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Liebe Leserin, lieber Leser,

wir haben an dieser Stelle bereits häufiger versucht, biblische Gleichnisse auszulegen und sie für eine theologisch-philosophisch anspruchsvolle Lektüre fruchtbar zu machen. Dies fällt auch mir manchmal schwer. Manche Bilder haben durch ihre beständige Wiederholung, eine häufig unvermeidliche ikonische Abnutzung, ihren Glanz verloren. Erst durch eine ein behutsame und auf ihre jeweiligen Feinheiten achtende Auslegung kann ihnen der Exeget diesen wieder abringen. Ein solches Gleichnis stellt uns die Schrift in der heutigen Lesung vor Augen.

II.

Nach der Fußwaschung am Gründonnerstag hält Jesus drei Abschiedsreden, in denen er die kommende Passion mit dem Kommen des „Herrscher[s] der Welt“ (Joh 14,30) verknüpft. In der sogenannten zweiten Abschiedsrede wird diese Übereinstimmung von Heilandszeit und Weltzeit in einem eindrucksvollen Bild zusammengefasst:

„Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. Ihr seid schon rein kraft des Wortes, das ich zu euch gesagt habe. Bleibt in mir und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten. Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger werdet.“ (Joh 15,1-8)

Stiftskirche St. Castor, Christus, der wahre Weinstock, frühes 17. Jhd. (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Christus,_der_wahre_Weinstock.jpg)

Jesus entwirft hier ein landwirtschaftliches Szenario, das ihn als Weinstock, Gottvater als als „agricola“, als bäuerlichen Landmann, und die Jünger wiederum als dem Weinstock zugehörige Reben inszeniert. Auf diese Weise wird zunächst in Bezug auf Jesus die ontologische Dimension der Christusnachfolge betont: Die Jünger sind als Reben, Zweige oder Blätter dem Heiland körperlich zugehörig, sind - wie Paulus später in seinem Brief an die Gemeinde in Rom betonen wird - Teile seines Leibs, des Weinstocks:

„Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als Einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören.“ (Röm 12,4-5)

Nur indem sich die Jünger ontologisch auf Christus als Weinstock ausrichten, ihre Zugehörigkeit zum Leib des Herrn durch Frucht, wohlschmeckende Trauben, beglaubigen, bewahren sie ihre Zugehörigkeit zum Leib des Herrn. Diese Orientierung auf die Frucht wird durch die Darstellung Gottes als Winzer verstärkt: Nicht nur entfernt er die verwelkten, verdorrten oder schlechten Ertrag versprechenden Reben, sondern übernimmt auch die zur Veredlung der Reben notwendige Pfropfung und bewahrt sie vor Kälte oder Unwetter. Der Kultus ist auf diese Weise im Besten Sinne Agrikultur – ein Doppelsinn, der bereits im lateinischen Ursprungswort „colere“ präsent ist. Imitatio Christi heißt sich durch Ausrichtung kultivieren; das Risiko auf sich nehmen, durch eine Umwendung des Blicks auf den Anderen ein Anderer zu werden.

Gleichwohl dürfen wir auch die in diesen Zeilen aufscheinende Aussicht auf das Jüngste Gericht nicht unterschlagen. Das Schicksal der verdorrten Reben, die gesammelt und verbrannt werden, erinnert an eine berühmt-berüchtigte Passage aus der Apokalypse des Johannes:

„Dann sah ich einen großen weißen Thron und den, der auf ihm saß; vor seinem Anblick flohen Erde und Himmel und es gab keinen Platz mehr für sie. Ich sah die Toten vor dem Thron stehen, die Großen und die Kleinen. Und Bücher wurden aufgeschlagen; und ein anderes Buch, das Buch des Lebens, wurde geöffnet. Die Toten wurden gerichtet, nach dem, was in den Büchern aufgeschrieben war, nach ihren Taten. Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren; und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren. Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Taten. Der Tod und die Unterwelt aber wurden in den Feuersee geworfen. Das ist der zweite Tod: der Feuersee. Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet war, wurde in den Feuersee geworfen.“ (Offb 20,11-15)

Nur diejenigen Reben, die sich am Weinstock ausrichten und entsprechende Frucht hervorbringen, können auf ewiges Heil hoffen. Ein „Glaube ohne Werke“ (Jak 2,26) ist tot: Ontologie muss in Ethik umschlagen. Einzig Selbstbildung kann dem Einzelnen das Heil sichern und ein Ende im Feuersee der Gottferne verhindern.

III.

Wenn wir das von Jesus entworfene landwirtschaftliche Szenario im Kontext des gestrigen Gedenkens an Joseph den Arbeiter ernsthaft bedenken, müssen wird diese Forderung nach Kultur auch ganz materiell verstehen: Nur eine Wirtschaftsweise, die auf das Gute, auf eine Veredelung des Menschen ausgelegt ist, kann das Heil für alle sichern. Der häufig als ,Vater der katholischen Soziallehre‘ angerufene Papst Leo XIII. hielt diese gegen die „verderblichen Wirkungen“ dieses „Geist[es] der Neuerung“ gerichtete Erkenntnis bereits Ende des 19. Jahrhunderts in seiner bis heute viel gelesenen Enzyklika Rerum novarum (1891) fest:

„Die Beihilfe also, welche von den Staatslenkern erwartet werden muß, besteht zunächst in einer derartigen allgemeinen Einrichtung der Gesetzgebung und Verwaltung, daß daraus von selbst das Wohlergehen der Gemeinschaft wie der einzelnen empor blüht. Hier liegt die Aufgabe einer einsichtigen Regierung, die wahre Pflicht jeder weisen Staatsleitung. Was aber im Staate vor allem Glück und Friede verbürgt, das ist Ordnung, Zucht und Sitte, ein wohlgeordnetes Familienleben, Heilighaltung von Religion und Recht, mäßige Auflage und gleiche Verteilung der Lasten, Betriebsamkeit in Gewerbe und Handel, günstiger Stand des Ackerbaues und anderes ähnliche. Je umsichtiger alle diese Hebel benützt und gehandhabt werden, desto gesicherter ist die Wohlfahrt der Glieder des Staates.“

Nur durch eine die Reben nicht ihrem Weinstock entfremdende Kultur, die die Arbeiterin, den Arbeiter nicht zu einer Sache erniedrigt, kann Heil hervorbringen. Erst eine aktive Ausrichtung menschlicher Organisation auf die Verwirklichung des Guten ermöglicht dem Einzelnen das Gute in Gänze zu verwirklichen.

Zuletzt gilt mein besonderer Dank wieder denjenigen Mitgliedern, die diesen Newsletter nun seit knapp einem Monat finanziell mit Scherflein, Gabe oder Geschenk unterstützen, sowie allen interessierten Leserinnen und Lesern oder Kommentatorinnen und Kommentatoren auf Twitter.

Herzlichst

Louis Berger

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