Neiman und Foucault - Teil 2: Macht und Marginalisierung
Foucault "glorifiziere" die Marginalisierten, so Neiman, in ihrem Buch “Left is not woke”. Die Outlaws, die "madmen", setzte sich für Opfer ungerechter Haftbedingungen in Frankreich ein, sei zudem offen schwul gewesen und habe sich für die Opfer der chilenischen Militärdiktatur Chiles eingesetzt.
Diese Aufzählung wirkt krude. Der Schwule, der sich für die Verrückten einsetze. Anrüchig. Foucault begriff sich, wie Neiman auch erwähnt, als spezifischen Intellektuellen. Er wandte sich also konkreten Recherchen zu, setzte nicht wie zuvor Sartre auf die Allzuständigkeit von Philosophen als "moralischem Kompass". Diese Aufzählung "Verbrecher, Verrückte, schwul, Opfer der Pinochet-Diktatur" zeigt auf, dass eine gewisse Stoßrichtung erkennbar ist. Könnten das vielleicht alles Opfer staatlicher Institutionen sein?
Wer sitzt denn Gefängnis aufgrund welcher Delikte, gerade auch in den USA? Überdurchschnittlich viele Schwarze und Latinos, hierzulande Migrantisierte; in den USA kann von einer kommerziellen Knastindustrie gesprochen werden, die vor allem durch den "War on Drugs" am Laufen gehalten wird. Auch dann, wenn man Kant und Voltaire super findet, ändert sich daran zunächst wenig, wenn man die konkreten Mechanismen untersuchen will, wie diese Industrie funktioniert. Könnte es nicht sein, dass, wenn man Teil einer Community ist, deren politischer Arm "Black Panther" u.a. durch den "War on drugs" und staatliche Politiken wie COINTELPRO (Opens in a new window) bekämpft wurde, nicht als erstes die Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Prinzipien lobpreisen? Sondern dass sie in lebensweltlichen Zusammenhängen sich zunächst einmal den konkreten Problemen widmen, die in der "Black Live Matters"-Bewegung deutlich wurden? Weil auch Menschenbilder rund um Schwarz und Weiß nicht als Hautfarben, sondern als soziale Positionen zugewiesen werden, die das Verhalten des Staates ihnen gegenüber formen?
Neiman hat diese Bewegung unterstützt. Aus folgenden Gründen:
"My support für Black Live Matters springs neither from tribal membership nor form guilt among about wrongs committed by my ancestors, impoverished Eastern European Jews wo immigrated to Chicago in the early twentieth century. I supported BLM because the killing of unarmed people is a crime against humanity." (S. 54)
Ihr Selbstverständnis habe ich nicht zu kommentieren; Hannah Arendt schrub im Gegensatz dazu, dass, wer als Jude angegriffen würde, sich auch als Jude zu verteidigen habe. Wenn in einer Gesellschaft Verhältnisse entstehen, dass schwarze Leben nicht zählen, BPoC Rassismus ausgesetzt sind, dann braucht man noch nicht einmal in die Geschichte auszuweichen, um festzustellen, dass es sich zunächst um Angriffe auf BPoC handelt und nicht auf die Menschlichkeit als solche. Weil Menschenbilder in Gesellschaften aktiv sind, die deren Leben als weniger wertvoll in praktischer Hinsicht begreifen.
Die "Tribe" stellt dann die Gesellschaft mit ihren Institutionen, Stereotypen und Diskursen erst her. Solche Mechanismen kann man bei Foucault lernen. Macht ist produktiv. Sie generiert in ihren Praxen, Institutionen und Diskursen das, was Grenzziehungen in Gesellschaften bewirken. Begreift man "menschlich" deskriptiv, sind Menschen Wesen, die fähig sind, Kriege zu führen, Gewalt ausüben, die Umwelt zu zerstören und Völkermorde zu begehen. Tatsächlich hilft hier, der "Menschheits"-Formel des Kategorischen Imperativs zum Trotze, eher richtig oder falsch als Unterscheidung weiter, als nun auf menschliche Eigenschaften sich zu beziehen.
Rassistische Polizeipraxen richten sich aber nun mal gegen jene, die, als schwarz subjektiviert um ihr Leben fürchten müssen. Für Neiman ist diese Aussage, betroffen zu sein, nicht etwa sich nur zu fühlen, bereits "Tribalismus" und ein grober Verstoß gegen die Lehren der Aufklärung. Und das alles nur, weil all die Mütter, von Reagan als "Welfare Queens" beschimpft, also solche, die angeblich das Sozialsystem ausbeuteten, Angst um ihre Söhne haben und ihre Köpfe zu tief in Foucault-Bücher gesteckt haben. Auf dass dieser ihnen nun einredete, es gäbe nur Macht, keine Gerechtigkeit. So sinngemäß referiert sie Foucault um S. 122 herum. Auf die Idee, dass es Menschen gibt, denen einfach nur Macht begegnet und selten Gerechtigkeit, kommt sie nicht.
Die gesamte Kantische Tradition, in der Neiman sich ja verortet, ja, auch Kant selbst wussten, dass normative Kriterien eben das Sollen beschreiben, das Sein, das gesellschaftliche, hingegen voller Brutalität, Ungerechtigkeit, Boshaftigkeit und Machtmissbrauch steckt. Die ganze Konstruktion der Diskurstethik von Habermas beschränkt sich deshalb auf Begründungs-, nicht Anwendungsfragen, die er ziemlich kompliziert, aber immer im Bewusstsein der Existenz von sozialen Kämpfen in "Faktizität und Geltung" nur insofern weiterzudenken wusste, dass er Wirkungen normativer Prinzipien auf die Gesetzgebung analysierte.
Disziplinen, wie Foucault sie beschrieb, die wirksamen Menschenbilder, die ganzen Prüfungen und Normierungen, die Machtausübung über Körper und Psychen, der Drill von Arbeit am Fließband oder beim Lieferdienst, Racial Profiling, die "Datei Gewalttäter Sport", die ausgefeilten Überwachungsmaßnahmen staatlicher Stellen unterlaufen in ihrer Praxis die hehren Ideale der Gerechtigkeit. Das ist Foucaults These. Und er hätte alles unterstützt, was diese Macht einschränkt, zersplittert, Gegenmacht erzeugt. Deshalb hat er sich politisch engagiert.
Wer setzt den Rahmen, in dem solche Gegenmacht erzeugt werden kann, wenn die Räume, Parteien, Universitäten, Medien von Vertretern der Dominanzkultur besetzt sind? Wenn immer nur die es sind, die mal für, mal gegen Marginalisierte reden, schreiben, Fernsehen machen und in Dokumentationen z.B. über trans "Experten" schneiden, die zugleich als Gutachter vor Gericht auftreten? Man sieht doch in allen Plenen und auf allen Podien, dass sich gesellschaftlich dominante Gruppen durchsetzen und wieder über die Anderen bestimmen, sie definieren, ihnen Plätze zuweisen. Will man das ändern, kommt wieder Neiman und verhindert offensiv Gerechtigkeit:
Diese Sätze lese ich unaufhörlich in Publikationen seit ca. 10 Jahren, als seien sie von KI generiert. Als bestünde nicht ein Unterschied, ob nun ich Frau Neiman etwas über Frauen im akademischen Alltag erzähle oder sie mir. In solchen Formulierungen zeigt sich wieder nur, dass Neiman unzulässig verallgemeinert. Wittgenstein postulierte, es gäbe Aussagen die so allgemein sind, dass sie sinnlos werden. In Neimans Buch ist das häufig der Fall.
Die Sprecherposition spielt keine Rolle beim Neubau von Kanalisationsabschnitten, wer sie konzipiert, wie sie konstruiert werden. Der besteht jedoch hinsichtlich dessen, wie weit die Anwohner von den Maßnahmen betroffen sind.
Habermas zeigt sich hier einmal mehr als der Klügere: zum einen unterscheidet er moralische Argumentationen von denen über Sachfragen. Zum zweiten führt er als Kriterium bei der Normenbegründung ein, dass die Folgen für alle möglicherweise von einer Norm Betroffenen zumindest diskursiv antizipiert werden müssten, bevor man sie verabschiedet. Und da können in bestimmten, nicht allen Fällen nur aus der 1. Person überhaupt mögliche Folgen erkannt werden. Habermas rechnet auch mit Interessen. Im Buch von Neiman ist mir nicht aufgefallen, dass es so etwas überhaupt geben könnte. Vielleicht habe ich ja so selektiv gelesen wie sie selbst. Die 1. Person belibt, wenn sie nicht gerade aus ihrem Leben plaudert, seltsam unterbelichtet. Das zeigt sich auch im folgenden Passus. Sie stört es, wenn Betriebe sich queerfreundlich geben, weil das ja neoliberal sei. Aus der Perspektive der 3. Person. Die Sicht derer, die dort arbeiten, interessiert sie nicht.
"Like other forms of diversity, the acceptance of same sex reationships has a darker side, allowing corporations to advertise LGBT-friendly workplaces as form of public relations while promoting neoliberal policies that drive inequality."(S. 216)
"Darker Side". Diese Denkklischees, die ein wenig wirken wie Copy & Paste bei Nancy Fraser, gefährden für Betroffene, weil ihnen schon die Wahl eines Arbeitsplatzes, bei dem sie out sein können und keinem Mobbing unterliegen, als prokapitalistische Handlung angedichtet wird. Eine Sichtweise, die Heterosexuellen, die tagsüber bei Beiersdorf arbeiten und abends in der WG-Küche Kapitalismus kritisieren, ebenso so selten vorgehalten wird, wie Hetero-Familien auf Fotos von Unternehmenswerbungen für die Abgründe kapitalistischen Wirtschaftens herangezogen werden als "darker side" des besonderen Schutzes der Familie im Grundgesetz. Auch Neiman jedoch betrachtet gönnerhaft die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben als Fortschritt. Immerhin.
Ein Typus von Macht, der Menschen in ihrer geschlechtlichen Selbstbestimmung und ihrem Sexualverhalten einschränkt und reguliert, entwickelte sich aber auch nach der Aufklärung und ihren Gerechtigkeitspostulaten eher noch weiter; es gibt sie immer noch und immer wieder auch in demokratischen Rechtsstaaten. Man erinnert darum an die, die dem zum Opfer fielen und die sich dagegen wehrten, im Gedenken an Stonewall zum Beispiel. Susan Neiman fällt dazu nur folgendes ein:
Mir ist ein Rätsel, wie man derart über tatsächliche Opfer herziehen kann. Sie begründet es selbst mit Jean Améry und somit explizit auch aus jüdischer Erfahrung. Das kann sie für sich so halten, wie sie das für richtig hält.
Nun aber z.B. ein zu forderndes Gedenken an die Opfer von AIDS und die verstorbenen Helden von "Act up" damit vom Tisch zu wischen, angesichts dessen stellt sich doch die Frage, wer in dieser Diskussion zynisch argumentiert. Gedenken an Leid ist schlicht menschliche Trauerarbeit, eigene Erfahrungen, systemischer Diskriminierung zum Opfer gefallen zu sein, politisch werden zu lassen, ist sogar notwendig in an Gerechtigkeit orientierten Prozessen. Auch Empathie für jene, die aktuell Opfer werden. Dass sich aus den Verhältnissen, in denen Unterdrückte leben, die darunter leiden, auch politische Forderungen ableiten lassen, ist eine der ältesten linken Forderungen überhaupt.
***
Zu Beginn von "Überwachen und Strafen" schilderte Foucault eine unvorstellbar grausame Hinrichtung eines Delinquenten namens Damiens zu Zeiten des Ancien Regime[1] (Opens in a new window). Diese Tortur sei deshalb vollstreckt worden, weil die Bestrafung der Tat adäquat zu sein hatte, die als Delikt gegen den König und somit als schlimmstmöglich beurteilt wurde.
Im konkreten Regimen der Sichtbarkeit sei der imaginäre Scheinwerfer somit auf den König und den Täter gerichtet worden, ihrer Relation zueinander, während die johlende, gaffende und saufende Masse der Zusehenden bei dieser öffentlichen Hinrichtung anonym, im Dunkeln blieb.
Neiman kann sich gar nicht beruhigen darüber, dass Foucault das nun folgende Gefängnissystem als schlimmer darstelle. Hätte der Hingerichtete die Wahl zwischen Kerker und dieser Form des Abschlachtens gehabt, dann hätte er ja wohl Ketten und Gitterstäbe gewählt.
Das verfehlt wie bei Neiman üblich so ziemlich alles, was Foucault geschrieben hat. Er beschreibt einfach einen anderen Typus von Macht. Während zuvor ein einzelner, in Reaktion zum sichtbaren König situierter Täter Sujet war, ist es nun die Masse, die in den Blick gerät. Während die Macht in der Relation zwischen Architektur und Wissensproduktion zusammen mit der Polizei als anonyme Macht den gesellschaftlichen Raum kontrolliert.
Deutlich zeigt sich dieses Prinzip in Diskussionen um die Kennzeichnungspflicht von Polizisten oder personalisierten Tickets in Fußballstadien. Die Macht ist nicht individualisiert, die ihr Unterworfenen hingegen sind es. Auch Staatszugehörigkeit mit korrespondierender Bürokratie ist Teil dieses Machttypus.
Foucaults Rhetorik mag dieses "besser" oder "schlechter" suggerieren. Bezieht man jedoch die von Foucault analysieren Raumordnungen mit ein, zu denen auch der Abriss von Elendsquartieren in Paris zu Hausmanns Zeiten, der Bau von Boulevards, ganz übersichtlich, so zeigt sich, dass ein weniger grausamer, doch intensiverer Typus von Macht sich etablierte und das Verhalten von Menschen beeinflusste im Zuge des 19. Jahrhunderts. Was, so z.B. jene, die den Abriss der Gängeviertel in Hamburg, Fachwerkqaurtiere für Arbeiter*innen und Tagelöhner, initiierten, als Fortschritt hin zu "humaneren Lebensverhältnissen" betrachten. Zugleich aber vollzog sich die Eingliederung in Verwertungszusammenhänge: Mietzahlungen, und Kontrollierbarkeit. Bis hin zum Wasserzähler. Tatsächlich beklagten die Ex-Einwohner der abgerissenen Gängeviertel die verlorene Freiheit. Sogar TV-Serien über weiße Ärzte in indischen Slums greifen diese Motive wieder auf - wie dort Wohnende ihre Freiheit und Selbstorganisation kultivieren. Die "Parzellierung des Raumes" läuft eine intensivere Durchmachtung hinaus. Ganz unabhängig davon, ob diese nun besser oder schlechter ist.
Kernstück von "Überwachen und Strafen" ist die Analyse des Panoptismus[2] (Opens in a new window). Abgeleitet ist dieses Modell von dem architektonischen Entwurf eines Gefängnisses Jeremy Benthams: ein Turm in der Mitte gewährt Einblick in die Zellen. Die Insassen wissen, dass sie beobachtet werden, und orientieren ihr Verhalten daran. Sie wissen aber nicht, ob akut jemand blickt oder nicht. Es könnte aber sein.
Es ist umstritten, ob je wirklich ein Gefängnis am Leitfaden dieses Entwurfes gebaut wurde. Pointe bildet die Behauptung einer anonymen Macht Menschen mittels Blickregimen objektiviert. Also Akten über sie anlegt, Verhalten kontrolliert und sanktioniert. Viele übertragen das auf überall installierte Überwachungskameras. Law & Order- Fans sagen dann: Ja, aber das ist doch auch gut, wenn Verhalten dadurch reguliert wird und Gewalt ausbleibt. Das ist eine der typischen Foucault-Pointen, dass er ja weiß, dass das so ist. Und sich ins Fäustchen lacht, dass man ihm in die Falle gegangen ist, wenn man das gar nicht merkt, dass er dort hinleitet. Dieses Lachen verstummt jedoch, wenn man sich Social Scoring-Systeme in China anguckt, die Neiman auch erwähnt, um zu behaupten, Foucault könne die gar nicht kritisieren. Manche derer wirken, jedoch wie am Leitfaden von "Überwachen und Strafen" konzipiert. Auch Rosa Listen bei der Polizei waren zu Foucaults Zeiten noch üblich. Wenn man daran zurückdenkt, wie Corny Littman in Hamburg 1980 einen einseitig durchsichtigen Spiegel zerschlug, hinter dem Polizisten Schwule beim Sex in öffentlichen Toiletten überwachten, dann ist das "Panoptismus" pur. Oder wenn man sich anschaut, wie in den USA Bestrebungen zur Re-Kriminalisierung von Homosexualität bis in den obersten Gerichtshof erkennbar werden, somit also das Privatleben von Bürgern potenzieller Überwachung auszusetzen. Weil es Interessen des Staates widerstrebe.
Neiman echauffiert sich zudem über Foucaults Aussage, dass überall Macht sei und somit nirgends Gerechtigkeit. Wer jedoch setzt Verfassungsgerichtsurteile um, wie kommen die Verfassungsrichter an ihre Jobs? Welche Instanzen kümmern sich um die Vollstreckung von Urteilen? Was wirkt in jeder Schulklasse, wenn der Outsider gemobbt wird?
Foucault hat einfach recht. Macht IST überall, wirkt noch in jeder amourösen Beziehung. Sie kann an Körperlichkeit gekoppelt bleiben, manipulativ auftreten oder sich in den Zensuren von Mathematiklehrern zeigen. Noch Habermas situiert seinen "herrschaftsfreien Diskurs" im Kontrafaktischen, Quasi-Transzendentalen und folgt damit übrigens Kant, der der letzte gewesen wäre, nun Macht zu bestreiten. Auch Habermas untersucht administrative Macht und ökonomische Systemimperative mit Machtwirkung. Mit diesem seitenlangen Empören, Foucault habe gesagt, alles sei Macht, landet man gar nicht bei der entscheidenden Frage, was denn nun legitime Macht sei und was illegitime. Habermas hat dieses z.B. "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" untersucht. Das mündet in die Legitimation von Verfahren in Rechtsstaat und Demokratie. Gerechtigkeit ist da ein sehr guter Kandidat, diese zu rechtfertigen. Macht verschwindet damit aber nicht.
Neiman stellt im weiteren Verlauf ihres Werkes die Frage, was es angesichts dessen es mit Fortschritt auf sich habe, wenn doch alles nur Macht sei. Wenn man den Übergang von bestialischen Hinrichtungspraxen zur Inhaftierung nicht als Fortschritt begreife, ja, wie bestimmen wir denn dann, was unsere Zukunft sein solle? Hätte sie wenigstens ein paar mehr Interviews mit Foucault gelesen, wäre sie vielleicht auf Passagen wie die folgenden gestoßen Sie stammen aus einem Interview ein halbes Jahr vor seinem Tod:
"Damit es eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es also auf beiden Seiten einer gewissen Freiheit. (...) Das heißt, daß es in den Machtbeziehungen gezwungenermaßen Widerstandsmöglichkeiten gibt, denn wenn es keine Widerstandsmöglichkeiten gäbe - Gewalt, Flucht, List, Strategien, die die Lage umkehren -, gäbe es überhaupt keine Machtbeziehungen. Wenn dies die allgemeine Form ist, weigere ich mich, auf die mir oft gestellte Frage zu antworten: "Aber wenn die Macht überall ist, dann gibt es keine Freiheit." Ich antworte: Wenn es in jedem gesellschaftlichen Feld Machtbeziehungen gibt, dann deshalb, weil es überall die Freiheit gibt. Jetzt gibt es in der Tat Herrschaftszustände. In zahlreichen Fällen sind die Machtbeziehungen derart fest geworden, daß sie dauernd unsymmetrisch sind und der Freiheitsspielraum äußerst beschränkt ist."[3] (Opens in a new window)
Das lieferte Foucault nach harscher Kritik von allen Seiten nicht mal eben so nach. All das, was Neiman schreibt, ist ja die ganzen 80er und frühen 90er Jahre hindurch schon auf weit höherem Niveau und vor allem aufgrund ernstzunehmender Lektüren formuliert worden. Jedoch gerade unter aktuellen politischen Bedingungen, angesichts dessen, dass Trump wiedergewählt werden könnte und Putin die Neue Rechte in Europa stärkt, kann man noch so oft "Menschenrechte!" und "Aufklärung" rufen, da lachen die sich einfach schlapp und machen einfach weiter mit ihrer Machtergreifung.
Da hilft es, den eigenen Willen zur Macht im Gegenzug auch zu bejahen, will man nicht ohnmächtig in Herrschaft verrecken.
Foucaults These: Die Macht wirkt in den Beziehungen. Da muss man ansetzen und Freiheitsspielräume erkämpfen. Ob man nun Machtkämpfe mag oder nicht: es gibt sie. Wie Macht in Beziehungen wirkt, das bekommen z.B. Mitarbeiter zu spüren, die autoritären Chefs unterworfen sind. Es gibt ein Gefüge aus Verträgen, Weisungsbefugnissen und ökonomischen Notwendigkeiten, das sich von den Herrschaftsverhältnissen in der Sklaverei unterscheidet
Es ist einigermaßen absurd, wenn sich Susan Neiman hinstellt und davon ausgeht, dass Foucault das im Falle seines harsch attackierten Werkes nie selbst aufgefallen wäre, dass manche Machtbeziehungen im Vergleich zu Herrschaftsbeziehungen einen Fortschritt darstellen. In seinen Vorlesungen rund um Gouvernementalität und Neoliberalismus prägte er die Formel "Nicht dermaßen regiert zu werden". Darauf wird zurückzukommen sein. Bezogen auf Habermas antwortete er in dem bereits zitierten Interview:
"Die Vorstellung, daß es einen Zustand der Kommunikation geben könnte, worin die Wahrheitsspiele ohne Hindernisse, Beschränkungen und Zwangseffekte zirkulieren können, scheint mir in die Ordnung der Utopie zu gehören. Das heißt gerade nicht zu sehen, daß die Machtbeziehungen nicht an sich etwas Schlechtes sind, wovon man sich frei machen müßte; es ich glaube, daß es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, sofern man darunter Strategien begreift, mit denen Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen. Das Problem ist also nicht, sie in der Utopie einer vollkommen transparenten Kommunikation aufzulösen zu versuchen, sondern sich die Rechtsregeln, die Führungstechniken und auch die Moral zu geben, das Ethos, die Praxis des Selbst, die es gestatten, innerhalb der Machtspiele mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen. (...) Die Macht ist nicht das Böse."[4] (Opens in a new window)
Diese Aussage kommt auch nicht wie Kai aus der Kiste in die Welt gesprungen, weil zufällig in versteckt in seinem Nachlass dieses Interview gefunden worden wäre, das dann eine völlig neue Sicht auf das Werk Foucaults eröffnet hätte.
Das haben wir damals, als wir ihn lasen, inmitten heftiger diskursiver Machtkämpfe, in Deutschland vor allem zwischen dem Umfeld von Habermas und den "Postmodernen", sofort verstanden. Gerade als Queers. Wenn wir uns weiter von denen definieren lassen, die uns zugleich psychiatrisieren und behaupten, wir seien zu neurotisch, um auch nur eine Psychoanalyse machen zu können, wenn wir inmitten der Linken gleichzeitig mit Stereotypen wie "schwule Nazis", "Narzißten", "unnatürlich" und "Nebenwiderspruch" konfrontiert wurden, dann war klar, dass wir die Verständnisse unserer selbst in die Hand nehmen müssen. Also: den Willen zur eigenen Macht bejahen, um so deren dominante Form zu verflüssigen.
Foucault war eben deshalb für "Act Up", jene Organisation, die für medizinische Versorgung im Falle von AIDS kämpfte, so wichtig: nehmt die Wissensproduktion rund um die Krankheit in die eigene Hand, wenn ihr nicht wollt, dass Reagan zusammen mit Evangelikalen das Thema so lange einfach wegschweigt, bis wir alle tot sind. Wären die Aktivist*innen mit "Aufklärung! Voltaire! Wir fordern Menschenrechte!" auf die Straßen gegangen, dann wäre schlicht gar nichts auf dem Feld der Pharma-Forschung geschehen. So ketteten die "Act up!"-Aktivist*innen sich in Chemieunternehmen an, bis die Labore endlich mal loslegten. Foucault verstarb an den Folgen von AIDS.
Tatsächlich verlief dank Rita Süssmuth der Umgang mit der Epidemie hierzulande anders. Das spricht dafür, dass Habermas' Unterscheidung zwischen verständigungsorientierter und strategischer Kommunikation nicht nur Utopie ist.
Um noch ein anderes Schreckgespenst für die Feinde von "woke" auftreten zu lassen - Judith Butler zitierte Foucault in einem Aufsatz von 1991 folgendermaßen:
"Ich fühle mich mit den Begriffen "lesbische Theorie, schwul-lesbische Theorie" nicht wohl, denn Kategorien der Geschlechtsidentität können Instrumente regulatorischer Regime sein, entweder als normalisierende Kategorien unterdrückender Strukturen oder als Ansatzpunkt für eine befreiende Anfechtung dieser Unterdrückung. (...) Die These, die Anrufung der Identität sei immer ein Risiko, impliziert nicht, daß Widerstand gegen ihre Thematisierung immer oder lediglich ein Symptom selbstauferlegter Homophobie ist. Aus Foucaultscher Perspektive könnte ich sogar behaupten, daß noch ein Bekräftigung von "Homosexualität" bereits eine Verlängerung des homophoben Diskurses darstellt. Und doch kann der Diskurs, wie Foucault schreibt, "gleichzeitig Machtinstrument- und effekt sein [...], aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie."[5] (Opens in a new window)
Die Nervosität angesichts von Identitätskategorien bildet einen entscheidenden Zug im Spiel rund um das, was heute absurderweise "Identitätspolitik" genannt wird. Vermeide, Dir Wissenskonzepte von Wahrheitsregimen nicht etwa der Quantenphysik oder Klimaforschung, sondern der Humanwissenschaften zu eigen zu machen. Wenn Du nicht darum herumkommst, dann deute sie in Deinem Sinne um. Die anderenverfügen bisher über die berühmte Definitionsmacht. Setze Widerstandspunkte, indem Du als "homosexuell" nicht etwa widerlich, sondern stolz darauf bist.
Diese Antworten darauf, wie Fortschritt möglich sei, steckt in Foucaults Schriften immer schon drin. Das erklärt auch seine eigene politische Praxis, die einerseits gegen Herrschaftsverhältnisse wie in Polen oder Chile opponierte oder aber den gesellschaftlichen Gruppen, die diesem Komplex aus Gutachtersystem und Justiz ausgesetzt waren, eine eigene Stimme verlieh bzw. sie darin unterstützte.
Foucaults Werk diagnostiziert so verschiedene Intensitäten von Macht, liefert aber auch den Theoriebaustein mit, dass Macht automatisch Widerstandspotenziale erzeuge. Er unterscheidet Macht und Herrschaft und ist der Lage, auch Instrumentarien bereitzustellen, was denn nun emanzipatorischer Machtgebrauch sei. Das ist allein auf Ebene der Moralgebegründung nicht zu beantworten. Habermas führt den Begriff der kommunikativen Macht ein als Teil demokratischer Willensbildung ein in "Faktizität und Geltung". Auch universell begründete Gerechtigkeitsvorstellungen müssen sich die Frage stellen, wie sie im Sinne legitimer Machtausübung praktisch werden können und scheitern allzu oft daran. Das gibt selbst Neiman zu.
Wie man das auflöst, ist keine Frage, die man beantworten kann, wenn immer nur "Menschenrechte!" ruft und sich dann im Sessel zurücklehnt. Es ist aber ein Weg, illegitim Unterworfene zu "empowern", sie zur Formierung von Gegenmacht anzustiften; dann, wenn sie systemisch z.B. überproportional oft Polizeigewalt ausgesetzt sind, können sie sich auch wechselseitig stützen und zusammen agieren, wie man bei jeder "Pride"-Parade sieht. Weil diese entstanden sind in Erinnerung an Straßenschlachten nach einer Razzia im "Stonewall Inn", Manhattan.
Das ist tatsächlich Macht Foucaultschen Typs, auch diese Gegenwehr angesichts von Marginalisierung. Foucault politische Arbeit bestand darin, einen Rahmen zu schaffen, dass die Entmündigten ihre Stimme erheben können. Spivak als Vordenkerin postkolonialen Denkens, kritisierte das heftig, nebenbei erwähnt. Soweit zu "Foucault als Vordenker des Postkolonialismus".
(Mitgliedschaften wie auch Newsletterabonnements helfen mir immens beim Betreiben dieser Seite. Wem also gefällt, was ich hier schreibe, kann gerne die obigen Buttons drücken. Ich freue mich dann.)
[1] (Opens in a new window) Foucault 1989, S. 9 ff.
[2] (Opens in a new window) Ebd., S. 251 ff.
[3] (Opens in a new window) Foucault, Michel, Freiheit und Selbstsorge - Gespräch mit Michel Foucault am 20. Januar 1984, in: Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt/M. 1993, S. 20
[4] (Opens in a new window) Ebd., S. 25
[5] (Opens in a new window) Butler, Judith, Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität, in: Kraß, Andreas, Hg., Queer Denken, Frankfurt/M. 2003, S. 144-145, im Englischen erstmals veröffentlicht New York 1991