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Lieber Kai,

Danke für den Input. Ich stimme grundsätzlich den Gedanken von Rolf Dobelli zu, gerade der Punkt, ohne News glücklicher leben zu können. Eigentlich wird es für mich auch mal Zeit für einen richtigen Entzug, das heiße meine tägliche News-Ration mal komplett auszuschalten. Keine Gast-Kommentare mehr lesen, keinen Feuilleton, keine Kolumnen mehr von den Denkern und Denkerinnen unserer Zeit, keine seitenlangen Reportagen oder Analysen. Ach ja, und keine Meinungspodcasts.

Ich denke wir haben alle solche alltäglichen Anlaufstellen, die wir in unsere Routinen eingebaut haben: Seien es Nachrichten, Instagramaccounts, Aktienkurse, Podcasts, es hat alles einen gleichen Kern.
Ich habe das Gefühl, dass wir uns alle selber immer mehr dazu konditionieren, möglichst viel Zeit mit irgendeiner Art von Wissens- oder Meinungskonsum zu verbringen und möglichst wenig Zeit "ungenutzt" zu lassen. Allein auf meinem Telefon habe ich ungefähr zwanzig Stunden Podcast Material heruntergeladen, die ich demnächst noch hören möchte. Abarbeiten könnte man auch sagen.
Und ja, das sind alles Podcasts mit interessanten Themen, sogar unterhaltend. Das will ich nicht in Abrede stellen. Dennoch merke ich eine gewisse Not meinerseits, einen gewissen Drang, Leerstellen meiner Zeit mit eben diesem Wissenkonsum zu füllen. 

Erinnerst du dich noch an meinen Brief im Sommer und das Konzept von ma (Opens in a new window)? Ma scheint für mich gerade wieder bitter nötig zu sein. Denn wenn wir unseren Geist nur damit beschäftigen, Informationen aufzunehmen, wo bleibt dann der Platz für den Kopf, selber eigene Gedanken, Wünschen, Ideen zu produzieren? 

Ich habe auch dazu eine interessante SRF Sternstunde gefunden, nämlich mit Sophie Passmann (Opens in a new window). Du wirst es ja wahrscheinlich schon kennen. Darin beschreibt sie, wie auch in ihrem aktuellen Buch, wie stark unser Handeln davon bestimmt wird, wie es nach außen hin wirkt und weniger, was wir wirklich für uns selber gerade brauchen. Lebenshandlungen als Performance. Ich kann dem zustimmen, halte es aber nicht für ein neues Phänomen. 

Es gibt da eine rund einstündige Rede von Drehbuchautor Charly Kaufman (Being John Malkovic, Eternal Sunshine of a Spotless Mind) bei der British Academy for Film and Televis (Opens in a new window)ion (Opens in a new window) (kurz: BAFTA) von 2012. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir von diesem schon einmal erzählt habe. Ich hole diesen immer wieder gerne hervor, erzähle Leuten davon, es ist für mich ein kleiner Schatz, der mich seit Jahren begleitet und immer mal wieder hervorkommt.
In dieser Rede geht es eigentlich um das Thema Drehbuch und Kreatives Schreiben, es beinhaltet aber auch allgemeine Beobachtungen zu unserem derzeitigen Menschsein. 

Er befasst sich u.a. mit dem Einfluss des Konsums (hier eher auf die Unterhaltungsindustrie gemünzt) und den damit verbundenen Vorstellungen, dass wir uns in der heutigen Konsumgesellschaft immer stets neu vermarkten müssen, uns selbst auf diesem Weg aber selbst verlieren. 

It’s all become marketing and we want to win because we’re lonely and  empty and scared and we’re led to believe winning will change all that.  But there is no winning. What can be done?

Was 2012 schon stimmte, scheint für mich auch heute noch gültig zu sein. In seiner Rede führt er anhand eines Zitats vor, dass diese Tendenzen bereits 1945 bestanden. 

Was ist also sein Ausweg? 

Say who you are, really say it in your life and in your work. Tell someone out there who is lost, someone not yet born, someone who won’t  be born for 500 years. Your writing will be a record of your time. It  can’t help but be that. But more importantly, if you’re honest about who  you are, you’ll help that person be less lonely in their world because  that person will recognise him or herself in you and that will give them  hope. 

Auch wenn Charly Kaufman das hier aufs kreative Schreiben bezieht, glaube ich, haben wir alle Einfluss darauf, in unserem alltäglichen Leben dafür zu sorgen, diese Art von ehrlichem, nackten Umgang miteinander zu fördern und zu fordern. Das ist gut ist, auch mal "Ich weiß nicht" zu sagen, als zu versuchen sich aus dieser vermeintlichen Schwäche herauszureden.
Es ist nicht einfach und sicherlich nichts, was von heute auf morgen passiert. Aber auch ein kleiner Schritt kann schon eine Menge bedeuten. 

Was Charly Kaufman hier sieht ist, dass wir uns alle sonst in eine besondere Ameisenart verwandeln: Die sogenannten Ophiocordyceps unilateralis (Opens in a new window) - eine Pilzart, die sich in die Köpfe von Ameisen einnistet. Die Ameisen werden daraufhin von ihrer Kolonie weggeleitet, zu einem optimalen Entfaltungsort für den Pilz. Langsam wird die Ameise von innen aufgefressen. Der Kadaver dient dafür als Schutzraum und Brutstätte des Pilzes und macht sich bereit auf neue Ameisen herabzufallen. Ein nicht endender Kreislauf, außer eine Ameise schafft es, diesen Kreis zu durchbrechen.

Ganz so schlimm ist es glaube ich nicht. Dennoch will ich gerne selber auch aktiv daran arbeiten, keine Zombie Ameise zu werden. Anstatt weiter alles aufzusagen, was andere Personen oder Institutionen denken oder schreiben, glaube ich, dass es uns allen gut tun würde, sich selbst mehr damit auseinander zu setzen, was (und zu welchem Thema) wir selber gerade denken, fühlen oder ausdrücken wollen.
Ich glaube es wäre mal nötig eher diesen Impulsen zu folgen, als eben denen, die uns der instagram Algorithmus, das Werbeplakat an der Bushaltestelle oder die Tageszeitung als Wichtigkeit verkaufen will. Das ist dann nicht immer klug, das ist dann nicht immer zitierwürdig, aber es ist ehrlich und es ist menschlich.

Heißt das, ich fange jetzt mit dem großen Entzug an, weg von Nachrichten, Trivia, all that noise? Ich denke, ich brauch noch ein paar Wochen. Auch wenn Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden und die CDU sich schneller zerstört hat, als eine Butterkekspackung im Rucksack zerbröselt, bleiben die kommenden Wochen politisch hochspannend. Ein paar Wochen werde ich meinen Polithunger noch stillen und dann wieder ein bisschen mehr für Leere sorgen. Diese Leere füllt sich nämlich gewiss ganz von selbst.

Übrigens: Charly Kaufman hat letztes Jahr seinen ersten Roman veröffentlicht. Der Titel: "Antkind.", zu deutsch:  Ameisig.
In diesem Sinne wünsche ich dir einen schönen Sonntag. 

Liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=HyILwv1KBT4 (Opens in a new window)

(Baxter Dury - Miami)

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