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"Hilfe, mein Kind spielt nicht allein"

Lina* schrieb mir: "Mein Sohn (4) spielt nicht allein. Warum ist es wichtig für Kinder, allein zu spielen? Und wie kann ich das freie Spiel fördern?"

In diesem Artikel findet ihr meine Antwort auf ihre Email.

Heute beginnt eine neue Kategorie bei Steady: Antworten auf eure Briefe. Ich beantworte eure Fragen mit meinem Hintergrund eines Studiums der Neurowissenschaften und kognitiven Psychologie, einer Ausbildung zur Trageberaterin und Babykursleiterin, meinem gesammelten Wissen aus etwa 250 Büchern zum Thema Erziehung und meinen Erfahrungen, die ich in den letzten sieben Jahren als Mutter gesammelt habe. Ich bin keine Psychologin und kein Coach. Wenn euch eine Situation so sehr belastet, dass sie eure Gedanken den ganzen Tag über beeinflusst, möchte ich euch bitten, euch professionelle Hilfe zu suchen. Ich kann euch die innere Arbeit mit eurem Päckchen an Erfahrungen, Verletzungen und Traumata nicht abnehmen. Was ich aber versuchen kann, ist euch ein paar Gedanken und Impulse mitzugeben, die euch vielleicht helfen können, eure eigene Lösung zu finden. Und wenn ihr euch mit dem, was ich schreibe, überhaupt nicht identifizieren können solltet, dann ist auch das ein wichtiges Zeichen. Ich bin keine „Expertin“ und habe die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Was ich anbieten kann, ist eine (hoffentlich) empathische Antwort aus wissenschaftlichem und persönlichem Hintergrund.

Wer mir auch schreiben möchte, wendet sich bitte an anna.brachetti@posteo.de. Ich bearbeite dienstags und donnerstags für eine bestimmte Zeit eure Briefe. Schreibt bitte auch dazu, ob ich eure Nachricht und meine Antwort darauf anonymisiert (*Namen werden verändert) veröffentlichen kann.

Vielen Dank für das Vertrauen!

Bild: Cindy und Kay Fotografie

Liebe Anna,

vielen lieben Dank für Dein tolles Angebot!

Immer wenn Du in Deinen Storys davon berichtest wie wichtig Du es findest, dass Kinder alleine spielen, beschäftigt mich das. Mein Sohn (4 Jahre) tut das nämlich nicht und hat es auch noch nie getan. Zum einen würde mich bei dem Thema eher der theoretische Aspekt interessieren, wieso es wichtig für das Kind ist? Und wie sich das entwickelt?

Und zum Anderen, wie ich konkret damit umgehen kann? Mein Sohn möchte permanent mit jemandem von uns spielen. Ich kann mit ihm aushandeln möglichst wenig ins Spiel involviert zu sein, aber weniger geht nicht. Wenn sich nicht einer mit hinsetzt und wenigstens achtsam zusieht, fängt er nicht an. Sondern tigert ziellos durch die Gegend; ärgert die Katzen, ... Selbst mit konkreten Ideen wie er beginnen könnte, tut er es nicht. Es scheint ihm regelrecht „Schmerzen“ zu bereiten, wenn keiner Zeit hat mit ihm zu spielen.

Das alleine ist für uns Eltern sehr kräftezehrend, aber hinzukommt, dass er andere Kinder meistens ablehnt und so sich nicht mit anderen Kindern mal als Entlastung spielt.

Ich bin auf Deine Meinung und Sichtweise gespannt.

Liebe Grüße,

Lina*

Liebe Lina,

Vielen Dank für deine Nachricht. Sehr viele Eltern beschäftigen sich auch mit dem Thema, mit dem du hier auf mich zukommst. Schließlich heißt es überall, wie wichtig  das Spiel für Kinder ist, und die Eltern machen sich Sorgen, ob ihr Kind sich nicht richtig entwickeln kann, wenn es nicht allein spielen möchte. An dieser Stelle möchte ich dich gern schon einmal beruhigen: Kinder sind dafür geschaffen, zu spielen (ich würde sogar behaupten, dass auch Erwachsene viel mehr spielen sollten).

Kinder haben einen angeborenen Drang zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Wenn wir ihnen Zeit und die Freiheit geben, selbst über das zu bestimmen, was sie tun möchten, dann holen sie sich das, was sie zu ihrer Entwicklung brauchen (1). Die vielen doch manchmal angsteinflößenden Artikel zum Thema, dass unsere Kinder viel weniger spielen und wie besorgniserregend das ist, beziehen sich vor allem darauf, dass Kinder heute viel weniger draußen sind, viel weniger unstrukturierte Zeit haben und viel mehr Medienzeit haben (letzteres ist ein Thema für sich).

Wenn ich selbst davon spreche, wie wichtig das Spielen ist, dann beziehe ich mich auf das freie Spiel. Um dir ein paar wissenschaftliche Erkenntnisse an die Hand zu geben: Im freien Spiel verarbeiten unsere Kinder die Welt, wie sie sie erleben. Sie üben sich in Empathie, sie lernen soziale Fähigkeiten, die sie für eine gesunde psychische (und physische) Entwicklung brauchen (2). Spielen fördert Kreativität, im Spiel verarbeiten Kinder schwierige Situationen und kämpfen gegen ihre Ängste, sie trainieren ihre Vorstellungskraft und ihre fein- und grobmotorischen Fähigkeiten. Wenn Kinder in Gruppen spielen, dann erproben sie dabei ihre Konfliktlösungsstrategien, sie lernen zu teilen, erwerben ein Verständnis von Fairness und üben es, Entscheidungen zu treffen in Anbetracht aller (natürlicher) Konsequenzen (3). Im Spiel schaffen sie sich eine eigene Welt, die sie selbst kontrollieren können und erwerben die Kompetenzen, die sie für unsere Welt brauchen. Sie werden selbstbewusster und resilienter (4).

Es ist nicht nur freies Spiel, wenn Kinder sich in ihr Zimmer verziehen und mit Lego eine Fantasiewelt aufbauen. Freies Spiel ist nicht nur das klassische Rollenspiel und Verkleiden-Spielen, nicht nur Lego bauen und Züge hin und her fahren lassen. Freies Spiel ist Rennen und Toben, Spielplatzgeräte kreativ zu entdecken uns auszuprobieren, Klettern und Schaukeln. Es ist Basteln ohne Anleitung, malen (auch ausmalen, wenn Kinder sich selbst dafür entschieden haben), Falten, Reißen, Kleben und „Schmieren“ und haptisches Erkunden von verschiedenen Materialien. Und auch Bücher anzuschauen kann freies Spiel sein, wenn es nicht Teil einer Hausaufgabe oder zum Üben gedacht ist, sondern sie sich frei dazu entschieden haben. Freies Spiel ist das, was Kinder ganz natürlich tun, wenn sie sich frei entscheiden können. Auch die Katzen zu ärgern, ist prinzipiell freies Spiel. Das bedeutet nicht, dass du deinem Sohn nicht zeigen solltest, wie er gut mit den Tieren umgehen kann, aber es zeigt dir vielleicht, dass er durchaus spielt.

Man kann Kindern ihre Selbstständigkeit „aberziehen“, indem man sie ständig aus dem Flow holt, unterbricht und reguliert, ihnen sagt, was sie falsch machen und ihnen vorgibt, wie sie etwas besser machen können. Manchmal ist auch einfach der Alltag so strukturiert und durchgeplant, dass Kinder von Anfang an sehr häufig aus ihrem Spiel gerissen werden. Dann kann es tatsächlich passieren, dass sie das freie Spielen verlernen. Es hilft dann (längerfristig), wenn die weniger wichtigen Termine abgesagt und möglichst viel Zeit freigeschaufelt wird zum Spielen. Ich gehe eher davon aus, dass es bei euch genug Zeit zum Spielen gibt, aber betrachtet doch gern einmal euren Alltag und überlegt, wie viel Zeit wirklich zum Spielen da ist.

Ich weiß nicht, wie es bei euch zu Hause aussieht, wie frei sich euer Sohn in der Wohnung bewegen darf und was für Spielzeug er hat. Förderlich für das freie Spiel ist eine „Ja-Umgebung“, in der alles, was leicht kaputt gehen könnte oder gefährlich sein kann, gesichert ist, sodass er nicht ständig ein „Nein“ hört, wenn er „in der Wohnung herumtigert“. Spielzeug sollte, um die Kreativität und Vorstellungskraft zu fördern, möglichst keine fest vorgegebene Funktion haben. Die meisten Kinder können sich draußen in der Natur (sofern sie daran gewöhnt sind, regelmäßig in der Natur zu sein und oft auch besser zusammen mit anderen Kindern) auch viel besser selbst beschäftigen aus drinnen, weil dort mehr Materialien verfügbar sind, die wenig vorgeben. Es zieht Kinder oft zu den gefährlicheren Aktivitäten, weil sie sich dort herausgefordert fühlen. Wenn wir ihnen das nicht ermöglichen oder sie ständig stoppen und warnen, können sie die Fähigkeit zu spielen und die Freude an Herausforderung verlieren. Sehr spannend zu diesem Thema ist der TED Vortrag von Gever Tulley, der über fünf gefährliche Dinge spricht, die wir unsere Kinder ausprobieren lassen sollten (5).

Freies Spiel bedeutet auch gar nicht unbedingt, dass die Kinder allein spielen. Wenn Eltern mit ihren Kindern spielen, hat das sogar sehr viele Vorteile, allem voran (ein bisschen selbsterklärend) den, dass Kinder besser sprechen lernen (6). Solange du im Spiel also nicht die Richtung vorgibst, sondern dich von deinem Sohn leiten lässt, wird er sich genau so entwickeln, wie er es gerade braucht. Ich weiß nicht, ob du dich mal mit den „Sprachen der Liebe“ nach Chapman beschäftigt hast. Das ist ein amerikanischer Paartherapeut, der die Theorie entwickelt hat, dass es fünf unterschiedliche „Beziehungssprachen“ gibt und wir alle eine (oder mehrere) „Sprachen“ brauchen, um uns geliebt zu fühlen. Ich verlinke dir unten ein Buch zum Thema. Es kann sein, dass die „Sprache“ deines Sohnes „Quality Time“ ist, also Zeit zusammen. Das könnte erklären, warum er euch so gern beim Spielen dabei hat und warum es ihm Schmerzen bereitet, wenn ihr das gerade nicht wollt (oder könnt). Es gibt Kinder, die einfach nicht gern allein spielen. Solange sie die Möglichkeit dazu haben, sich frei zu bewegen, solange sie Zeit haben, ist daran nichts falsch. Sie werden sich mit der Zeit immer mehr selbst beschäftigen, auch wenn die Zeit einem manchmal unendlich lang vorkommt. Es ist nichts schief gelaufen mit eurem Sohn, ich hoffe, dass dich diese Erkenntnis schon etwas entlasten kann.

Trotzdem kann ich sehr gut verstehen, wenn ihr auch einmal gern etwas Zeit für euch hättet. Dass dein Sohn mit anderen Kindern wenig spielt, sehe ich persönlich nicht als besonders tragisch. Es gibt eben Menschen, die viel Zeit mit vielen anderen verbringen wollen und es gibt Menschen, die vielleicht zwei oder drei sehr enge Freund*innen haben und ansonsten Menschen am liebsten aus dem Weg gehen würden. Er ist noch jung, solange er überhaupt Freundschaften knüpft, würde ich mir da absolut keine Sorgen machen. Es geht also mehr darum, euch zu entlasten.

Der wahrscheinlich wichtigste Punkt, den ich dir gern an die Hand geben mag, ist dass es den meisten Kindern leichter fällt, sich allein zu beschäftigen, wenn wir vorher ihre Bedürfnisse erfüllt haben, vor allem das Bedürfnis, geliebt zu sein. Natürlich liebt ihr euren Sohn immer, aber wenn er tatsächlich vor allem durch die gemeinsam verbrachte Zeit auch wirklich spürt, dass er geliebt wird, ergibt es Sinn, wenn ihr zuerst sehr bewusst Zeit für ihn und das Spielen nehmt. Ich glaube, nach der Theorie von Gordon Neufeld ist das das „emotionale Aufladen“, mit der Neufeld-Theorie habe ich mich allerdings nicht viel beschäftigt. @beziehungvorerziehung auf Instagram (Opens in a new window) macht das sehr schön und informativ.

Vielleicht könntet ihr versuchen, euren Sohn zuerst bewusst „aufzuladen“ und euch nach einer Weile, wenn er mehr ins Spiel gefunden hat, immer mehr zurück zu nehmen, bis ihr nur noch beobachtet. Dann könntet ihr vielleicht üben, euch kurz zu verabschieden, um etwas anderes zu machen (ein Glas Wasser holen, zur Toilette gehen..) und nach einer immer länger werdenden Zeit zurück zu kommen. Vielleicht wollt ihr aber auch nach Möglichkeiten suchen, wie ihr etwas für euch machen könnt, während er dabei ist und für sich spielt. Wenn du baden willst, kann er vielleicht dabei sein und mit Badetieren spielen, wenn du auf dem Sofa sitzt und ein Buch liest, kann er mit Lego daneben sitzen.

Er ist jetzt in einem Alter, in dem er eure Bedürfnisse schon relativ gut verstehen kann und in dem ihr mit ihm verschiedene Möglichkeiten abwägen könnt. Vielleicht möchtet ihr dazu eine Art „Beziehungsgespräch“ nach Jesper Juul machen, bei dem ihr euch mit Kakao und Keksen an den Tisch setzt und sehr klar, aber freundlich sagt, dass ihr euch mehr Zeit für euch wünscht. „Wir beobachten, dass du uns gern dabei hast, wenn du spielst. Das machen wir sehr gern und gleichzeitig brauchen wir auch Zeit für uns. Lass uns bitte zusammen überlegen, wie wir das schaffen.“ Dass ihr euch mehr Zeit für euch wünscht, bedeutet nicht unbedingt, dass er dann allein in seinem Zimmer spielen muss, sondern es gibt eben auch andere Lösungen wie oben angedeutet, die keine Kompromisse sind, sondern die Bedürfnisse aller befriedigen.

Das sind einige meiner Gedanken zu eurer Situation. Ich hoffe, dass du dir etwas daraus mitnehmen kannst und würde mich über eine Rückmeldung in einem Monat freuen (und auch, wenn ich sie hier vielleicht ergänzen darf).

Ich wünsche dir und deiner Familie alles Gute,

Liebe Grüße,

Anna

Quellen:

(1) https://go.gale.com/ps/anonymous?id=GALE%7CA96193637&sid=googleScholar&v=2.1&it=r&linkaccess=abs&issn=00094056&p=AONE&sw=w (Opens in a new window)

(2) https://www.journalofplay.org/sites/www.journalofplay.org/files/pdf-articles/3-4-article-gray-decline-of-play.pdf (Opens in a new window)

(3) https://pediatrics.aappublications.org/content/119/1/182 (Opens in a new window)

(4) https://pdfs.semanticscholar.org/2117/b80cdcb01c41fa86abcc39ca77b7a71ba450.pdf (Opens in a new window)

(5) https://www.ted.com/talks/gever_tulley_5_dangerous_things_you_should_let_your_kids_do#t-169399 (Opens in a new window)

(6) https://s3.amazonaws.com/academia.edu.documents/49093127/Fathers_and_Mothers_at_Play_With_Their_220160924-21985-9v0mlz.pdf?response-content-disposition=inline%3B%20filename%3DFathers_and_Mothers_at_Play_With_Their_2.pdf&X-Amz-Algorithm=AWS4-HMAC-SHA256&X-Amz-Credential=AKIAIWOWYYGZ2Y53UL3A%2F20200301%2Fus-east-1%2Fs3%2Faws4_request&X-Amz-Date=20200301T103257Z&X-Amz-Expires=3600&X-Amz-SignedHeaders=host&X-Amz-Signature=b4ff40459626db67d94ec797a12e517f9b4a0b1955d0edde372e7b65a873d92b (Opens in a new window)

Buchempfehlungen:

Andre Stern: „Spielen - um zu fühlen, zu lernen und zu leben“, Elisabeth Sandmann Verlag, 2016

Gary Chapman: "Die fünf Sprachen der Liebe für Kinder“, francke Verlag, 2008

Diana Gabriela Födlinger: „Das freie Spiel: Emmi Pikler und Maria Montessori im Vergleich“, Diplomica Verlag, 2012

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