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Mein lieber Sven,

wenn wir im Nachhinein etwas in unserem Leben ändern könnten, was uns gequält, uns an den Rand unserer Belastbarkeit geführt oder uns Steine von sisyphosesken Ausmaßen in den Weg gelegt hat – würden wir es tun?

Ich habe gestern einen Film gesehen, der diese Frage in ein besonderes Licht rückt. Er heißt „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“, (Opens in a new window) stammt aus dem Jahr 2017 und erzählt die Geschichte von ein paar jungen Erwachsenen jüdischen Glaubens, die sich in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs in Berlin versteckt hielten, ohne zu wissen, dass es die letzten waren. Von den 7000 Jüdinnen und Juden, die sich ab 1943, dem Jahr, von dem es hieß, nun sei Berlin "judenfrei", unsichtbar zu machen versuchten, überlebten 1500 und das Magische an diesem Film ist, dass er gleichermaßen Dokumentation und Spielfilm ist: Er lässt von diesen 1500, die damals Anfang 20 waren, einige jener erzählen, die heute als Urgroßväter und Omas mit roten Brillen in Kanada oder in den USA leben. Damals haben sie Ausweise gefälscht und sich die Haare blond gefärbt, um sich als Deutsche ausgeben zu können. Sie waren ein ums andere Mal in Lebensgefahr und verloren trotzdem nie den Mut und nie den Humor. „Wir haben immer einen Grund gefunden zu ulken, und ich glaube, das war ein wichtiger Faktor um zu überleben“, sagt eine Dame im Film.

"Die Unsichtbaren" ist deshalb zum einen eine stille, poetische Aufforderung, nie zu vergessen, was für ein zerstörerischer Virus in unserer Gesellschaft nistet, das wie bei Ebola über lange Zeit unbeachtet bleiben kann, bis es in einem für ihn günstigen Moment auf ein neues Wirtstier überspringt und sich auszubreiten beginnt. Wenn ich mich im Deutschland des Jahres 2021 umsehe, habe ich das Gefühl, schon längst Zeuge einer moralische Epidemie zu sein, bei der es nicht mehr reicht, unser Bewusstsein mit Schutzmasken auszustatten. Wir müssen vielmehr aktiv daran mitwirken, die epidemische Weltverachtung wieder einzudämmen, die von Menschen ausgeht, die von „gesundem Menschenverstand“ sprechen und damit oft nur ihren eigenen ungesunden Gemütszustand zu verschleiern versuchen.

Zum anderen ist der Film eine Erinnerung daran, dass aus allem Schlechten auch immer etwas Gutes erwachsen kann, solange man sich jeden Morgen aufs Neue entscheidet, auch dann noch zu ulken, wenn es eigentlich nichts mehr zu ulken gibt, und so lange weiterzumachen, bis man den Sinn findet im Unglück, das man gerade durchlebt, und sich im Weiterleben Unglück in Glück verwandelt.

Ich habe mir den Vortrag angehört, den Du in Deinem letzten Brief empfohlen hast, und ich danke Dir sehr dafür. Denn für mich steckt darin die Botschaft, für sich wie für andere erlebbar zu machen, wie man es schafft, ein Leid anzunehmen, die Dämonen, die davon ausgehen, kennenzulernen und zu Freunden zu machen, und es so zu überwinden. Und deshalb ist die Antwort ja auch klar auf die Frage, mit der dieser Brief begonnen hat: natürlich nicht. Würden wir im Nachhinein ändern, was uns hat leiden lassen, würden wir uns die Freude verbauen, die das Leiden erst möglich gemacht hat.

„Wer schön sein will, muss leiden“ heißt es in einem Sprichwort. Das ist natürlich Bullshit. Richtig muss es lauten: „Wer fröhlich sein will, muss Leid aushalten.“ Ich glaube, hat man das einmal verinnerlicht – nicht nur rational begriffen, sondern auch emotional angenommen –, hat man vom Leben die wichtigste Lektion begriffen. Doch die Weltverächter tun so, als könnte man das Leid von sich fern halten, indem man Andere dafür verantwortlich macht, und sie versprechen, alles würde besser, wenn man die dafür bestraft. Am Ende landen dann Millionen von Menschen in Gaskammern und das Leid ist – potzblitz – nicht nur noch immer nicht verschwunden, es ist nur noch größer geworden. Heute spielt sich die Verachtung subtiler ab, aber dafür nicht weniger monströs: Wir lassen Menschen nicht mehr ersticken, sondern ertrinken.

Seit ich den von Dir empfohlenen Vortrag gehört habe, zähle ich die Sekunden, bis ich Dir meine Antwort darauf schicken kann. Andrew Stanton, einer der Erfinder von Pixar, der Zaubermaschine, die uns so wunderbare Filme wie „Alles steht Kopf“ und „Findet Nemo“ beschert hat, hat vor knapp zehn Jahren in einem TED-Talk erzählt, was für ihn eine Geschichte ausmacht, was ihn und ein paar andere junge Wilde einst dazu bewogen hat, dem Kitsch von Walt Disney etwas Wahrhaftes und Ehrliches entgegenzusetzen, und warum „Findet Nemo“ in Wahrheit nicht das Abenteuer von ein paar Clown-Fischen, Meeresschildkröten und Haien erzählt, sondern seine eigene Lebensgeschichte. Ich habe das, was Stanton in diesen knapp 20 Minuten erzählt, immer bei mir, gerade weil es mich auch dann bei der Stange hält, wenn ein akuter Schmerz zu groß zu werden droht. Und um keine Zeit zu verschwenden, beende ich diesen Brief, damit Du sofort mit dem Gucken anfangen kannst:

https://www.youtube.com/watch?v=KxDwieKpawg (Opens in a new window)

Wobei, eins noch: Der zweite abendfüllende Film von Pixar war „Das große Krabbeln“. Er kam 1999 in die deutschen Kinos und ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie ich nach dessen Ende sitzen blieb und mir den ganzen Abspann ansah, weil ich so verzaubert war von dem Abenteuer eines Ameisenvolkes (Ameisen, Sven, Ameisen!), das es schafft, mit Mut, Humor und Liebe die Heuschrecken zu besiegen, die ein Schreckensregime errichtet hatten, das aus nichts als Angst bestand, die in in dem Moment in sich zusammenfiel, als den Ameisen klar wurde, das sie in der Überzahl waren. Dass ich den Abend nicht mehr vergessen habe, liegt auch daran, dass der Abspann plötzlich unterbrochen wurde und mich Tränen lachen ließ, was darauf folgte. Ich bin jetzt ein bisschen neidisch. Denn diesen Clip würde ich auch gern nochmal zum ersten Mal sehen. (Opens in a new window)

Und damit: auf das Leiden, Sven, das das Leben erst reich und füllig macht,
Kai

https://www.youtube.com/watch?v=uh-aL6FCvMY (Opens in a new window)

(The Thorns – Among The Living)

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