Du willst etwas lernen? Dann geh schlafen
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute gehts um die letzte meiner vier Grundlagen des Lernens: Schlaf.
Manchmal zweckentfremde ich meine beiden Nichten etwas. Dann sehe ich in ihnen nicht nur zwei Kids, mit denen ich knuddeln und spielen kann, sondern auch zwei lernende Gehirne. Ich glaube, das ist das Schicksal aller Menschen, die das Gehirn studiert haben: Die Gehirne sind überall! Als stolzer Onkel helfe ich der Älteren ab und zu bei ihren Schulaufgaben, sie ist mittlerweile in der zweiten Klasse.
Sie liest vor, ich korrigiere, wenn nötig. Zu Beginn ihrer Schulzeit lernte sie Buchstabe für Buchstabe, irgendwann konnte sie ganze Wörter lesen und sogar Sätze! Nur: sie war wahnsinnig langsam darin. Je länger das Wort, desto länger brauchte sie, um es zu lesen und zu verstehen.
So geht es allen Leseanfänger:innen, die Funktion ist linear: Für jeden zusätzlichen Buchstaben verlängert sich die Reaktionszeit beim Lesen, sie lesen die Wörter Step by Step:
Wir ihr seht, flacht die lineare Funktion glücklicherweise ab. Bei meiner Nichte geht das schon los. Je mehr sie liest, desto flüssiger wird es. Und irgendwann macht es keinen Unterschied mehr, ob ein Wort drei oder acht Buchstaben hat. Es zu lesen und zu verarbeiten dauert immer gleich lang. Warum eigentlich?
Die Antwort liefert die vierte und damit letzte Grundlage des Lernens, die ich euch vorstelle: Konsolidierung. Ganz eng damit zusammen hängt eine Beschäftigung, die zu lange (und immer noch) einen schlechten Ruf hatte: schlafen.
Konsolidierung kann man relativ einfach zusammenfassen: Aus einem langsamen, bewussten und anstrengenden Prozess wird ein schneller, unbewusster, automatischer.
Das kann man im Gehirn sehen: Bei Leseanfänger:innen sind Regionen aktiviert, die später nicht mehr aktiviert sind: visuelle Areale, um die Buchstaben zu erkennen, Areale im Temporallappen, um die Phoneme, Silben und Wörter zu verarbeiten sowie Regionen im präfrontalen Cortex, also dort, wo wir bewusste Entscheidungen treffen. Diese Veränderung im Verarbeiten (von bewusst zu unbewusst) gilt für alle Arten des Lernens, egal ob wir lesen lernen oder Klavierspielen.
Warum Konsolidierung so wichtig ist
Das gleiche gilt fürs Rechnen. Am Anfang der Grundschule ist jede mathematische Operation wahnsinnig aufwendig für uns. 3+5 ist eine Aufgabe, bei der wir uns richtig anstrengen müssen: Wir zählen 3, 4, 5, 6, 7, 8. Je öfter wir das machen, desto automatischer wird dieser Prozess.
Hier wird auch klar, warum Konsolidierung so wichtig ist: Wer in der elften Klasse bei der Kurvendiskussion immer noch drei Minuten braucht, um 3+5 zu rechnen, kommt kein Stück voran. Konsolidierung sorgt dafür, dass die Gehirn-Ressourcen, die wir haben, sparsam eingesetzt werden können.
Erinnert euch kurz an die erste Folge dieser Serie (Opens in a new window): Wir können nicht multitasken, wir können unsere Aufmerksamkeit immer nur auf eine Aufgabe richten – außer eine der Aufgaben läuft vollkommen automatisch ab. Deshalb schrecken wir manchmal beim Autofahren auf und können uns nicht bewusst an die letzten 30 Sekunden der Autofahrt erinnern, sie liefen automatisch ab, während wir gedanklich woanders waren.
Das können wir im Schlaf
Jede Nacht konsolidiert unser Gehirn das, was es am Tag zuvor gelernt hat. Schlaf ist keine Phase der Inaktivität. Ohne Schlaf wäre die Menschheit kaum da, wo sie heute steht. Das kann man messen, und zwar in Ratten und in Menschen.
Fangen wir mit den Ratten an. Im Hippocampus, einem kleinen Areal, das aussieht wie ein Seepferdchen (hier mehr dazu (Opens in a new window)), gibt es sogenannte Place-Cells. Nervenzellen, die bestimmte Orte repräsentieren. Lässt man eine Ratte durch einen Flur laufen, gibt es im Hippocampus also Zellen, die genau dann feuern, wenn die Ratte vorne im Flur steht. Andere feuern, wenn sie die Tür in der Mitte erreicht hat. Und wieder andere, wenn sie hinten am Ende des Flurs steht. Wenn man die Aktivität dieser Nervenzellen misst und einem Computerprogramm gibt, kann das Programm dir sagen, wo sich die Ratte aufgehalten hat – nur durch die Daten.
Forscher:innen haben genau das getan: Ratten durch einen Flure laufen lassen und die Aktivität dieser Place-Cells gemessen. Dabei haben sie herausgefunden (Opens in a new window), dass diese Nervenzellen bei Ratten auch während des Schlafs aktiv sind, und zwar in der gleichen Reihenfolge wie tagsüber im Flur. Einen Unterschied gibt es: die Geschwindigkeit.
Die Abfolge der aktiven Nervenzellen ist im Schlaf ungefähr 20 Mal so schnell wie am Tag. Im Schlaf simuliert das Gehirn die Strecke des Tages – aber in Highspeed. Und natürlich, auch hier haben Wissenschaftler:innen den Test gemacht: Sie können genau sagen, wo die Ratte sich am Vortag aufgehalten hat, nur indem sie die Aktivität der Nervenzellen während des Schlafes messen. Ich finde das irre.
Durch diese Reaktivierung im Schlaf können wir am Tag zuvor Erlebtes hunderte Male wieder im Gehirn ablaufen lassen und Erlebnisse so in unserem Gedächtnis abspeichern. Dieses Abspeichern könnte einer der Hauptgründe dafür sein, warum wir schlafen und träumen. Experiment nach Experiment zeigt: Nach dem Schlafen verändert sich die Aktivität im Gehirn, ein Teil des am Tag zuvor Gelernten wird automatisiert und braucht künftig nicht mehr die Aufmerksamkeit, die es noch zuvor gebraucht hat.
Manchmal lernen wir im Schlaf auch was ganz Neues
Wir können im Schlaf aber nicht nur bereits Erlebtes abspeichern. Wir können auch Neues lernen. Diese Studie (Opens in a new window) hat mich beeindruckt: Forscher:innen haben Proband:innen einen komplexen Algorithmus beigebracht. Was die Teilnehmer:innen nicht wussten: Es gab einen Shortcut, einen einfachen Rechenschritt, mit dem man die Rechenzeit deutlich reduzieren konnte und zum gleichen Ergebnis kam. Bevor sie ins Bett gegangen sind, hatten nur wenige Teilnehmer:innen diesen Shortcut entdeckt.
Nach dem Schlaf hat sich die Zahl der Teilnehmer:innen, die von ihm wussten, verdoppelt! Teilnehmer:innen, denen der Schlaf verweigert wurde, hatten so einen Eureka-Moment nie. Und: Die Ergebnisse blieben stabil, egal, wann die Teilnehmer:innen die Aufgaben bewältigen sollten. An der zusätzlichen Zeit alleine kann es also nicht gelegen haben. Es lag am Schlaf.
Wer Mutter oder Vater ist, wird nicht überrascht davon sein, wie wichtig Schlafen fürs Lernen ist. Babys machen praktisch kaum was anderes als schlafen. Denn für sie ist jeder Input neu, noch ist nichts konsolidiert. Das kommt erst noch.
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