Let's imagine it as OUR Year!
Al Kennedy formuliert in seinem Guardian-Jahresrückblick das, was ich so auch hätte schreiben wollen. Nein, stimmt gar nicht. Gerade nicht hätte schreiben wollen. Die Kleben an all dem Furchtbaren, dem radikalen und menschenrechtswidrigen Ruck hin zu Retropien, neofeudalen Bestrebungen von High Tech Milliardären und vielem anderen mehr, es ändert halt auch nix. Schön war, dass mein FC ST. Pauli aufstieg und sonst nicht allzu viel.
Das letzte Jahre kontaminierte wie ein übers Land kriechender Giftschleim, gemixt in den Laboren zombiesker Ideologieproduktion, mögliche Zukünfte und ließ so vieles verdorren, ersticken, in Schwindsucht verfallen, was als Potenzial gedacht war.
Fraglich bleibt jedoch, ob eine Fixierung auf die Übel sie überwinden kann. Jean-Paul Sartre formuliert so schön in "Das Imaginäre", dass Freiheit aus dem Nichts entstünde - jenem der Vorstellungskraft. Deren Inhalte existieren halt nicht im selben Sinne wie ein Stuhl, ein Trump, wie Musks X oder die Klimakatastrophe; als freie Fantasie in einem gedruckten Roman, abstrakter Kunst oder einer Jazz-Improvisation mag sich ja materialisieren, aber die Vorstellung als solche initiiert erst aus dem - ja aus was denn nun? -, hm, Nicht-Existenten heraus das Neue. Man kann auch Action Painting betreiben und das Ganze eher als Ausdruck der Physis betrachten oder dank jahrelangen Übens von Tonleitern die Virtuosität eines Charly Parker erlangen, und doch, da ist ja was, was diesen Fähigkeiten als Idee zuvor Form verleiht.
Immanuel Kant gelangte so zu der Vorstellung zweier Reiche, dem des Intelligiblen und dem des Empirischen, also Denken und Sinnlichkeit - eine von Kausalität durchdrungene empirische Welt bräuchte etwas außerhalb ihrer, um neue Abfolgen in ihr in Gang zu setzen. Nur so könne Freiheit gedacht werden. Somit sei die Maxime, die Absicht, die Handlungen anstoße, im Intelligiblen zu verorten. Er setzte damit Descartes' Vorstellung der zwei Substanzen, Körper und Geist, und antike, platonische Ansätze fort. Gilles Deleuze lieh sich bei Henri Bergson die Idee eines Virtuellen, existent parallel zur physischen Welt, in dem Erinnerungen gespeichert würden und durch Rekombination, Verschiebung und Verdichtung z.B. in Filmen zur Innovation führten.
Man kann das religiös oder sonstwie auflösen; Sartres - auf Husserl und Hegel -aufbauende Idee, dass es gerade das Nichts, die Negation dessen, was ist, sei, die Freiheit erst ermögliche, verfügt doch über besonders viel Charme.
Klar, die gerade an Macht gewinnenden Libertären, die Javier Miliei, Argentiniens Präsidenten, ebenso abfeiern wie Elon Musk und Peter Thiel, Risikokapitalgeber bei PayPal, die sprechen auch gerade viel von "Disruption", also Unterbrechung, Störung; Vorstellungen eines radikalen Bruchs mit Konzeptionen demokratischer Staatlichkeit meinen Sie, das Abräumen alles unter "sozial" verbuchten, und hätten letztlich gerne eine Unternehmerdiktatur - weil ja nur diese "schöpferisch tätig sein" könnten und in der Lage seien, komplexe Strukturen und Prozesse zu steuern.
Sie knüpfen dabei wohl an das Konzept "schöpferischer Zerstörung" Joseph Schumpeters an, das auch eine Margaret Thatcher umsetzte, als sie auf Großbritannien dem Freihandel aussetzte, Gewerkschaften zerstörte und eine Ökonomie anschob, die sich primär um Finanzmarkt und Immobilienindustrie gruppierte. So sieht London heute dann ja auch aus. Schon sie flankierte diese "schöpferische Zerstörung" retrotopisch: Falkland-Krieg zur Nährung des Nationalismus, "Clause 28 (Opens in a new window)" zum Verdrängen von Queers aus der Öffentlichkeit, ein offenes Spiel mit Rassismen und "konservative Werte". Putin baute das dann weiter aus in einer nur scheinbaren Demokratie, und der nationalistisch-rassistische Strang der US-Republikaner knüpft auch daran an.
Das Frappierende an all den alt-, neu- und sonstwie-Rechten ist ja deren, da hat Al Kennedy völlig recht, brutale Fantasie- und Lieblosigkeit. Die können auch gar kein "wozu denn nun schöpferisch zerstören?" beantworten, weil alles, was dann kommt, eine Mischung aus "die Reichen sollen reicher werden", einer Ökonomie als Selbstzweck und "Visionen" des guten Lebens aus dem 19. Jahrhundert sind. Eben der Zeit, als die bürgerliche Kleinfamilie normativ absolut gesetzt wurde, um das wilde Treiben in Gängevierteln und Elendsquartieren zu unterbinden. Die kennen Familie auch gar nicht als Vehikel zum Glück oder wenigstens als Binnensolidarität im Kleinen; nur als Erbfolge und völkisch unterfütterten Erhalt der "Nation", die sie als Abstammungsgemeinschaft denken - und eben zudem als Instrument der Sozialdisziplinierung.
Von solchen Konzeptionen kann mankurz mal was haben, wenn man sich als kontrafaktisch als Teil eines Größeren fühlt bei einem Aufmarsch gegen einen CSD-Demo wie die in Bautzen, wo man alle von Fortpflanzung abweichende Sexualität als "Volkstod" klassifiziert und kehrt dann doch zurück ins Elend, die Öde und all das Crystal Meth des tragischen Alltags. Dieses dauernde Weghabenwollen Anderer als einzigem Lebensziel, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das glücklich macht. Negativziele führen nicht zu Zufriedenheit. Es bedarf eines höheren Aufwands an Fantasie, eine 3 Zimmer-Wohnung mit Ikea-Möbeln einzurichten, als er sich in den kulturellen Vorstellungen der Rechten zeigt.
Nimmt man hingegen Sartre ernst, dass im Nichten des Gegebenen sich Imagination entfalten kann, dann dürfte dies Terrain progressiver Kräfte sein. Das fängt schon mit Fragen danach an wie der "was für eine Ökonomie wäre es denn, die für die Menschen agiert?". Armatya Sen hat sie gestellt und einen Katalog an menschlichen Grundfähigkeiten erstellt (Opens in a new window) als Antwort. Keine Minimalkonstruktion wie im Falle des (Noch-)Bürgergeldes, sondern umfassende positive Freiheiten, die allen gleichermaßen zu gewähren seien. Dafür sei die Ökonomie da, dass alle überall diese leben können, nicht für die Gewinnmaxierung Einzelner. Dass sie ihren individuellen Imaginationsräume nutzen können, eben so zu leben, wie sie das wollen.
Aktuell populär sind gegenteilige Modelle. Es wird "systemisch" argumentiert. Richtig sei, was sich einfügt in systemrelevante Notwendigkeiten. Schufte und diene, ganz egal, ob Du davon etwas hast - und wenn Du Dir Deine Wohnung in der Stadt nicht leisten kannst, dann zieh doch aufs Land. Die Frage nach dem Glück stellt schon gar keiner mehr. Systemrelevant ist, was die materielle Reproduktion des ökonomischen Systems stützt und dessen Umweltbeherrschung noch im Falle ökologischer Folgeschäden trotzdem ausbaut. Die "Staatswerdung der High Tech-Oligarchen", die angesichts der Kopplung Elon Musks an die US-Regierung viele konstatieren, rechtfertigt sich so: es sei halt notwendig, um die ökonomischen Prozesse ungestört gewähren zu lassen. Damit wenige davon etwas haben, so what, die Anderen sind halt dazu da, sich so einzufügen, dass das auch weiterhin gut funktioniert und ihre Energien in die Systeme geleitet werden.
Die Kritik an dieser Haltung eskaliert gerade rund um den Fall Luigi Mangione in den USA. Dieser wird beschuldigt, den CEO des Gesundheitsversicherungskonzerns UnitedHealthcare, Brian Thompson, auf offener Straße erschossen zu haben. Während die Staatsmacht den Kameras ihn in einer Inszenierung mitsamt New Yorker Bürgermeister in Handschellen über New Yorker Piers flanierend - wie in einer Osterprozession - als Terroristen vorführt, avancierte er zugleich zum Internethelden. Ein charismatischer, weit überdurchschnittlich attraktiver junger Mann, dessen "Mugshots", Polizeifotos bei der Verhaftung, wirken, als könnten sie auch als Vogue-Cover funktionieren. In sozialen Medien feiern ihn nun viele, und auch jene, die - wie ich! - die Tat als solche scharf verurteilen, bringen viele Verständnis für seine Motivation auf.
Diese, so besagt es ein Manifest, das bei seiner Verhaftung bei ihm gefunden wurde, liege darin, dass er das Prinzip des "Abschöpfens" durch Konzerne kritisiert. UnitedHealthcare gilt als Unternehmen, das zwar deftige Summen von Versicherten einzöge, dann jedoch die Kostenübernahme von auch überlebensnotwendigen Behandlungen verweigere. Aus Prinzip. Es setze sogar KI ein, um diese Ablehnungsbescheide zu verschicken, ohne die Fälle groß zu prüfen. Weil es davon ausgehe, dass die meisten Versicherten nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügten, juristisch dagegen vorzugehen. Ökonomie für die Menschen? Pustekuchen.
Nicht zufällig reagierte Elon Musk prompt auf diesen Fall. Auf seiner Plattform X formulierte er, dass es doch selbstverständlich sei, dass Konzernchefs im Sinne ihrer Anteilseigner auch rücksichtslos vorgingen. Das sei ja ihr Job, für Gewinnmaximierung zu sorgen. Die neuen Libertären tendieren zu solchen Vorstellungen von Gesellschaft: eben nicht Wähler*innen sollten die Politik bestimmen, sondern Anteilseigner am ökonomischen Ganzen.
Aber für wen oder was? Es mag konstruiert erscheinen, doch auch Bankrenrettungen in Wirtschaftskrisen, in die der Staat dann vorübergehend als Anteilseigner eintritt (aber bestimmt nicht, um Geld an die auszuschütten, die dort ihr Konto haben) oder die Coronahilfen zur Stützung "systemrelevanter Bereiche", die dann vermutlich direkt oder indirekt an die Anteileigner überwiesen wurden, folgen einer ähnlichen Logik - während alle Solo-Selbstständigen, die ich kenne, ihre Hilfen zurücküberweisen mussten.
Das Prinzip ist überall das gleiche, aber mal ab von Gerechtigkeitsvorstellungen - wo wird denn da noch Fantasie oder Imaginationskraft aufgewendet zu fragen, wen oder was das noch glücklich macht? Welche Vorstellung des guten Lebens nicht nur Elon Musk, sondern als Möglichkeit für alle gleichermaßen zeigt sich da? Ja, das neue iPhone, Auto, ein neues Sofa. Wem das reicht, okay ...
Die Diskussion rund um den Mangione-Fall tendiert stark zu Modellen, wie Sen sie vorschlug. Also: nun mal her mit der günstigen Krankenversicherung für alle! Für Libertäre ist das schon Sozialismus, in Formulierungen wie "freie Entfaltung der Persönlichkeit" oder "Pursuit of Happiness" tauchen diese Ideen implizit aber auch deutlich in der deutschen und amerikanischen Verfassung auf. Fällt halt schwer, wenn man die Arztrechnung nicht begleichen kann. Man muss davon ausgehen, dass jene, die auf solche Kriterien verzichten, mit diesen Verfassungen nicht viel am Hut haben.
Diese eruptive, durchaus auch sexuell aufgeladene Idolisierung Mangiones verweist zudem auf eine alte Unterscheidung Marcuses - die zwischen Realitäts- und Lustprinzip. Das - bei Marcuse psychoanalytisch inspirierte - Realitätsprinzip besagt, dass man sich halt zu arrangieren habe mit dem, was nun mal der Fall sei. Auch Scheißjobs anzunehmen, um sich gerade so noch eine Wohnung leisten zu können, die so dolle nun auch nicht ist, und lieber anpassen an das, was Chef*innen sagen - wer beißt schon in die Hand, die einen füttert? Das Lustprinzip opponiert vehement dagegen - wen befriedigt denn bitte so ein Leben? Es ist viel Aufwand, Triebsublimierung, nötig, dessen Einwände fortwährend zum Schweigen zu bringen.
Betrachtet man Popkultur als Labor des gesellschaftlich Imaginären, so ist kein Zufall, dass eine Berufung auf diese Einwände des Lust- gegen das Realitätsprinzip lange fester Bestandteil eines juvenilen Hedonismus waren. Prototypisch wohl in "Birth, School, Work, Death" von The Godfathers. Den zu leben ist nur möglich im Rahmen der Modelle Sens - wenn gesellschaftlich garantierte Grundlagen dafür installiert wurden. Vielleicht bin ich zu alt, um das noch mitzubekommen - aber taucht das in Popkultur aktuell noch auf? Also in der des letzten Jahres? Wenn Nemo den binären Code im Rahmen des ESC knackt und jubiliert, da schon. Und sonst? Beispiele gerne in die Kommentare.
Will man mit Sartre Freiheit durch Negation mittels Imagination gewinnen, dann läge es doch aber nahe, genau das popkulturell durch und durch vom Lustprinzip angestachelt zu verhandeln, was Al Kennedy im Guardian als Mangel der Rechten auszeichnet: "hope, joy, love". Aber vielleicht nicht im Sinne dauernden Liebeskummers wie im Falle Taylor Swifts, sondern als Vehikel, in konkreten Fantasien und Utopien aufzuzeigen, was denn das hieße unter aktuellen Bedingungen, Hope, Joy and Love zu leben, ohne dass Andere darunter leiden müssen.
Mir erscheint, dass vor lauter "gegen rechts" und Kulturkritik Produktives in dieser Richtung auch von progressiven Kräften eher selten ausgestaltet wird.
Popkultur muss da schon immer weit vorne mit dabei sein, um dergleichen zu distribuieren, für Breitenwirkung zu sorgen. Ich denke, es gibt Handlungsbedarf bei Entfaltung des Lustprinzips in der Imagination - mag die Welt aktuell auch eher erscheinen wie ein besonders fieser Film voller brutaler Horror-Clowns.
Als Appell habe ich das mal in einen neuen Track mitsamt Video eingebaut. Das sei mein Silvester- und Neujahrsgruß. Alles Gute für 2025!
https://www.youtube.com/watch?v=cLi5hkwPhL0 (Opens in a new window)
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