Internet und Freiheit — Issue #98
Internet und Freiheit — für viele von uns ist die Existenz von beidem nicht mehr wegzudenken. Wir kennen die Welt kaum mehr ohne. Und wir kennen zu wenig den Zusammenhang von beidem miteinander. Das Internet, als Idee, dass wir alle mit allen kommunizieren können, ist nichts wert, wenn Staaten (und Unternehmen) Inhalte zensieren und der Ruf nach Freiheit und Menschenrechten nicht gehört werden kann. Freiheit wird in Zukunft immer schwieriger zu erhalten sein, wenn wir uns nicht klar, machen, dass das Internet und die digitale Infrastruktur generell mittlerweile Grundlage von allem ist und wir uns im eigenen Land und in internationalen Gremien dafür einsetzen müssen, dass wir eine digitale Welt auf einem Netzwerk aufbauen, dass offen und frei ist. Mein Newsletter heute soll zeigen, warum diese Themen so grundlegend und so wichtig sind und warum sie nicht länger ein Nischendasein fristen dürfen.
Viel Spaß beim Lesen
Ann Cathrin 🌊
WHAT TO KNOW
Zhina Mahsa Amini wurde von der iranischen Sittenpolizei geschlagen und misshandelt, weil sie ihr Kopftuch, das in Iran alle Mädchen und Frauen ab neun Jahren verpflichtend tragen müssen, nicht ordnungsgemäß trug. Sie starb kurz darauf an ihren Verletzungen. Seit mehreren Tagen gehen in Iran nun vor allem Frauen, aber auch Männer auf die Straße und protestieren gegen das iranische Regime. Sie fordern abermals, dass sie als Frauen in Freiheit leben können und sich nicht dem religiösen Regime und vor allem dessen Kleidungsvorschriften zu unterwerfen haben. Zig Frauen ziehen mutig ihr Kopftuch aus, gehen ohne es auf die Straße und verbrennen es in Protestaktionen in zahlreichen Städten. Bis heute sind mehrere Demonstrantinnen bereits erschossen worden, etliche in Haft, darunter auch Journalist:innen — auch die, die über Zhina Mahsa Amini als erste berichtete.
Das iranische Regime hat abermals das Internet abgeschaltet. Also das, das die Iraner:innen mit dem Rest der Welt verbindet. Das iranische „Intranet“ funktioniert weiterhin. Iran versucht ebenfalls wie China und Russland und andere autoritäre Staaten schon länger ein eigenes „souveränes“ Internet aufzubauen, über das sie ihre Bevölkerung noch besser kontrollieren können. Das iranische Regime versucht auch so zu verhindern, dass Bilder und Videos aus dem Land nach außen dringen und so die Iraner:innen über die aktuelle Situation und die Proteste den Rest der Welt aufmerksam machen können. Facebook, Twitter und andere soziale Netzwerke sind in Iran schon lange gesperrt — Instagram und WhatsApp hingegen funktionierten bis vor Kurzem. Aktivist:innen unterstellen Meta, dem Konzern hinter WhatsApp und Instagram, dass es aktuell mit dem iranischen Regime kooperiert und sowohl Inhalte zensiert, als auch den Zugang blockiert (Opens in a new window).
Für mich müsste feministische Außen- und Digitalpolitik jetzt zeigen, dass sie mehr ist als ein Label, um Fördergelder für Projekte zu bekommen und nicht als ein Catch-all-Begriff herhalten muss, der mit jeglichen Forderungen für ein Internet (oder eine Außenpolitik) für alle gefüllt wird. Nicht falsch verstehen: Ich bezeichne mich selbst als Feministin. Den grundlegenden Anliegen kann ich sehr viel abgewinnen und ich unterstütze sie. Ein diskriminierungsfreies Internet für alle ist auch mein Anliegen. Ich halte es nur nicht für sinnvoll, jegliche Forderungen für mehr Gleichheit und gegen Diskriminierungen (wahlweise auch noch Klimaschutz) unter „Feminismus“ zu subsumieren und es lediglich bei Forderungen nach einer „feministischen [hier beliebiges Politikfeld einfügen]“ zu belassen und weder selbst aktiv zu handeln, noch (die Bundesregierung) in Situationen wie dieser zu aktiven Handlungen aufzufordern, die das Leben von Frauen aktiv verbessern könnte, bzw. ein Eintreten für deren Rechte wäre. Wer für all das eintreten möchte, der oder die kann sich gerne, wenn es denn unbedingt ein Label braucht, für eine menschenrechtsbasierte Digitalpolitik (oder Außenpolitik) einsetzen, denn die würde genau das alles inkludieren. So ist das alles eine Verwässerung feministischer Anliegen, die gerade jetzt so dringend gehört werden müssten. Ein Feminismus, der jetzt schweigt, ist nicht viel wert.
Wer jetzt aktiv was gegen z.B. Internetzensur tun möchte, kann sich ein kleines Plugin installieren (Snowflake (Opens in a new window) — für jeden mit Mozilla oder Chrome easy machbar, anderes fordert schon mehr technisches Wissen, aber jede Kleinigkeit hilft). Hier haben wir von LOAD dazu mal was aufgeschrieben (Opens in a new window). Auch über Signal kann man einen Proxy bereitstellen (Opens in a new window). Wer wissen will, was den Iranerinnen jetzt helfen könnte, was eine feministische Außenpolitik jetzt tun müsste, und was überhaupt gerade dort passiert, der oder die folge unter anderem diesen Personen:
Gilda Sahebi (Opens in a new window), Natalie Amiri (Opens in a new window), Ali Fathollah-Nejad (Opens in a new window), Mahsa Alimardani (Opens in a new window), Golineh Atai (Opens in a new window), Isabel Schayani (Opens in a new window)
https://www.wired.com/story/iran-protests-2022-internet-shutdown-whatsapp/?utm_campaign=Ann%20Cathrin%27s%20Digital%20Digest&utm_medium=email&utm_source=Revue%20newsletter (Opens in a new window)Bleiben wir beim Internet, das autoritäre Regime noch stärker kontrollieren wollen. Nicht nur ihr eigenes — sofern sie sich denn irgendwie ein eigenes aufbauen konnten — sondern unser aller Internet. Kommende Woche stehen wichtige Wahlen der ITU an und sie sollten uns mehr interessieren.
Der ITU, der internationalen Fernmeldeorganisation, einer UN-Organisation, steht aktuell ein chinesischer Generalsekretär vor. Nun wird Woche wird neu gewählt und zur Wahl stehen eine Kandidatin aus den USA und ein Kandidat aus Russland. Vermutlich könnt Ihr Euch schon denken was die Konfliktlinien hier sind: Der russische Vertreter kämpft wie seien Land für ein Internet, das stärker kontrolliert wird und unter „sicher“ etwas anderes versteht, als viele demokratischen Länder. Die amerikanische Kandidatin steht für das Lager, das für ein offenes, freies und sicheres Internet steht, wie wir es bisher kennen. Eines, deren logische Infrastruktur durch einen Multi-Stakeholder-Ansatz gestaltet wird und nicht durch staatliche Interessen.
Das Internet und Technologie ist politisch geworden. Die Bedeutung, die diese Fragen der Governance und Standardisierung für unser aller Leben haben, ist wohl noch kaum jemandem klar. Aber durch solche Gremien werden Grundlagen gesetzt, die nicht nur für die Einhaltung der Menschenrechte (z.B. den freien Fluss von Informationen, Privatsphäre) wichtig sind, sondern auch für unseren wirtschaftlichen Wohlstand. Denn wenn Staaten die Standards durchsetzen, die ihre heimischen Firmen in ihren Produkten entwickelt haben, dann haben diese auch einen wirtschaftlichen Vorteil.
Wie die Wahlen in Bukarest die kommende Woche ausgehen, mag keiner vorauszusagen. Es scheint sehr knapp zu werden. Es werden vor allem Länder des globalen Südens sein, auf die es ankommt. Das zeigt abermals, dass sich westliche Demokratien stärker um Kooperation mit dem globalen Süden bemühen muss. Diese fühlen sich häufig übergangen und ignoriert; bei Multi-Stakeholder-Konsultationen nicht ernst genug genommen.
Warum Internet Governance so wichtig ist und warum es generell demokratische Allianzen dringend braucht, habe ich übrigens mit meinen Kolleg:innen in dieser Publikation aufgeschrieben (Opens in a new window).
Dass ein globales offenes und freies Internet wichtig ist, das sagte auch der lettische Präsident bei seiner Rede vor der UN Vollversammlung (Opens in a new window).
https://www.economist.com/international/2022/09/20/an-election-that-could-make-the-global-internet-safer-for-autocrats?utm_campaign=Ann%20Cathrin%27s%20Digital%20Digest&utm_medium=email&utm_source=Revue%20newsletter (Opens in a new window)https://thediplomat.com/2022/08/chinas-digital-inroads-in-the-global-south/ (Opens in a new window)Hier gibt es einen kleinen Deep-dive in Chinas Einfluss im ICT-Sektor im globalen Süden. Geopolitik ist nämlich gerade im Digital- und Technologiebereich von enormer Bedeutung — auch im Bereich Sicherheit. Das sieht auch China so und versucht daher Partnerschaften mit Ländern im Indo-Pazifik und/oder in Afrika, aber auch in anderen Teilen der Erde zu bilden. Dabei entstehen nicht nur gefährliche wirtschaftliche Abhängigkeiten gegenüber China, sondern eben auch enorme Möglichkeiten der Kontrolle durch China und die Kommunistische Partei bis hin zu Überwachung — auch der jeweiligen Regierungen der “Partnerländer”. Dass China vor so etwas nicht zurückschreckt, konnten wir bereits sehen, z.B. bei den Abhöranlagen, die der Staat in das Hauptquartier der Afrikanischen Union hat einbauen lassen (Opens in a new window). Digital- und Technologiepolitik darf uns nicht nur im Inland interessieren. Sie muss zwingend viel stärker international gedacht und danach gehandelt werden.
Das Internet ist schon so selbstverständlich wie der Strom, der aus der Steckdose kommt. Doch wie kommt das Internet eigentlich über den großen Teich? Oder überhaupt von Erdteil zu Erdteil? Über Unterseekabel — und auch die werden bei Sicherheits- und Souveränitätsfragen viel zu wenig in den Blick genommen. Einige gehören bereits Big Tech-Konzernen bzw. Big Tech-Konsortien. Auch das halte ich für ein Problem. Andere sind eine unterschätzte Vulnerabilität — wie die Unterseekabel, die nach Taiwan führen. Was passiert eigentlich, wenn China die Kabel zerstört?
The report by George Mason University’s Mercatus Centre concludes that any attack on Taiwan would have enormous US and global economic costs, particularly from disrupted container shipping and severed undersea data cables that carry up to 99 per cent of all global internet traffic between continents.
“Over the last couple of years, I’ve settled in on the view that a crisis in the Taiwan Strait is highly likely rather than possible,” said Bruce Jones, a senior fellow at the Brookings Institution who was a consultant on the study.
https://www.scmp.com/news/china/military/article/3190898/report-about-potential-attack-taiwan-focuses-vulnerability?utm_campaign=Ann%20Cathrin%27s%20Digital%20Digest&utm_medium=email&utm_source=Revue%20newsletter (Opens in a new window)“It may not be a full invasion and the threats to submarine cables vary. China also pays a price if it cuts those cables,” added Jones, who has advised the State Department, United Nations and World Bank on intervention and crisis management. “As we’ve seen throughout history, though, China is willing to pay a price for its strategic aims.”
Wie politisch Technologie ist, das sieht man auch an den türkischen Drohnen, die jetzt beim Krieg gegen die Ukraine nochmal größere Bekanntheit bekommen haben. Diese Drohnen, deren Qualität wohl unbestritten ist, werden vom Schwiegersohn vom türkischen Präsidenten Erdoğan entwickelt und vertrieben. Auch hier werden politische Abhängigkeiten geschaffen:
https://www.newyorker.com/magazine/2022/05/16/the-turkish-drone-that-changed-the-nature-of-warfare (Opens in a new window)Once a fleet is purchased, operators travel to a facility in western Turkey for several months of training. “You don’t just buy it,” Mark Cancian, a military-procurement specialist at the Center for Strategic and International Studies, told me. “You have married the supplier, because you need a constant stream of spare parts and repair expertise.” Turkey has become adept at leveraging this relationship. It struck a defense deal with Nigeria, which included training the country’s pilots on TB2s, in exchange for access to minerals and liquefied natural gas. In Ethiopia, TB2s were delivered after the government seized a number of Gülenist schools. Unlike dealing with the U.S., obtaining weapons from Turkey doesn’t involve human-rights oversight. “There are really no restrictions on use,” Cancian said.
WHAT TO HEAR
https://open.spotify.com/show/3jUv4nXlCPWsmZ6XS5gDIB?si=v4s2I6ebQSiPLA_akp9z1Q (Opens in a new window)WHAT TO WATCH
https://www.youtube.com/watch?v=CQGmnhFSA9w&embeds_widget_referrer=https%3A%2F%2Fanncathrin87.medium.com%2F&embeds_euri=https%3A%2F%2Fcdn.embedly.com%2F&embeds_origin=https%3A%2F%2Fcdn.embedly.com&feature=emb_logo (Opens in a new window)WHAT TO READ
Chatkontrolle: Interne Dokumente zeigen, wie gespalten die EU-Staaten sind (Opens in a new window).
Readout of White House Listening Session on Tech Platform Accountability. (Opens in a new window)
Hopes and Concerns for Taiwan’s New Ministry of Digital Affairs (Opens in a new window).
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Frances Haugen: From whistleblower to watchdog (Opens in a new window).
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How LinkedIn Became a Place to Overshare (Opens in a new window).
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Teaserbild: Pirehelokan, CC BY-SA 4.0 (Opens in a new window)