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Weibliche Wüteriche, bitte!

Wütende Frauen? In Filmen und Serien werden wütende Frauen vor allem als eines dargestellt: irrational, weinend, “hysterisch”. Warum ist das so, dass Wut bei Frauen defensiv dargestellt wird? Wie gehen Frauen wirklich mit Wut um? Wie sollten sie? Und was kann Wut?

Von Tina Steiger

Ist ein Mann wütend, wird er als polternd, tobend und einschüchternd dargestellt. Einer der auf den Tisch haut. Ein Mann, der vor Wut leise weinend in der Ecke steht? Ist eher nicht das Bild, das wir uns vorstellen. Bei Frauen ist das ganz anders. Wütende Frauen brechen in der üblichen Darstellung in Tränen aus, schluchzen unverständlich, denken dem Anschein nach nicht mehr logisch und ziehen sich angefasst zurück. Die einen richten ihre Wut zielgerichtet nach außen. Die anderen verwirrt nach innen. Weil sie das wollen? Nein, weil sie es müssen.

Unterdrückte Wut macht (Frauen) krank

Dr. Gabor Maté, der in Ungarn geborene, kanadische Mediziner und Autor (U.a. Vom Mythos des Normalen Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung - New York Times und Spiegel Bestseller), weist in einem seiner Vorträge daraufhin, wie Frauen sozusagen als Schock-Absorber in unserer Gesellschaft dienen. Darin liegt der Grund, dass Frauen um ein Vielfaches mehr mit Autoimmunerkrankungen diagnostiziert werden, als Männer. Frauen werden gesellschaftlich dazu angehalten, ihre Wut zu unterdrücken. In der westlichen Welt wurde Frauen früh beigebracht, dass für den Ausdruck ihrer Emotionen kein Platz vorgesehen ist. Werden Männer wütend, gestehen wir ihnen zu, diese Wut in Aktion umzusetzen. Wütende Männer schreiten zur Tat, wütende Männer packen Probleme an oder “suchen die Konfrontation”. Sie ziehen sprichwörtlich in den Krieg. Wütende Frauen kommen in der Geschichte so gut wie nicht vor. Wütende, loslaufende Frauen – diese Bilder kennt man überwiegend aus den Geschichtszeugnissen anderer Kulturen, doch hier bei uns erscheinen Frauen stets zurückhaltend, demütig und aufopfernd in der Darstellung.

Verbrennungen und Verordnungen

Frauen, die das nicht wollen, gab es schon immer. Im 16. Jahrhundert landeten diese Frauen mit eigenen Meinungen, Leben und Stimmen in der Verfolgung des Klerus. Später erfand die Wissenschaft für sich wehrende, wütende widersprechende Frauen Krankheiten wie “Hysterie”. Damit sollten Frauen nicht nur im Wortsinn in Kliniken, Sanatorien und mit Medikamenten stillgestellt werden, sondern die Einordnung als psychisch krank sorgte auch dafür, dass das Wort wütender Frauen kein Gehör finden sollte.

Hysterie geht auf “hystera” aus dem Griechischen für Gebärmutter zurück. Im 19. Jahrhundert wurden Frauen mit Symptomen wie Angst, Depression, Schlaflosigkeit und körperlichen Beschwerden mit Hysterie diagnostiziert. Insbesondere Sigmund Freud trug maßgeblich dazu bei, dass der Begriff weit verbreitet war. Immerhin wies er schon damals daraufhin, dass unterdrückte Emotionen der Hysterie zugrunde lagen.

Im 20. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel, der Begriff Hysterie wurde zunehmend als stigmatisierend angesehen. Heute wird Hysterie nicht mehr als eigenständige Diagnose verwendet; stattdessen werden die Symptome oft im Rahmen von Angststörungen, somatoformen Störungen oder anderen psychischen Erkrankungen betrachtet. Heute lautet die Diagnose für Frauen und Menschen, die Unterdrückung, Hass und Ausgrenzung ausgesetzt sind, in der Regel, weil sie Minderheiten angehören oder am Rand der Gesellschaft stehen, Borderline.

Stigmatisierte Frauen und das Patriarchat

Noch immer handelt es sich dabei um nichts anderes, als ein Stigma, das in den allermeisten Fällen Frauen zuteil wird. Das sagt Dr. Jessica Taylor, Autorin des Sunday Times Bestsellers “Sexy But Psycho: How the Patriarchy Uses Women’s Trauma Against Them” (Zu deutsch: Sexy, aber psycho. Wie das Patriarchat das Trauma von Frauen gegen sie verwendet.) Dr. Taylor ist Psychologin und Dozentin der Forensik und Kriminalpsychologie. Sie sagt, wütende, meinungsstarke, laute, aggressive Frauen werden als hysterisch, verrückt, gestört, psycho, boderline oder hormongesteuert gelabelt. Sie seien lange pathologisiert, weggesperrt und mit Medikamenten ruhig gestellt worden, nur weil sie ihre Meinung sagten und weil sie sich sozialen Normen und geschlechtsspezifischen Stereotypen nicht unterordnen wollten. Dr. Taylors Buch zeigt, wie Fachärzte und die Gesellschaft insgesamt Frauen pathologisiert und sexualisiert, anstatt sie als eigenständig denkende Individuen anzuerkennen. Ihr Buch begründet die Expertin auf Daten-Anlayse, der Recherche echter Fälle und einer jüngeren Datenlage und sie stellt darin die Frage, warum Frauen dafür als krank diagnostiziert werden, wenn sie wütend werden und eine klare Meinung zu Missbrauch und Unterdrückung haben. So viele Frauen seien in den Glauben diagnostiziert worden, mentally ill zu sein, dabei zeigten sie normale und natürliche Reaktionen für Situationen und Missbrauchsszenarien, die sie selbst erlebt haben.

Das Buch argumentiert, dass hinter der Patholigisierung als gestört, verrückt, Borderline etc. vor allem ein Zweck steckt: Die Gesellschaft vermeidet damit, sich mit Gewalt gegen Frauen und den Jahrzehnten ignorierten, weiblichen Traumas auseinandersetzen zu müssen. (“Sexy But Psycho argues that there is a specific purpose to convincing women and girls that they are mentally ill, as the world avoids addressing violence against women and their centuries of ignored trauma.as the world avoids addressing violence against women and their centuries of ignored trauma.”)

Frauenrechte – ein Grund “verrückt zu reagieren

Im 19. Jahrhundert durften Frauen weder wählen, noch arbeiten ohne Zustimmung ihres Mannes. Ein Konto eröffnen, eigenes Geld besitzen, Auto fahren, sich vor sexueller Gewalt oder Schlägen schützen, die eigenen Kinder schützen – undenkbar. Noch 1997 stand zur Debatte, ob Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland weiterhin straffrei sein soll. Frauen verdienen bis heute weniger, müssen mehr leisten für weniger Honorar und Honorierung. Sie arbeiten in Jobs, leisten Familienarbeit und werden dennoch als der weniger tragende Part in der Ehe angesehen, wenn es um die finanzielle Gewichtung der Ehepartner geht. Erleben Frauen Gewalt, wird ihnen nicht geglaubt und sogar unterstellt, sie hätten ein heimliches Motiv, Männer Taten zu beschuldigen. Habgier, Ruhm. Im Zweifel ist sie vor allem eines: verrückt.

Wütende Frauen werden geframed. Und wütende Frauen werden krank, wenn sie ihre Wut unterdrücken. Unterdrückte Wut kann zu ganz unterschiedlichen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit führen, bis hin zu potentiellen Autoimmunfolgen. Bei Frauen führt das häufig zu Diagnosen von tatsächlichen Autoimmunerkrankungen. Chronische Wut und Stress können Entzündungsprozesse im Körper fördern, was wiederum beispielsweise das Risiko für Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, Lupus oder Hashimoto-Thyreoiditis erhöhen kann.

Frauen leisten den Löwinnenanteil

Frauen leisten noch immer einen Großteil der Care-Arbeit in Familien, zuzüglich zu Hausarbeit und regulären Jobs. Mental Load, also die mentale Verantwortung innerhalb einer Familie liegt in der Regel auch überwiegend bis allein auf Seiten der Frauen. Das reicht vom Wissen um die nächste Schuhgröße der Kinder, den nächsten Arzttermin, Kindergeburtstag, bis hin zur Kenntnis, wann welcher Elternabend ansteht, ob der Lieblingspulli in der Wäsche ist, was der Opa zum Geburtstag bekommt, was eingekauft werden muss fürs Dinner mit Freunden oder ob die Matschhose und Gummistiefel in der Kita inzwischen zu klein werden. Als wäre das alles nicht genug, leistet ein Großteil von Frauen emotionale Arbeit für Männer mit. Während Männer gerne (Probleme tot-)schweigen, reden Frauen, wirken ausgleichend, spüren “dicke Luft” und schaffen sogleich den Ausgleich, damit sich alle wohlfühlen. Frauen tun das nicht, weil es ihnen biologisch mehr entspricht, sondern weil soziale Normen sie seit Jahrhunderten dazu anhalten und glauben machen, das sei ihr Job. Brechen Frauen daraus aus, geht das mit Ausgrenzung, Beschämen, Stigmatisierung und Pathologisierung einher.

Wut ist dein Bodyguard, der sagt, was du nicht verdient hast

Wutgefühle sind Selbstschutz. Wer Wut spürt, sollte sie (konstruktiv) ausleben. Grenzen setzen, stopp sagen, sich sprichwörtlich Erwartungen widersetzen. Meist ist das vor allem ungewohnt und unbequem für alle und neu die Frauen selbst. Wut darf als der Part in uns angesehen werden, der weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wer lernt, auf diese innere Stimme zu hören, wird besser darin, hinzufühlen, ob etwas sich gut anfühlt oder wütend macht. Tut es das, sollte man genau das zeitnah sagen. Nicht passiv-aggressiv zum Ausdruck bringen, nicht warten, bis das Wutfass überläuft, sondern frühzeitig und genau dann, wenn die innere Stimme sich zum ersten Mal meldet. Nein sagen muss so schwer nicht sein. Oft sind die Erwartungen, was andere zum eigenen Nein sagen, größer als die tatsächlichen Reaktionen im Umfeld. Vielleicht wird diskutiert, vielleicht sind Enttäuschungen damit verbunden, doch jedes Nein wirkt wie eine kleine, neu gestellte Stellschraube im System, die dafür sorgt, dass sich Dinge neu und gesünder ausrichten. Und wenn es nicht mehr gesund wird? Dann sollte Wut in Aktion umgewandelt werden. Den Job, die Partnerschaft, die Freundschaft verlassen, die nur oder so oft wütend machen, ohne dass der Gegenpart zu einer Lösung bereit ist. Wut staut sich sonst auf und richtet sich sprichwörtlich nach innen.

Wut kann Wandel

Wütende Frauen werden die Welt verändern ist ein aktueller Slogan der feministischen Bewegung. Nie waren Frauen in den vergangenen 50 Jahren weltweit so unterdrückt wie heute. Und nie waren Frauenrechte so in Gefahr, von maskulistischen Regierungen und Bewegungen massiv eingeschränkt und wieder zurückgedrängt zu werden.

Jede Fraue, die sich wehrt, widersetzt, Diagnosen ablehnt, Fragen stellt, für andere Frauen einsteht, sich solidarisiert und sich nicht das Wort nehmen lässt, leistet aktiv Widerstand und ist Teil einer Bewegung, die wütenden Frauen den Weg zum gesellschaftlichen Wandel öffnet.

Topic Freiheit kreieren

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