Das Problem mit performativer Nettigkeit
Wir müssen über Nice Guys und Genres reden.
Das Problem mit Nice Guys
Seit Start dieses Newsletters liegt es mir auf der Zunge, oder eher in den Fingern: das Phänomen “Nice Guy”. Das beschreibt einen Mann (in der Regel cis (Opens in a new window)und heterosexuell), der sich selbst als nett bezeichnet (was ja soweit harmlos und in Ordnung ist), sich aber gleichzeitig beschwert, dass Frauen nur “bad boys” wollten, in der Folge also nicht ihn. Diese Prämisse ist schonmal absurd.
Nett sein wird bei Nice Guys mit dem Anspruch verbunden, gedatet zu werden. Das entmenschlicht nicht nur Frauen, die in diesem Szenario nur noch Ziel sind. Darüber hinaus pervertiert es nett sein, denn das passiert hier nur, um einen Zweck zu erfüllen. Nicht des nett seins wegen. Die Worte und Taten, die Nice Guys als nett darstellen, sind in Wirklichkeit das absolute bare minimum an einfühlsamer Menschlichkeit. Wenn überhaupt.
Das Tragische daran ist der Selbstbetrug. Denn Nice Guys sind davon überzeugt, dass sie nett sind im Vergleich zu anderen Männern. Als Ursache habe ich Popkultur im Verdacht. Wir alle kennen Filme, in denen der nette Typ das Mädchen erst nicht kriegt und sie nach 90 Minuten doch erkennt, wie nett er ist. Sowas passiert nicht im echten Leben. Das ist fake, konstruiert und reduziert menschliche Interaktion auf binäre Stereotypen, um einen realitätsfernen Plot zu dramatisieren.
Das perfekte Beispiel ist jede Folge Big Bang Theory (Opens in a new window). Es gibt Unmengen Videos, in denen die Charaktere aufgeschlüsselt werden. Wie ihre Nerdigkeit Projektionsfläche für Mobbing (Opens in a new window)ist und sie gleichzeitig höchst misogyn (Opens in a new window)sind.
Nun liegt es in der Natur des Patriarchats, und Nice Guys sind sowohl Produkt als auch Symptom dessen, dass es Männern ebenso schadet wie allen anderen. Denn wer von Nice Guys spricht, impliziert die undifferenzierte Annahme, dass sich Männer nur in nett und nicht nett unterteilen ließen. Sowohl die Selbstbezeichnung als auch die Kategorisierung anderer führt dazu, dass Verhalten reguliert, Erwartungen angepasst und letztendlich Gefühle verletzt werden. Oder anders: Wer so limitiert und binär denkt, limitiert am Ende vor allem sich selbst.
“Nett” sein als Performance
Die Charakteristik “nett” selbst ist so vielseitig und ambig, dass es mir schleierhaft ist, wie man sie zu seinem einzigen Persönlichkeitsmerkmal machen kann und daraus ableitet, dass andere einem etwas schulden. Die Gleichung “nett = Zugang oder Akzeptanz” geht nicht auf. Das bringt mich zu einem anderen wichtigen Punkt:
Niemand schuldet dir etwas. Kein Lächeln auf der Straße, keine Erklärung, keine Reaktion. Wenig macht mich wütender als Männer, die ein Kompliment gegeben haben, aber wütend werden, wenn die Frau daraufhin nicht ihre Telefonnummer hergeben möchte. CLEARLY diente das Kompliment nur einem Zweck, war ein Akt und nicht ehrlich. CLEARLY schuldet dir niemand etwas, egal wie nett du bist oder wer du bist. Höflichkeit und respektvoller Umgang sind die Baseline, keine Werkzeuge.
Das Anspruchsdenken stört mich noch auf einer ganz anderen Ebene. Woher kommt die Einstellung, dass die Welt einem dient? Woher kommt diese Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit, mit der manche Menschen durch die Welt gehen? Eine Variation davon ist der “main character (Opens in a new window)”. Das ist ein Phänomen auf Tiktok und Co., in dem sich Menschen als main character, also Protagonist:in ihres Lebens inszenieren. Hier lässt sich wunderbar der schmale Grat zwischen empowerment und entitlement erkennen, auf Tiktok mit den Begriffen “main character energy” und “main character syndrome” verdeutlicht. (I’m sorry, ich kann nicht permanent Begriffe übersetzen, die ich nur auf englisch verwende, ich weiß, das ist exkludierend, aber Google ist auch für dich da ❤️).
Werbeblock: Let’s Play, Festival-Vortrag und neuer Podcast
Vollkommen unerwartet — auch für mich — habe ich mein erstes Let’s Play aufgenommen. Hier sind 38 Minuten Sticky Business mit mir:
https://www.youtube.com/watch?v=lfC99L6l0dI (Opens in a new window)Über etwas ganz anderes habe ich diesen Monat beim PLAY Festival (Opens in a new window)gesprochen. In meinem Talk ging es um Gothic, wie Spiele diesen aufgeladenen Begriff umsetzen und daraus mehr machen als eine Ästhetik. Zusammen mit allen anderen Bühnengeschehnissen ist dieser Vortrag kurz nach Stunde 2 im VoD auf oddninas Twitch-Kanal nachzusehen.
https://www.twitch.tv/videos/1968394275 (Opens in a new window)Auch in Sachen Podcasts ist einiges passiert. Daniel und ich haben zwar schon vor einer Ewigkeit über Barbie gesprochen, aber erst jetzt ist die Aufnahme hier veröffentlicht.
https://steadyhq.com/de/chrissikills/posts/853e7611-d28b-48bb-bc66-30e59a26e414 (Opens in a new window)Für mehr Bonuscontent, abonniert gerne das Bonus-Paket. Aktuell sind mehrere Texte und kleine Videos und Podcasts in der Pipeline: zum Beispiel ein Reiseführer für Final Fantasy 12 (sobald ich das Ton-Problem in den Griff bekommen habe).
Es gibt so viele Genres, dass es keine Genre mehr gibt
Was mich dieser Tage auch belastet, ist der Genrebegriff. In der Uni haben wir gelernt, dass Genres Texte (sei es Bücher, Spiele, Musik…) anhand ihrer Konventionen klassifizieren. Es sind Schubladen, in die wir etwas stecken, um es leichter zu verstehen. Es ist ein abstraktes Konzept — es hat sich also jemand irgendwann ausgedacht und sich Regeln dafür überlegt. Die erste Erkenntnis ist also, dass das alles nur Worte sind, die wir selbst mit Bedeutung füllen. Dieses Diskutieren über Bedeutungen und Perspektiven ist schon Teil des Diskurs.
In Zeiten, wo die Überschreitung von Genres und das Aufbrechen von Grenzen für hohe Verkaufszahlen sorgen und quasi omnipräsent sind, sind Genres nur noch willkürliche Linien auf der Straße, die links und rechts überfahren werden. Wie die Linien auf Autobahn-Baustellen: Es gibt die alten, weißen Linien und darüber die gelben Linien. Die zweite Erkenntnis: Genres existieren nicht außerhalb politischer, soziokultureller Räume. Das bedeutet, sie verändern sich. Müssen sie, wenn sich auch das Medium entwickelt. Das bedeutet nicht, dass ältere Begriffe obsolet werden. Sie existieren parallel. Sich die Entwicklung von Genres anzusehen und sich damit die Geschichte des Mediums zu erschließen, kann produktiv sein.
Aktuell spiele ich Alan Wake 2 und könnte beim besten Willen nicht sagen, in welches Genre dieses Spiel gehört. Third Person Shooter? Detective Story? Horrorspiel? Thriller? Survival Horror? Adventure? Action? Sucht man das Spiel im Internet, findet man all diese Antworten.
Das nächste Problem eines Genres ist nämlich: Woran macht man es fest?
An der Mechanik? Dem Gameplay, der Erzählsituation? In diesem Fall ist Alan Wake 2 eindeutig ein Third Person Shooter. Das sind Uncharted und Fortnite auch. Nimmt man also Survival Horror und ignoriert, dass Alan Wake 2 kein Ressourcenmanagement hat? Wie flexibel sind Genres?
Am Inhalt? Ist das Spiel gruselig, romantisch, mysteriös, komisch? In Alan Wake 2 geht um eine Mordserie und Traumwelten. Ist es also ein Krimi? Das ist L.A. Noire auch.
An ästhetischen Effekten? Dann wäre Alan Wake 2 vermutlich ein Horrorspiel. Das sind Mundaun, Visage und Little Nightmares auch und keines davon hat wirklich viel mit Alan Wake 2 gemein.
Es wird deutlich, dass sich Genres überschneiden und dass Kategorisierungen nicht immer eindeutig sind. Kein Wunder, bei einem so fluktuierendem Medium. Die naheliegende Lösung dieses Problems wären engere Grenzen und hyperspezifische Genre. Die grundlegende Frage ist jedoch: Wozu brauche ich einen Genrebegriff? In welchen Kontexten benutze ich ihn? Eigentlich soll er dazu dienen die Verständigung zu erleichtern. Wenn der Begriff selbst aber zu schwammig oder unbekannt ist, ist dieses Ziel klar verfehlt. Ich würde fast noch weitergehen und behaupten, dass die Vielzahl (Opens in a new window)an Genres, insbesondere im Gamingbereich, Gatekeeping ist.
In dieser Episode des Superlevel Podcasts haben Daniel und ich am Beispiel von Soulslikes über das Phänomen “Genre” in der Videospiellandschaft gesprochen und versucht eine differenzierte Antwort zu finden. Ich bin mittlerweile dafür, sich von Genres zu lösen. Wir sind über den Punkt hinaus, wo das alles Sinn ergibt.
https://superlevel.letscast.fm/episode/dark-souls-erschuf-ein-genre-in-das-niemand-gehoeren-will (Opens in a new window)Das Für und Wider pseudointellektueller Worte
Das Begriffsproblem kennen übrigens nicht nur Genres, sondern auch die linke Bubble. Ich sah letztens einen Post, in dem sich jemand über Begriffe wie “othering”, “what aboutism”, “FLINTA”, “intersektional” beschwerte, weil sie nicht niedrigschwellig seien und einen wichtigen Diskurs für viele unzugänglich machen würden.
Einerseits: Ja! Sprache soll verständigen und deshalb verständlich sein, uns Kommunikation ermöglichen. Die meisten Begriffe aus feministischen und gesellschaftspolitischen Diskursen musste ich googlen, als ich sie das erste Mal las oder hörte. Das ist nicht unbedingt die Definition von niedrigschwellig.
Andererseits: Fachbegriffe sind dann notwendig, wenn sie etwas sehr spezifisches beschreiben, für das es keinen anderen Begriff gibt. Etwas, das Konnotationen hat und Kontext, der mit dem Wort mittransportiert wird. Zudem dienen solche (pseudo?)intellektuellen Worte der Legitimierung des Diskurs. Solange, bis sie am anderen Ende der Skala wieder rauskommen und nur noch Hülsen sind, mit deren Gebrauch man sich schmücken kann (was meiner Meinung nach auch auf Videospielgenres zutrifft).
Aber bis dahin: jede:r darf Begriffe recherchieren, wenn sie unklar sind. Einfach mal fragen. Einfach selbst mal die Arbeit machen und sich nicht die Welt von anderen erklären lassen. Einfach mal raus aus der eigenen Bubble.
Wobei die Akademisierung wichtiger gesellschaftspolitischer Debatten ein grundsätzliches Problem ist. Zu dem ich beitrage, weil auch dieser Newsletter voller Wörter ist, die nicht jede:r sofort versteht. Das ist ein saurer Apfel, in den ich beiße, weil ich hier absolut gar keinen Anspruch habe, außer mich zu äußern.
Eine andere Perspektive ist, dass es schlicht mehrere Ebenen gibt, auf denen Debatten stattfinden. Eine davon ist akademisch geprägt.
Meme der Woche
Ich habe heute unfassbar viele Meinungen, deshalb überlasse ich diesen Teil des Newsletters Mina Le:
https://www.youtube.com/watch?v=OMnfI8xkJ1s (Opens in a new window)I’m in this video and I don’t like it.
Danke
Dank an Dich für’s Lesen meines Mini-Newsletters. Meinungsäußerungen nehme ich wie immer über Discord oder andere Plattformen (@chrissikills), Ko-fi (Opens in a new window) oder NEU: unter meinen Youtube-Videos entgegen.
Das Titelbild ist von shark ovski (Opens in a new window) auf Unsplash (Opens in a new window).
Viele Grüße und bis bald!
Christina