine große Rolle spielen. Allerdings hat der französische Philosoph Blaise Pascal schon vor über vierhundert Jahren über das größte Unglück der Menschen geklagt: nämlich, dass sie nicht still in einem Zimmer sitzen könnten.
Was hat sich im Vergleich zu damals verändert? Nun, heutzutage gibt es immer mehr Geräusch·quellen und immer weniger ruhige Orte. Auch die zunehmende Mobilität führt zu mehr Lärm und via Social Media können wir immer und überall mit der ganzen Welt kommunizieren.
Laut Stephan Grünewald erfüllt der ständige sonore Lärm·pegel eine wichtige Funktion: wir fühlen uns nicht allein, sondern bleiben im „Fluss des Lebens“. Obwohl Lärm uns stressen kann, beruhigt er uns auch, weil wir dann nicht mit „der Leere in unserem Inneren“ konfrontiert sind.
Außerdem gehört die Stille nicht zu unseren primären Erfahrungen, denn vor unserer Geburt waren wir ständig vom Herz·schlag, den Bauch·geräuschen und der Stimme unserer Mutter umgeben.
Stille kann Menschen noch mehr stressen als Lärm, der verhindert, sich selbst zu spüren. Stille wird oft als leblos, feindlich oder langweilig empfunden. Trotzdem suchen wir sie zuweilen - die einen mehr, die anderen weniger. Und zwar, weil Stille auch sehr glücklich machen kann. Nicht zufällig ist „Stille Nacht, heilige Nacht“ unser wichtigstes Weihnachtslied. Und nicht ohne Grund sprechen wir davon, dass Babys gestillt werden, wenn sie an der Brust ihrer Mutter trinken. Das Glück der Stille, Harmonie und Geborgenheit kennen wir allerdings meist als ein Gefühl, das wir nur in gewissen Momenten erleben.
Für viele Künstler ist Stille eine Voraussetzung für Kreativität. Es kann nur „in ihnen klingen“, wenn der Lärm der Welt sie nicht stört.
Auch Menschen, die nicht künstlerisch tätig sind, sehnen sich nach Ruhe. Oft suchen sie dann allerdings sensorische Erlebnisse in Form von Massagen, Klängen oder Gerüchen, wenn sie sich beispielsweise eine sogenannte Wellness-Auszeit gönnen. In diesem Sinne geht es nicht so sehr um Stille, sondern mehr um eine Re·aktivierung des Gefühls der Geborgenheit.
Solche Erlebnisse waren in den Lockdown-Phasen der beiden letzten Jahre teilweise schwer zu realisieren. Der Zwang, sich zurückzuziehen war für viele Menschen eine große Herausforderung, für einige auch eine existenzielle Zumutung. Dafür gibt es viele Gründe.
Allerdings waren diese Lockdowns für ca. ein Drittel der Menschen in Deutschland die schönste Zeit ihres Lebens: endlich konnte man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf die Familie, auf Hobbys, auf viele Dinge, für die sonst zu wenig Zeit bleibt. Ein großes Glück war für diese Gruppe auch, nicht neidisch auf das Leben der anderen sein zu müssen. Jetzt kann man bei diesen Menschen so etwas wie eine „Lockdown-Nostalgie“ sehen: sie sehnen sich zurück in das ruhige Leben mit weniger Möglichkeiten, weil „der große Kreis des Lebens“ sie zu sehr stresst.
Mit dem Aus·sortieren von Schränken und auch Freunden wächst allerdings die Gefahr von zu viel Selbst·bezogenheit und nachlassender Toleranz und Bereitschaft zum Austausch mit Menschen, die anders sind als man selbst. Allein schon aus diesem Grund ist es gut, dass die Zeit der Lockdowns – hoffentlich – vorbei ist. Andererseits ist es wichtig zu betonen, dass auch in diesen schwierigen Zeiten der Pandemie die Bereitschaft gewachsen ist, sich zusammen mit anderen für eine lebenswerte Zukunft zu engagieren.
Original-Text
Photo by Jan Huber (Opens in a new window) on Unsplash (Opens in a new window)
Fragen zum Text
1. Wie viel Prozent sind zwei Drittel?
2. Was ist eine primäre Erfahrung?
3. Wann / wo fühlst du dich geborgen?
4. Welche Geräusch·quellen stressen dich, welche nicht?
5. Kannst du Stille ertragen?
6. Wie hast du die Lockdowns erlebt?
7. Kennst du das Gefühl der Lockdown-Nostalgie?
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