Spielt der “moderne Kunstbegriff” überhaupt noch eine Rolle?
In verschiedenen Publikationen, z.B. Johannes Franzens "Wut und Wertung", viel besprochen und oft rezensiert, kursiert derzeit die mich irritierende These, durch das Internet sei nunmehr endlich das weiterhin dominante Paradigma autonomer Kunst implodiert. DIE ZEIT fasst es folgendermaßen zusammen:
"Institutionen und Gatekeeper-Posten vermittelten erfolgreich die Illusion, dass der Geschmack der Massen schlecht und Populäres peinlich sei. Diese Illusion zerplatzt gerade. Unter digitalen Bedingungen haben sich die Teilhabemöglichkeiten so verändert, dass die "Demütigung" des Publikums strukturell nicht mehr einleuchtet. Franzen beobachtet das "Rückzugsgefecht" des "modernen Kunstparadigmas"."
Quelle:
https://www.zeit.de/2024/49/wut-und-wertung-johannes-franzen-geschmack-streit-kunst (Opens in a new window)Mich interessiert dabei weniger das Buch, in dem es auch viel um Pop geht, lediglich diese eine These; es scheint mir eher für Umfelder akademischer Debatten und die letzten Leser*innen des klassischen Feuilletons verfasst worden zu sein als für jemanden wie mich, der, zwar klassisch akademisch ausgebildet, dennoch seine TV-Karriere bei BRAVO TV startete. Der dort Boygroups feierte und seit mehr als 30 Jahren mit wenig seltener konfrontiert wurde als mit dem "modernen Kunstparadigma" oder gar der Peinlichkeit des Populären. In meiner Branche bildet dieses die härteste Währung.
Einst als Schüler einer inspirierenden, mit sehr jungen linken Lehrern bevölkerten Gesamtschule forderten wir irgendwann in der zwölften Klasse ein, wir wollten jetzt auch mal Klassiker lesen statt "Damals war es Friedrich", "Die grüne Wolke" oder "Die Taxifahrerin". Den "Faust" und den "Hamlet" fanden wir anschließend ziemlich spannend. Lediglich in Fremdsprachen standen auch "The Scarlett Letter" von Hawthorne oder Guy de Maupassant auf dem Lehrplan, aber auch in diesen Fächern wurde ein heute vergessener Punk-Roman von den Lehrer*innen eingeführt, standen eher Sartre, Camus, Huxley und Golding auf dem Programm als Racine oder Shakespeare.
Mit Goethe und Benn beschäftigte ich mich eher angeregt durch Konstantin Wecker; wir hörten zwar auch die "Moldau" im Musikunterricht und lernten den Quintenzirkel. Der Lehrer jedoch zeigte sich klar an den Beatles orientiert. Die Sozialisation erfolgte über Soft Cells "Tainted Love" in der hannöverschen Innenstadt-Disco, tanzend zu Kurtis Blow irgendwo hinter Burgdorf, der Laden hieß "Farmer's Inn" und lockte Kiffer aus Hannover an oder bei "The Cure"-Konzerten in der Sporthalle. All das geschah in den frühen 80er Jahren.
Ab 1985 lasen wir die TEMPO, in der auch selten Grass, dafür aber Phillip Boa diskutiert wurde; die Spex kauften wir später für die WG-Küche zusammen mit der POP ROCKY. Das mag alles Ausnahmesozialisation gewesen sein; Mitschüler, die Wege des Betonbauers, Malermeisters oder als Sohn eines Gabelstapelfarmers Jura studierten und später Kanzleiimperien gründeten, das machte die IGS im Gegensatz zum benachbarten Gymnasium möglich, interessierten sich auch eher für die Neue Deutsche Welle, BAP und Herbert Grönemeyer. Das mögen Ausnahmebiografien gewesen sein; "Effi Briest" hat keiner von denen je erwähnt.
In schwulen Subkulturen, in die ich vordrang, war Oper präsent, ansonsten aber der auf gay gebürstete Bad Taste-Trash rund um das Schmidt-Theater und Georgette Dee, House-Music und Schlager - zu Dschingis Khan in der “Wunderbar” abstürzen. Im Schauspielhaus integrierten Regisseure die Einstürzenden Neubauten und die Toten Hosen. Wir freuten uns über "Alles nichts, oder?" mit Hella von Sinnen und Hugo Egon-Balder auf RTL, diskutiert wurde die "Wetten das?!"-Verarschung der Titanic - die mit den Buntstiften - und klassische Hochkultur trat wenn, dann über "Das literarische Quartett" in den Smalltalk noch zu Zeiten meines Philosophiestudiums ein. Es kursierten "Kommerzkritiken", oft irgendwie inspiriert durch Horkheimer und Adorno, aber das, um "Indie-" und "Alternative" stark zu reden und Nirvana oder Pearl Jam gegen Eurodance in Stellung zu bringen, oft massiv heteronormativ und implizit rassistisch eingefärbt (ja, ich weiß, welche progressiven Positionen Kurt Cobain vertrat; von meinen schwulen Freunden hat ihn keiner gehört).
Die Pop Art, auch Kippenberger, Oehlen und andere hatten den Malerfürsten-Habitus längst hinter sich gelassen und machten sich stets besoffen über alles lustig, wenn sie Harzer Käse in Galerien verdrahteten. Kippenberger lauschte im Schwarzwald beim Kunstschaffen Whitney Houstons "Bodyguard"-Soundtrack, und auch mein Lieblingsprofessor Herbert Schnädelbach sinnierte im Seminar über "Der mit dem Wolf tanzt", mag er parallel auch Texte über Wagners Ring verfasst haben.
Als wir TRACKS bei ARTE übernahmen, galten wir zwar der Vorgängergeneration als so etwas wie eine Kohorte der bösen Variante des Populären; immerhin gelang es dem letzten noch existierenden Sendeplatz für klassischen Dokumentarfilm mit flexiblen Längen, kaum noch vorstellbar, mal 50, mal 72 Minuten, den Ausstrahlungsbeginn dieses Popkultur-Magazins jede Woche zu variieren - weil er vor uns programmiert war. Gedünkelt wurde wenig.
Als wir irgendwann in das, was mal Hochkultur war, vorstießen, eine 10teilige ARTE-Doku-Reihe plus 2 Shows zu "Europas Erbe - Die großen Dramatiker" produzierten, hielt man uns von Sender-Seite an, doch bitte die Klassiker vom Sockel zu stoßen, ihnen mit nicht allzu viel Respekt zu begegnen und bloß nicht Kunst zu machen. Wir setzten viele Pop-Stilmittel ein. So transformierten wir sämtliche Dramatiker in Reenactments zu Figuren, die in der Aktualität agieren - Shakespeare mutierte zum Hollywood-Regisseur mit großer Kino-Premiere, Moliére betrieb eine über Land ziehende, freie Theatertruppe und Tschechow spazierte mit Gummistiefeln über Äcker. Wieso auf einer Kiste, die seine Leiche transportierte, "Austern Bettges" stand, das erzähle ich jetzt nicht; wie es dazu kam, kann in Tscheschows Biografie nachgelesen werden.
Durch die jeweiligen Folgen führten Marianne Faithfull, Max Raabe, Bernard H. Levy, Isabelle Huppert und Juliette Binoche; uns zu Seite stand der unvergleichliche C. Bernd Sucher, der seine Reihe "Suchers Leidenschaften" über die Größen aus Literatur und Theater dadurch popularisierte, dass er Schauspieler wie Otto Sander die Originalzitate lesen ließ. Wir setzten Zeichentrick-Sequenzen ein und bastelten aus den Porträts der Porträtierten ziemlich poppige Animationen, in denen Sophokles selbst zu Worte kam. Das Drehbuch zu Tschechow galt als zu akademisch, musste überarbeitet werden, und Jonathan Meese referierte als Einführung in Goethe über Stoffwechsel inmitten Weimars; Goethe selbst inszenierten wir in CSI-Ästhetik als Naturforscher, auch ein Zweig seines Schaffens.
Mir ist wenn, dann im Pop-Feld so etwas wie eine Gatekeeper-Attitude im Massenmedium begegnet, ist diese Band jetzt credible?, und das stärker auf der französischen Seite. Oder bei der Auswahl von Opern-Inszenierungen bei einer Reihe mit dem Titel "Die schönsten Opern aller Zeiten", der auch nicht vom klassischen Kunstbegriff zehrte. Ich habe diesen angeblich erst jetzt erodierenden Kunstbegriff oder damit korrespondierende Gatekeeper-Haltungen beim Fernsehen nie erlebt. Es gab Kontroversen zwischen eher tradierten Unterhaltungsformen - Tony Marshall, Mike Krüger - und dem, was wir cool fanden, aber ein Begriff der Autonomie der Kunst spielte da keine Rolle.
Aggressiver Dünkel begegnete mir erst an der Hochschule für bildende Künste - von Lehrenden, die selbst noch durch Kippenberger und Oehlen sozialisiert waren und privat AC/DC hörten, um sich rückwirkend über die Ästhetik von Musikvideos zu empören. Es gab Offenheit für Jazz, ansonsten zeigte man sich fasziniert von einem Promovenden, der lang und umständlich Partituren interpretierte. Vor allem, weil man selbst von Harmonielehre oder barocken Stilistiken keine Ahnung hatte und selbst nicht Noten lesen konnte. Es war - mal ab von dem Professor, der irgendwann für die Inszenierung einer in Black Communities lange schon kursierenden Urban Legend einen Oscar erhielt und später für Filme über hochkommerzialisierte Sport-Events Preise erhielt, sich nun aber dazu genötigt sah, Walter Benjamin zu zitieren und Deleuze-Seminare zu geben - eine Generation, die zum Teil dem Spex-Umfeld entstammte, zum anderen mit Foucault, Deleuze/Guattari und Derrida die große Rebellion gegen die formatierte abendländische Philosophie und Übervater Habermas losgetreten hatte. Diese traten nun auf einmal in Teilen als Gralshüter der reinen Lehre auf. Im Bereich des Dokumentarfilms feierte man 60er-Jahre-Anachronismen wie das "Direct Cinema" aggressiv ab; ließ nur gelten , was auf randständigen Festivals Preise einfuhr und auch sonst dazu neigte, an jenen Avantgarden seit den 50er Jahren zu kleben, die sich der Pop Art verweigerten.
Mich verblüffte das, weil sich hier eine Strenge, ein Dogmatismus und eine Überheblichkeit in Sphären eingeschlichen hatte, die noch zu Zeiten meines Studiums in den späten 80er und frühen 90er Jahren eher zu den offenen Bereichen des Denkens gehört hatten; das Fragment, Dissidenz und Dissonanz lobten und alle dünkelnden Entwürfe von Tisch fegten. Dass diese dann selbst konservativ werden können, das kann man auch bei manchen Kolumnisten nachvollziehen.
Ich frage mich aber, ob der "moderne Kunstbegriff" hier wirklich diskursiv wirksam bleibt. Oder ob es nicht vielmehr um institutionelle Selbstlegitimierung geht in Zeiten, da ganze Wissensbereiche brutal unter Beschuss stehen - eine Selbstrechtfertigung, die dazu neigt, in Selbstreferentialität zu münden. Ähnliches schien in mir den Medienwissenschaften auch zu wirken, der Zweitgutachter meiner Dissertation lehrte in diesem Bereich - es wurde viel Aufwand getrieben, Veröffentlichungslisten durch Symposien zu füllen und das eigene Fach als überhaupt wissenschaftlich zu legitimieren. Ich stieß jedoch selten auf valides Wissen zur Medienproduktion, dafür aber viele steile Thesen. Das mündete in einen starren Formalismus der Darstellung, die sich ihrem Gegenstand eher verweigerte - ja, schreibt sich leicht dahin. Es interessierte sich aber auch niemand für Produktionserfahrungen; die Referenz bildete der jeweils konkurrierende Lehrstuhl und das Subsystem Medienwissenschaft im gesellschaftlichen System Wissenschaft, nicht die soziale Realität; in der Kunsthochschule oft die konkurrierende Fachholschule mit ihrem "Kunsthandwerk".
Trotz alledem zog es mich ja auch da hin, weil diese Omnipräsenz, Dominanz und auch das sehr autoritäre Verfechten dessen, was als populär gilt, nicht etwa Gatekeeper-Funktionen, die Medienproduktion anleitet und, je dünner die Luft durch die Konkurrenz neuer und sozialer Medien wird, desto strikter und nivellierender durchgesetzt wird.
Tatsächlich ist es brandaktuell, die alten Horkheimer- und Adorno-Bonmots heraus zu kramen, "Kulturindustrie schlägt alles mit Ähnlichkeit", "das Kollektiv der Lacher parodiert die Menschheit", "Fun ist ein Stahlbad" - und ich frage mich ernsthaft, welchen Sinn es aktuell in Zeiten macht, da man mit Trash TV-Methoden US-Präsident wird, nun den modernen Kunstbegriff zu attackieren, den schon Duchamp abräumte und der mit der Pop Art Lichtensteins und Warhols längst obsolet wurde. Aktuell erscheint mir nicht unbedingt Adornos Diskursherrschaft das zentrale Problem zu sein.
Die Autonomie der Kunst wird ja auch eher bei "Winnetou" und "Pipi Langstrumpf" verteidigt, und das mit ganz anderen Argumenten als denen Clement Greenbergs, wo - Avantgarde statt Kitsch - es eher um reflexive Materialästhetiken ging. Also Fragen wie dem Einsatz von Farbe, der kunstgeschichtlichen Referenz und der Verweigerung von Nutzbarmachung für totalitäre Propaganda. Abstrakt statt figurativ entzieht sich Leni Riefenstahl; Jazz ohne Text der Sprache von DIE WELT, CICERO oder JUNGE FREIHEIT.
"Winnetou" und "Pipi Langstrumpf", Lisa Eckhart oder Dieter Nuhr situieren sich aber in einem ganz anderen Feld, eher Kant versus Neoaristotelismus; es wird historisch gewachsene Sittlichkeit, auch im Populären aufzufinden, gegen die angeblich "zersetzende" Moralität von "woke" ins Feld geführt - auch bei der Verteidigung von Schnitzelnamen. Sie verteidigen das eigene Leben gegen das der Marginalisierten als das immer schon richtige Leben. Da schleichen sich mehr ein als nur "Identitätsfragen"; da geht es um sich abschottende Lebenswelten und deren Hierarchien verteidigende Sprachen. Da wirken tatsächlich Gatekeeper, die über Zugehörigkeit und Ausschluss z.B. in medialen Umsetzungen entscheiden und das, was z.B. dem "konservativen Publikum" nicht zuzumuten sei. Da setzt auch ein Kehlmann an, wenn er das Regietheater attackiert - gegen den modernen Begriff der Kunstautonomie gerichtet.
Das mag in den Literaturwissenschaften vor allem rund um die Siegener Pop-Zeitschrift anders sein. Ein Aufsatz Moritz Baßlers zum "Midcult" erfuhr hier starke Resonanz. In diesem heißt es unter anderem:
Liest man Ulf Poschardt gegen den "Elfenbeinturm" anwettern und sieht Milliardär Trump bei Mac Donalds seine Anti-Eliten-Show abziehen, dann ist das ja nicht nur falsch, was Baßler schreibt. Der Text zieht sich allerdings auch zu sehr auf die Legitimation des eigenen Fachs zurück. Er öffnet sich - anders als Horkheimer und Adorno - eher am Rande dem, was diese ästhetischen Formen mit und aus Rezipienten und auch Produzierenden machen, sich wohlfühlen, und analysiert m.E. ungenügend, was gerade die am "Normalen" andockenden Produktionen für nivellierende Wirkungen erzielen können in den immergleichen Regiokrimi-, Soko- und Bergdoktor-Folgen mit ihrem Hass auf die Nische, das formal Abweichende und alles, was auch nur entfernt akademisch riecht oder klingt.
Der Text von Baßler landet teilweise bei anderen Ergebnissen als ich, aber ich denke schon, dass er unter Bedingungen der Aktualität durchaus richtige Fragen stellt; solche, die man gar nicht stellen kann, wenn man sich allzu fasziniert von einem modernen Kunstbegriff zeigt, den auch ein Neo Rauch allenfalls suggeriert in seiner Variante der überaus marktfähigen Pop Art. Sie rückt wieder handwerkliches Können in den Mittelpunkt, schwenkt den Weihrauch teutonischer Tiefe und vernebelt so alles, was Warhol an Witz zu bieten hatte oder von Picasso bis Pollock und Rauschenberg längst beerdigt wurde. Diese Wiedergänger-Künste, die auch massenhaft Menschen in Caspar David Friedrich-Ausstellungen treiben oder das, was im TV-Kontext als "anspruchsvoll" gilt wie z.B. das kaputt inszenierte "Berlin Babylon" mit seinen monumentalen Sehnsüchten, die sind doch aktuell erheblich problematischer als moderne Kunstbegriffe.
Wobei man das auch nicht vollumgänglich versteht, wenn man alles immer nur aus Rezipientenperspektive betrachtet, weil das halt einfacher ist. Man muss auch wieder die Produktionsbedingungen, somit die Produktionsverhältnisse, und die Produktivkraftentwicklung in den Fokus rücken. Sonst begreift man nicht, wie sich Teilnehmendenperspektiven verschränken in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen - nicht als Basis, sondern als Entstehungsort kultureller Güter.