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Sich in Komplexität orientieren: Eine Danksagung - wie die Lehrtätigkeit Herbert Schnädelbachs mein Leben und Denken prägte …

Am 9. November 2024 verstarb Herbert Schnädelbach - Philosoph und zudem ein herausragender Philosophie-Lehrer. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre durfte ich bei ihm in Hamburg studieren. Was seine Lehre so besonders machte, dass sie mir auch in jenen Arbeitszusammenhängen half, die mit Philosophie zunächst einmal nichts zu tun zu haben scheinen - darum geht es in diesem Text.

Schauplatz: die Dachterrasse des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Blick auf die die Bankentürme. An diesem Ort forschte und lehrte eine für die Philosophie vor allem der 60er und 70er Jahre prägende kleine Gruppe großer Denker*innen. Die so genannte "Frankfurter Schule".

Im Zentrum: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Jürgen Habermas wirkte hier in den späten 50er Jahren als dessen Assistent. Für mich prägende Philosoph*innen wie Martin Seel oder Seyla Benhabib übernahmen Motive aus der auch "Kritische Theorie" genannten, na, Denkströmung ist es nicht wirklich -  aus diesem Reflexions- und Diskussionszusammenhang. Ich stand auf dieser Dachterrasse mit Axel Honneth, langjährig Direktor des Instituts und auch einer jener, die Impulse der Kritischen Theorie aufgriffen. Honneth setzte sie an Hegel orientiert auf seine Weise fort. Wir hielten Smalltalk vor dem ungeheuer hilfreichen Interview mit ihm für die "Habermas - Philosoph und Europäer"-Doku (ZDF/ARTE). Um nicht als lediglich neugieriger Kulturjournalist dazustehen, berichtete ich ein wenig von meiner philosophischen Ausbildung.

Im Zentrum derer stand Herbert Schnädelbach. Bei ihm durfte ich Grundlagen lernen, die mir bis in die Arbeit im TV-Zusammenhang oder auch meine Dissertation an der Hamburger Hochschule für bildende Künste halfen. Axel Honneth merkte an, dass ich wohl das Glück gehabt habe, beim zu jener Zeit besten Philosophielehrer Deutschlands studiert zu haben. Seine Frau habe diese Lehrtätigkeit auch erlebt. Mir fehlt der direkte Vergleich; im Lehrzusammenhang der Hamburger Universität, Fachbereich Philosophie, stach Schnädelbach definitiv als jener mit der größten Strahlkraft, Leidenschaft, philosophischen Energie und Wucht heraus. Er selbst hatte noch bei Horkheimer und Adorno studiert, begann die Arbeit an der Habilitation bei Adorno - nach dessen Tode übernahm Jürgen Habermas die Betreuung.

DIE ORDNUNG DER DINGE VERSTEHEN WOLLEN

Ich wurde im Herbst 1988 in einen Vortrag von ihm geradezu geschubst. Damit fing alles an. Nach Ende des Zivildienstes eingeschrieben für Französisch verfolgte ich die Absicht, Philosophie als zweites Hauptfach zu studieren. Später sattelte ich um auf Philosophie als Hauptfach um. Auch, weil die Veranstaltungen von Herbert Schnädelbach mich in ihren Bann zogen. Das erste Semester geriet ich in einen Uni-Streik; wir besetzten den Phil-Turm, feierten dort Partys, übernachteten auf den Gängen, na, zumindest einmal, machten mit der Fachschaft Romanistik eine Radio-Sendung rund um den Streik im Offenen Kanal.

 Der Vortrag von Schnädelbach fand im Rahmen eines Symposions zu Michel Foucault statt. Sein Thema: "Die Ordnung der Dinge" dieses französischen Philosophen, dessen Rezeption in Deutschland gerade erst Fahrt aufnahm. Ein Freund, der in Freiburg lebte, hatte mir kurz zuvor einen Brief über seine Erfahrungen im Philosophiestudium voller Horkheimer-Zitate geschickt. Er klebte auch Fotokopien von Fotos hinein - darunter das legendäre Bild von Foucaults Hinterkopf - eine Glatze vor schwarz. Mehr wusste oder kannte ich nicht von ihm. Vor mir Büchertische mit seinen Werken, und ein Kommilitone zog mich in den bereits überfüllten Hörsaal. Sehr viele Menschen wollten Schnädelbach lauschen. Den kannte ich bis dahin noch gar nicht. Dieser habe immer eine so unterhaltsame Art zu dozieren, so wurde mir versichert.

(aus urheblicherrechtlichen Gründen hier das Cover einer Aufsatzsammlung zu Foucault - auf ihr ist auch Foucaults Hinterkopf zu sehen)

In der Tat - es war packend. Ich verstand allerdings kaum ein Wort, fand mich in einem Bombardement von Namen, Begriffen und philosophiehistorischen Bezügen wieder, dem ich nicht folgen konnte. Den Einstieg begriff ich zumindest in Ansätzen. Der erste Satz lautete: "Es hat sich herumgesprochen und von vielen Seiten ist es jetzt zu hören: dem Menschen hat die Stunde geschlagen."[1] (Opens in a new window) Schnädelbach referierte verschiedene Ansätze eines theoretischen Antihumanismus aus Philosophie und Wissenschaft, deren Ziel es sei zu zeigen, "daß die Selbstentmachtung des Menschen auch in praktischer Hinsicht die notwendige Voraussetzung dafür sei, dass die Menschen endlich zu sich und zu einem menschengerechten Leben finden."[2] (Opens in a new window) Anthropozentrismus angesichts ökologischer Katastrophen zu geißeln, das kannte ich. Aber nicht, was dann folgte.

 Ein hochabstrakter Ritt durch die Philosophien Kants, Hegels, der Junghegelianer, wer zum Teufel war das bloss?, okay, Sartre zumindest war mir in Ansätzen vertraut, Feuerbach kannte ich aus der "Philosophischen Hintertreppe" Weischedels. Aber was genau Schnädelbach da diskutierte, final bei einer Auseinandersetzung mit Habermas landend - es hörte sich für mich fast an wie eine Fremdsprache.

 Ein Satz prägte sich mir jedoch ein "So bleibt zu fragen, ob es überhaupt einen Grund gibt, aus dem anthropologischen Schlummer zu erwachen, oder ob nicht umgekehrt Foucault der Schlafende ist"[3] (Opens in a new window) - pointiert und mit einem Schmunzeln vorgetragen. What?

Ich habe die Aufsatzfassung des Vortrages zur Vorbereitung dieses Textes noch einmal gelesen und war verblüfft, wie Jahre meines Philosophiestudiums darin bestanden, mir die Voraussetzungen dafür zu erarbeiten, ihn verstehen zu können. Wie zentral Sätze wie

"Es ist das Schicksal der Moderne, nicht nur ihre normativen, sondern auch ihre kognitiven Grundlagen aus sich selbst schöpfen zu müssen"[4] (Opens in a new window) für mich werden sollten in meinem Weltzugang. Oft auch in anderen Feldern als der Philosophie. Auch Musik gehört zu diesen kognitiven Grundlagen der Moderne.

 Der "Schnädelbach-Effekt" ergab sich für mich durch die ihm eigene Mischung aus schmunzelnder Provokation, die jedoch zum Denken anregen sollte, einer spürbaren Leidenschaft des Philosophierens und dem atemberaubenden Abheben in Sphären systematisierender Abstraktion. Dann, wenn es um das Referieren von Philosophiegeschichte ging. Dies jedoch nicht, um zu beeindruckenden, sondern um Verständlichkeit zu ermöglichen . Das spürte ich sogar, obgleich ich nichts verstand - dass da etwas Verstehbares war, das lockte.

SCHNÄDELBACHS LEHRTÄTIGKEIT

Im nächsten Semester besuchte ich zwei Seminare bei Schnädelbach - ein Proseminar zu "Grundbegriffe des Psychischen - Affekt, Emotion, Gefühl" und eine Hauptseminar, in dem ich noch gar nichts zu suchen hatte, zu Foucaults "Die Ordnung der Dinge".

Ersteres war ähnlich aufgebaut wie auch der Vortrag und viele seiner Texte - eine auf das Systematische fokussierte Aneignung der Philosophiegeschichte von der Antike bis hin zu aktuellen Methoden und Problemstellungen. Die Einführung erfolgte durch einen Text aus der analytischen Philosophie zur Klärung dessen, worüber man überhaupt redet. In diesem Fall Gilbert Ryles "Der Begriff des Geistes", das meiner Erinnerung nach zwischen Affekten - akut -, Emotionen - anhaltend - und Stimmungen - Grundierung - unterscheidet. Am eindrucksvollsten die Passagen, in denen Ryle Descartes einen Kategorienfehler in der Zwei-Substanzen-Lehre, Geist und Körper als getrennte Entitäten, diagnostizierte - das sei so, als würde man darüber nachdenken, ob sich der Mannschaftsgeist beim Fußball als reales Wesen über den Platz bewege. Dann ging es zurück in die Antike, u.a. anderem zur Stoa, Affekte als Fehlurteile, über Kants “Anthropologie in pragmatischer Hinsicht” bewegten wir uns bis zu Agnes Heller, einer Neomarxistin, und sprachanalytischen Ansätzen. Deren Pointe lautete, dass man zwischen Gefühl und Rationalität nicht strikt trennen könne. Emotionen beinhalteten Wertungen im Bezug auf Personen und Situationen, die immer auch eine Erkenntnis bereitstellen. Dass ich mich mehr als 30 Jahre später an all das erinnere, belegt wohl die Qualität von Schnädelbachs Lehre. Letzteres ist zudem Kernstück seines Verständnisses von Rationalität - es sei unsinnig, diese als das Kalte, Abstrakte in Opposition zu den warmen und heimeligen Gefühlen zu verstehen.

 Das Foucault-Seminar setzte das Vortragserlebnis fort: ich verstand so gut wie gar nichts und erhielt doch Impulse zur eigenständigen Lektüre. "Die Ordnung der Dinge" formuliert die These eines "historischen a priori", Paradigmen ähnlichen Grundstrukturen verschiedener Wissensbereiche - der Philosophie, der Wissenschaften vom Leben, der Ökonomie und der Sprache. Dieses a priori bedingte die Ordnung der Dinge in Epistemen, Wissensbereichen, in bestimmten historischen Abschnitten. Im Verlauf der Historie bauten sie nicht etwa einen steten Wissenszuwachs aus und aufeinander auf, sondern kollabierten und öffneten infolge dessen den Raum für ein neues a priori.

 Zu Zeiten der Renaissance wirkten Foucault zufolge Analytiken von Ähnlichkeiten - Wallnüsse sind gut fürs Hirn, weil sie so ähnlich aussehen -, im Zeitalter der Klassik, 17. und 18. Jahrhundert, ordneten Forschende und Denkende ihr Wissen in Tableaus der Repräsentation an. So z.B. die Enzyklopädisten - Lexika als Repräsentationen von Entitäten in der Welt. Im Falle David Humes repräsentierten Vorstellungen, "ideas", mental die uns umgebende Welt, im Falle Descartes das "ich denke" das Sein. Ich hielt ein kurzes Referat zum "Sprachviereck im Zeitalter der Klassik" und verstand nichts von dem, was ich da sagte.

In der Moderne sei das Tableau der Repräsentation zusammengebrochen, stattdessen ein zirkuläres Denken entstanden, das sich auf stets entziehende Ursprünge, das Ungedachte im Gedachten und ein Changieren zwischen dem, was Wissen ermöglicht, dem Transzendentalen, und dem, was gewusst wurde, bezog. So dass - z.B. in der Hirnforschung - empirisch untersucht würde, was diese Empirie erst möglich mache; ein endloser Zirkel. Ein Dogmatismus, der sich spalte, um in sich selbst eine Stütze zu finden - gemeint war u.a. die Hegelsche Dialektik. DIE GESCHICHTE als lineare, einer Logik folgenden Entwicklung sei ins Zentrum des Denkens und Herleitung der Gegenwart auf den Plan getreten, und der Mensch ins Zentrum aller Analysen gerückt. So ungefähr.

 Da das aber alles zu nix führe, würde der Mensch mit der Wiederkehr der Sprache als Gegenstand von Analysen - z.B. in der strukturalistischen Linguistik - verschwinden, ganz wie ein in den Strand gezeichnetes Gesicht am Meeresufer von den Wellen fortgeschwemmt.

All das erstreckte sich auf Hunderten von für deutsche Verhältnisse in ungewöhnlich großer, teils schwammiger Rhetorik formulierten Seiten, die mir annähernd unlesbar erschienen. Sie strotzten vor unbekannten Namen aus Philosophie, Biologie, Sprachwissenschaft und Analysen der Ökonomie und führten noch poetisch den Gegendiskurs der Literatur am Beispiel des Don Quijote.

 Es gelang Schnädelbach jedoch, uns bei der Stange zu halten, durch dosiert eingestreutes philosophiehistorisches Wissen und pointierte, auch provozierende Fragestellungen immer neu zu fordern. Das Seminar gewann jede Woche mehr an Ereignishaftigkeit, seltsam Spektakuläres umwehte es. Von Dienstag zu Dienstag - ich glaube, es war der Dienstag - gingen wir, es blieben konstant viele Teilnehmer, voller Spannung und Neugierde in den großen Seminarraum im 10. Stock des Phil-Turms. Schnädelbach gelang es, den Ehrgeiz in uns zu wecken, all das durchdringen zu wollen. Bei dem Stoff eine reife Leistung. Es war aufregend, da hinzugehen. Fast Pop.

 Wie es seine didaktische Art war, lieferte er fortwährend Schlüssel, eigene Zugänge zu öffnen. In einem Ordner in dem Apparat zum Seminar fand sich, mit Schreibmaschine getippt, das Typoskript des Vortrages, dem ich zuvor gelauscht hatte. Irgendwer, war es Nietzsche, war es Heidegger?, wurde dort zitiert mit der Sehnsucht, "im Namenlosen zu existieren". Hier habe Foucault angeknüpft. Kein Zugriff durch Diskriminierung, Zuschreibung, damals auch Schwulen gegenüber durchaus noch übliche Pathologisierung - stattdessen frei die Stereotype unterlaufen. So las ich das zumindest, vertiefte mich in Foucault-Einführungen, am intensivsten in die von Urs Marti. Auf dem Klappentext stand ein Zitat aus "Überwachen und Strafen": "Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man aufruft, ist in sich schon das Resultat einer Unterwerfung, die tiefer ist als er". Darum ging's also! Menschdefinitionen mit Machtwirkung!

 Das vertieften wir dann in einem zweiten Seminar bei Herbert Schnädelbach - Foucaults Schriften zu einer Theorie der Macht. "Die Ordnung des Diskurses", "Überwachen und Strafen", "Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen". Das endete mit den Kritiken Foucaults durch Jürgen Habermas in "Der philosophische Diskurs der Moderne" und der Axel Honneths in "Kritik der Macht". Damit etablierte sich auch eine Spannung in meinem Denken zwischen den Polen Foucault und Habermas.

 Geert Keil, der zu Zeiten meines Studiums eine Assistenzstelle an der Uni Hamburg ausfüllte, schreibt somit nicht ganz zutreffend:

"Für die Rede vom „Anderen der Vernunft“ und die Sirenengesänge einer radikalen Vernunftkritik, die in den 1980er Jahren aus Frankreich herübertönten, war er taub. (Opens in a new window)"

Die zwei Seminare zu Foucault, in den späten 80er Jahren allseits als Vernunftkritiker und Relativist beschimpft, belegen das Gegenteil. Herbert Schnädelbach gelang es, die den Schriften Foucaults immanente Vernunft freizulegen und auch stark zu machen. Kein Denker, an den er selbst anknüpfte - doch den er sowohl in kritischer Befragung als auch zur Begeisterung anleitend zu lehren verstand. Das macht große Lehrer halt aus. Sie führen mit ihrem Wissen so durch komplexe Stoffe, dass man sich in ihnen zu orientieren vermag. Dabei immer das vermeidend, was Schnädelbach morbus hermeneuticus nannte, die hermeneutische Krankheit. Eben die Methode, einfach nur Klassiker auszulegen, sie ausschließlich immanent verstehen wollen, einfach nachzuerzählen, ohne sie systematisch auf aktuelle Problematiken zu beziehen.

 Deutlich wurde dieses in einem Seminar zu Ernst Cassirers "Philosophie der symbolischen Formen".  Wir lasen den Band zur Sprache. Cassirer konstatiert in seinem mehrbändigen Werk unterschiedliche Formen des Verhältnisses von Symbolen, auch mythischen Kultobjekten, religiösen Zeichen wie dem Kreuz, Kunst, Sprache und Mathematik, wenn ich mich recht erinnere, und Welt. Symbol und Gegenstand treten im Zuge der historischen Entwicklung immer weiter auseinander und münden im Prinzipiellen. Der Mythos begreift das Objekt noch direkt als die Anwesenheit des Göttlichen, wenn ich in magischen Praktiken mir etwas einverleibe oder den Götzen als mit realer Kraft ausgestattet huldige. In Sprache zeigt sich eine Entwicklung vom Konkreten und Buchstäblichen zu Metaphoriken und dann logischen Schlüssen - hin zur Abstraktion.

 Schnädelbach sah in Cassirer einen Übergang von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie und insistierte immer wieder auf der Frage, wozu Cassirer noch den "Container" Bewusstsein brauche, wenn er doch Sprache zur Verfügung habe. Eine Gruppe von Hermeneutikern ereiferte sich in jeder Sitzung, dass er doch lieber mal den Text auslegen solle, als solche Fragen zu stellen. Schaut man sich viele Lehrpläne philosophischer Institute an Universitäten heute an, dann haben die Hermeneutiker gewonnen und damit Philosophie schlicht depotenziert, so dass heute eher Soziologen die Rolle von Interpreten der Gegenwart übernehmen. Mit Schnädelbachs Haltung könnten auch Philosophen wieder stärker in den Fokus rücken.

KRITIK DES KONSERVATISMUS

Am deutlichsten zeigte sich sein zeitbezogenes Engagement in den späten 80er, frühen 90er Jahren im Feld von "Kultur und Kulturkritik". Ich lauschte einer Vorlesung zum Thema, und ein mich bis heute beeindruckendes Seminar von erschreckender Aktualität im Jahr 2024 war jenes zu "Kulturkritik in der Weimarer Republik". Es begann mit dem "Mandarinentum" in den Professorenschaften jener Jahre; eine entrückte, apolitische Haltung innerhalb einer elitären, sich abschottenden Klasse. Ich meine, dass wir auch die "Betrachtungen eines Unpolitischen" von Thomas Mann diskutierten, Spenglers "Untergang des Abendlandes", Ortega y Gassets Kritik der Massenkultur, in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Bestseller, "Der Arbeiter" von Ernst Jünger, vielleicht auch Ludwig Klages Kritik des "Logozentrismus", ein Begriff, den Jacques Derrida später verwenden sollte. Klages beeinflusste auch Walter Benjamin, ist jedoch klar einem präfaschistischen Vitalismus zuzuordnen.

 Die etwas gemeine, aber lehrreiche Pointe des Seminars eröffnete sich in der letzten Sitzung - sie galt der "Dialektik der Aufklärung" Horkheimers und Adornos. Schnädelbach, der selbst bei beiden studiert hatte, deutete sie als Zusammenfassung all der Topoi, die wir bei teilweise erzreaktionären Autoren zuvor gelesen oder in Referaten gehört hatten. Diese Kritik an seinen Lehrern ploppte immer wieder in Seminaren auf, teilweise sehr wütend - "heute wissen wir ja, wie das gemacht haben". Er begriff deren Denken in Teilen als manipulativ. Diese Bewegung fort von den Gründervätern der Kritischen Theorie zieht sich auch durch manche seiner Texte - Adornos Geschichtsphilosophie zeichne sich dadurch aus, dass er über gar keinen Begriff von Geschichte verfügt habe. Er deutete die "Dialektik der Aufklärung" als nietzscheanisch inspirierte Lebensphilosophie, nicht etwa als Neomarxismus wie noch die Studentenbewegung.

 Das berühmte Kulturindustrie-Kapitel in diesem Werk über "Aufklärung als Massenbetrug", manipulative Unterhaltungsindustrien, die doch nur die Arbeit in die Freizeit hinein verlängerten und "Fun als Stahlbad" inszenierten - war diese Kritik einfach nur eine Kombination konservativer Topoi aus den 20er Jahren? Noch als ich viel später, ich weiß nicht mehr, für welche Produktion, Herbert Schnädelbach für ein Interview anfragte, bei dem es um Horkheimer und Adorno gehen sollte, sagte er freundlich ab - mit seinen Lehrern verbinde ihn philosophisch nichts mehr. Natürlich bedankte ich mich auch für seine so prägende Lehre. Obgleich ich noch meine Zwischenprüfungsarbeit bei ihm verfasste - zu Sartres Intersubjektivitätstheorie -, wird er sich an mich nicht erinnert haben. Ich war einer in der Masse von Student*innen, die bei ihm herumsaßen. 1992 verließ er die Hamburger Universität. Ich hatte viel in meinen Nebenfächern aufzuholen, Soziologie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, und dank der Grundausbildung bei Schnädelbach erhielt ich erst mal nur Einsen im Falle der in diesen Fächern benoteten Scheine.

 Ich teile seine Sicht auf die "Dialektik der Aufklärung" allenfalls teilweise. Wie auch Habermas verfügte Schnädelbach jedoch über eine immense Sensibilität für die Tücken eines reaktionären Konservatismus. In einer breit rezipierten und angefeindeten Kritik des Christentums, erschienen zunächst in DIE ZEIT (Opens in a new window) , lebte er diese noch einmal mit voller Wucht aus.

 Seine Kritik der "Dialektik der Aufklärung" half mir dabei, die ultrakonservativen Haltungen, die sich in auch in linke Kulturkritik einschleichen können, besser zu verstehen - auch die im Freudomarxismus, das Werk würde ich dort einordnen, oft noch wirksamen impliziten Naturalismen, die von "heil", von im Kern "gesunden" Menschen ausgehen, die sodann gesellschaftlich deformiert würden - u.a. so, dass sie zu allem Überfluss auch noch "homosexuell" wurden. Dekadent.

 Das ist auf der Linken nie verschwunden, bei Adorno finden sich solche Ausfälle auch in der "Minima Moralia". Der "schwule Nazi" als Stereotyp, in der Linken noch bis in die 80er Jahre gerne angeführt, gehört auch in diesen Zusammenhang. Das sind alles auch Foucault-Themen. Das Seminar zur "Kulturkritik in der Weimarer Republik" zeigte auf, was da unterschwellig west.

 Und sich aktuell auch in der internationalen wie nationalen Politik mit aller Macht Raum verschafft. Vor allem auf der Rechten. Die reaktionären Motive aus dem im Seminar behandelten Texten tauchen allesamt gerade brutalstmöglich wieder auf. Bei Trump, Putin, DeSantis, Meloni, in Ansätzen bei Merz, in der AfD. Einer der bis heute lesenswertesten Texte von Schnädelbach ist "Was ist Neoaristotelismus?" aus den 80er Jahren. Er seziert die philosophischen Grundlagen all der Neokonservatismen brillant, so, dass der Text getrost als Gegenwartsdiagnose gelesen werden kann.

 DAS UMFASSEND VERNÜNFTIGE

In der Einleitung zu der 1992 veröffentlichten Aufsatzsammlung "Zur Rehabilitierung des animal rationale" findet sich exemplarisch eine Passage, in der die Richtung aufgezeigt wird, die mich wie nichts anderes in meinem Denken prägte und auch zu Habermas führte. Es ist in dieser Sequenz negativ formuliert, was positiv auch meine Arbeit fürs Fernsehen prägen sollte:

"Die Gleichung "Vernunft = Herrschaft" erstreckt sich somit über einige Zwischenstufen. Zunächst gilt "Vernunft = Rationalität", und dann heißt es "Rationalität = Rationalisierung", wobei der wichtige Unterschied zwischen praktischer und theoretischer Rationalität unter den Tisch fällt. Die nur als praktische Rationalität wahrgenommene Vernunft wird dann noch einmal verkürzt auf reine Zweckrationalität, d.h. auf technisch-instrumentelle Rationalität, die die Naturbeherrschung bestimmt, und auf strategische Rationaliät als soziales Herrschaftsmedium. Nachdem man davon nur noch das gemeinsame Element Herrschaft festgehalten hat, ist das Ergebnis klar: Vernunft ist Herrschaft."[5] (Opens in a new window)

 Diese Auseinandersetzung führte Schnädelbach eher mit seinen Student*innen, vor allem, um dem Erbe Kants Raum zu verschaffen und einen weiteres, umfassenderes Verständnis von Vernunft und Rationalität zu explizieren. Einem, das auf Verständlichkeit aufbaut.

Was dabei zu jenem Zeitpunkt innerphilosophisch als zu kritisieren betrachtet wurde, zeichnet allerdings zugleich ein Bild realhistorischer und global tatsächlich wirksamer politischer und ökonomischer Prozesse. So wirkt halt Rationalität ungezügelt gesellschaftlich, wenn auch nicht in den Schriften Kants. Diese Verkürzung von Vernunft auf das Instrumentelle, die Totalisierung des Strategischen ungeachtet erhobener Geltungsansprüche, das Aushebeln des Normativen, der Menschenrechte, im Sinne des Nationalen, des Funktionalen, des Herrschenwollens dominiert die Gegenwart und räumt alternative Begründungen annähernd flächendeckend ab.

 Aber gerade deshalb lohnen die Lektüren der Texte von Herbert Schnädelbach. Er entfaltet Seite um Seite Kriterien, Gründe, Zugänge, was vernünftig gedacht werden kann, ohne das Instrumentalisieren und die Strategie - wie im homo oeconomicus - zu totalisieren. Während man bei Habermas oft in den Bezügen zu allerlei anderen Denkern versinkt, schafft Schnädelbach immer das, was er als Kern des Philosophierens begriff: sich im Denken zu orientieren. Im Dialog mit Anderen um das Richtige, die besseren Gründe zu ringen, auch bei hochkomplexen Stoffen. Er generiert fortwährend so etwas wie ein Koordinatenkreuz in der (westlichen) Philosophiehistorie aus Grundbegriffen, die das Navigieren in den Texten der Klassiker so ermöglicht, dass man etwas dabei lernen kann. Für die Gegenwart.

Neben der Möglichkeit, erweiterte, empathische Formen der Vernunft auch praktisch auszuprobieren, hat mir das am meisten dabei geholfen, mich auch in meiner TV-Tätigkeit bewähren zu können. Gerade bei mehrteiligen Dokureihen, die übergreifende Thesenführungen angesichts erschlagender Mengen von Inhalten und Materialien, Historie und Aktualität erforderten, lernte man bei ihm das Rüstzeug, das bewältigen zu können.

 Man verschafft sich einen vernünftigen Überblick und arrangiert die Quellen mit guten Gründen in einer nachvollziehbaren Struktur, ohne in Unmengen von Details abzusaufen. Das liest sich einfacher, als es ist. Dank Herbert Schnädelbach konnte ich mir erarbeiten, wie man dabei vorgehen kann. Ich bin ihm dafür unendlich dankbar.

 Er ruhe in Frieden.


[1] (Opens in a new window) Schnädelbach, Herbert, Das Gesicht im Sand, in ders. Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt/M. 1992, S. 277

[2] (Opens in a new window) Ebd.

[3] (Opens in a new window) Ebd., S. 304-305

[4] (Opens in a new window) Ebd. S. 293

[5] (Opens in a new window) Ebd., S. 16-17

Topic Gesellschaft

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