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Die perfekte Beratung ?

Warum Frauen im Hilfesystem oft nicht das bekommen, was sie wirklich brauchen und wie sie erkennen, dass sie sich selbst die wertvollsten Beraterinnen sind.

Von Tina Steiger

Ein Werkzeug von männlichen Tätern, die in Beziehungen Gewalt und Kontrolle ausüben, ist es, den Frauen nach und nach Selbstbestimmung, (finanzielle) Autonomie und das Bewusstsein für den eigenen Selbstwert zu nehmen. Das passiert subtil und schleichend und kommt anfangs verpackt als liebevolle Gesten, “schmeichelnde” Eifersucht oder selbstlose Hilfsangebote daher. Männer, die später zu Tätern werden, erscheinen anfangs (und oft über Monate) als romantische Prinzen und perfekte Partner. Gefährlich wird es, weil die Frauen sich schnell so sicher fühlen, dass sie schrittweise die Kontrolle über das eigene Leben in die Hände des Partners legen. Der Partner beschenkt sie mit Zeit und Aufmerksamkeit, bezahlt für sie, holt sie vom Abend mit Freundinnen ab, kümmert sich um sie. Viele Frauen erzählen, dass ihnen die Fürsorge und die damit verbundene Sorglosigkeit gut getan hat. Wenn so ein “perfekter” Partner dann einmalig zuschlägt oder verbal missbräuchlich wird, dann erleben Frauen eine Mischung aus Überraschung und dem Wunsch, dass er schnell wieder “normal” ist. Zu groß ist die kognitive Dissonanz aus der Version des idealen Partners und dem gewaltvollen Ereignis. Ist der Partner dann wieder liebevoll wie vorher, wird das Bild des eigentlich idealen Partners ein Stück weit mehr etabliert. Dieser Kreislauf wiederholt sich auf Täterseite immer wieder, bis Frauen ihrer Wahrnehmung immer weniger vertrauen können. Immer wieder passiert Gewalt, immer wieder wird die Realität abgestritten, später neu definiert. Gaslighting sorgt dafür, dass nach und nach nichts mehr eindeutig ist. Frauen lernen an der Seite von Tätern, sich selbst weniger zu vertrauen, nicht dem Partner. Der eigentlich liebevolle, aufmerksame Partner “hat vielleicht seine Gründe” für wütende Ausraster, Vorwürfe und die Streits, die er regelmäßig vom Zaun bricht, oder nicht?

Reflektierte Frauen hinterfragen sich und die Auslöser für die negativen Seiten der Beziehung und nicht immer wird ihnen direkt klar, dass und wie der Partner gezielten Missbrauch ausübt und dass er das Problem ist. Wer psychisch gesund ist und gut kommuniziert, kann die Perspektive des anderen anhören und respektieren. In einem Leben mit missbräuchlichen Partnern ist das jedoch brandgefährlich. Nach Jahren in solchen Beziehungen und einem ständigen Auf und Ab aus positiven Momenten und explosiven Dramen, sind Betroffene zermürbt und kraftlos und verlieren einen klaren Blick für die Dinge. Sie schämen sich für die Erlebnisse mit dem Partner und häufig erzählen sie Freundinnen und Familie aber nicht davon, weil der Partner “doch eigentlich ganz anders ist”.

Wenn Frauen es irgendwann doch schaffen, sich aus Beziehungen voller Abwertung, psychischem und körperlichen Missbrauch bis hin zu schwerer körperlicher Gewalt zu befreien, dann bleibt ein Schatten der klugen, lebenslustigen und selbstbewussten Frau, die sie einmal waren und sind. Was bleibt, sind Selbstzweifel und ein Selbstbild voller Schuld und den Worten des Täters, die zur eigenen Stimme im Kopf geworden ist.

Pathologisierung als Täter-Opfer-Umkehr

Selbstvertrauen nach Missbrauchsbeziehungen wiederzuerlernen ist überlebenswichtig. Doch häufig sind gewaltbetroffene Frauen nach diesen Beziehungen isoliert, haben durch den Täter Freundschaften und Unterstützung verloren. Wenn sie sich jetzt an Therapeut:innen und Stellen im Hilfesystem wenden, dann erzählen viele Frauen übereinstimmend das Gleiche: Das System infantilisiert sie und es spricht ihnen ab, selbst gute Entscheidungen treffen zu können. Schnell werden gewaltbetroffenen Frauen psychische Diagnosen gestellt, die von Borderline bis Depression reichen. Was ganz oft fehlt, ist der Mut von Beratenden, die Zusammenhänge beim Namen zu nennen. Frauen sind nicht pathologisch, wenn sie nach Gewalt die Nerven verlieren. Sie sind gesund. Eine extreme Reaktion auf extreme Erlebnisse ist eine gesunde Reaktion des menschlichen Gehirns. Gewalt durch einen Partner im vermeintlich sicheren Zuhause zählt zu den extremsten aller Erfahrungen. Frauen schulden dem System keine angepassten und gemäßigten Reaktionen, wenn sie einem Täter und der kompletten Vernichtung ihres Selbst entkommen sind. Frauen sind nicht weniger klug, weil sie Opfer wurden. Diese Sichtweise ist Täter-Opfer-Umkehr, die im Hilfesystem in Deutschland tief verwurzelt ist. Statt die Frage zu stellen, was mit ihr als Mensch – und oft auch als Mutter – nicht stimmt, weil sie Gewalt “zugelassen” hat, darf die Frage nur lauten, was mit Männern nicht stimmt, die zu Tätern werden.

Frauen mit Karrieren, mit großen Freundeskreisen, innigen Familien und positiven Lebensgeschichten werden zu Betroffenen von häuslicher Gewalt. Weil Täter Macht und Kontrolle ausüben, sie schleichend isolieren, beschuldigen und weil die Mechanismen von Tätern auf Manipulation und der Ausbeutung emphatisch-gesunder Menschen basiert.

Betroffene Frauen sind nicht weniger klug als Frauen, die nie von Gewalt betroffen waren. Sie hatten nur weniger Glück. Ein Hilfesystem, dass sie behandelt, als seien sie schwächer und anfälliger für Täter, hilft Betroffenen nicht. Es macht sie erneut zu Opfern. Was Frauen nach Gewalt und Missbrauch brauchen, ist Klarheit und das Vertrauen in sich selbst und in die eigene Handlungsfähigkeit. Frauen benötigen eine Erinnerung daran, dass sie selbst stark und klug sind. Dass sie in der Lage sind, sich das eigene Leben zurückzuholen und alleine gut für mitbetroffene Kinder zu sorgen. Wer Frauen nach Gewalt insbesondere in ihrer Erziehungsfähigkeit infrage stellt, wird zum Mittäter, der Frauen weiter die Freiheit nimmt. Was es braucht, sind Freiheit, (finanzielle) Rückendeckung und gute Strategien an die Hand.

Die eigene Expertin

Je früher Frauen nach Gewalt erkennen, dass sie selbst die Expertinnen für ihren Fall sind, desto schneller werden sie handlungsfähig. Niemand außer einer Betroffenen selbst kennt den Täter und seine individuellen Handlungsmuster so gut, niemand verfügt über mehr Innensicht darüber, was nötig ist oder was mitbetroffene Kinder wirklich individuell brauchen. Selbstvertrauen lernen bedeutet wieder hier anzukommen. Bei der eigenständigen und unabhängigen Person, die Frauen vor dem Täter im Leben waren. Sich Therapie, Beratung, Unterstützung, Beistand oder Coaching zu nehmen, ist richtig und wertvoll, doch Frauen dürfen abwägen, ob ihnen Beratende Selbstbestimmung oder Abhängigkeit verkaufen. Das Risiko ist groß, dass Frauen durch Beratende, die Schwächen betonen, lange in einem Kreislauf gehalten werden, in dem sie selbst glauben, dass sie es allein nicht schaffen können.

Wenn Frauen sich aus Gewalt und Missbrauch getrennt haben, ist das keine Trennung, sondern eine Flucht. Eine solche Flucht erfordert größten Mut und Stärke. Nie sollten gewaltbetroffene Frauen denken, jemand im System sei nun besser geeignet, Entscheidungen für sie zu treffen, als sie selbst.

Topic Freiheit kreieren

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