"Jetzt lass ihn doch mal schreien" - Was Schlaftrainings mit unseren Kindern machen
Einer der wichtigsten Aspekte bedürfnisorientierter Elternschaft ist es, auf die Signale unserer Kinder zu hören. Wenn ein Baby weint, hat das einen Grund und wir reagieren prompt darauf. Das stärkt das Urvertrauen und führt zu Kindern mit einer starken Bindung. Trotzdem ist es manchmal schwierig, sachliche Argumente zu haben, wenn wir immer wieder hören "Ach, lass ihn doch mal schreien!". In diesem Artikel erkläre ich die wissenschaftlichen Hintergründe, um euch Sicherheit für eure Elternschaft und eine Basis zu geben, auf der ihr vielleicht besser argumentieren könnt.
Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass Schlafprogramme wie das sogenannte Ferbern nach dem Kinderarzt und Neurologen Dr. Ferber langsam in die Mottenkiste gewandert wären. Erst vor Kurzem stieß ich aber auf ein recht neues Buch eines Kinderarztes, in dem zwar nicht direkt zu dieser Methode geraten wurde, sie aber doch massiv verharmlost wurde. Aus diesem Anlass entstand dieser Artikel.
Foto: Leni Moretti
Das prompte Reagieren auf das Weinen unseres Babys ist einer der Grundpfeiler bedürfnisorientierter Elternschaft. Kinder brauchen uns auch nachts - und wenn wir ihre Grundbedürfnisse erfüllen und ihr angeborenes Urvertrauen stärken, werden sie zu starken, bindungsfähigen Erwachsenen. So weit steht es in immer mehr neueren Elternbüchern und ich begrüße diese Entwicklung sehr.
Gleichzeitig scheint das kontrollierte Schreienlassen, die "Ferber-Methode" wieder ein Comeback zu haben. Spätestens seit eine australische Studie (auf die ich im Text näher eingehen werde) angeblich "bewiesen" habe, dass das Ferbern Kindern nicht schade, scheint sie wieder gesellschaftsfähiger zu werden.
Was ist die Ferber-Methode und woher kommt sie?
Die Ferber-Methode stammt von dem amerikanischen Kinderarzt und Neurologen (im Ruhestand) Richard Ferber, M.D.*. Er beschrieb sie zuerst in seinem 1985 erschienen Buch "Solve your child's sleep problems" (Neuauflage Mai 2006). Die Methode besteht aus einem kontrolliertes Schreienlassen, laut der die Eltern erst nach immer länger werden Wartezeiten wieder kurz ihr Baby mit Streicheln und freundlichen Worten beruhigen dürfen.
Ferber hat seine Methode als Notfallprogramm für Eltern entwickelt, die ihre Kinder ansonsten schütteln oder schlagen würden. Dauerhaftes Schreien kann Eltern extrem belasten und auch aggressiv machen**. Sie galt damals als besonders humaner Gegenentwurf zum sehr geläufigen "cry it out", bei dem die Babys einfach im eigenen Raum schreien gelassen wurden, bis sie irgendwann aufhörten. Seine Methode hat Ferber auch in der Neuauflage seines Buches unverändert beschrieben, allerdings hat er sich mittlerweile von der Grundaussage distanziert, auf der er sein Buch aufgebaut hat. Er meinte ursprünglich, dass es für Kinder wichtig sei, allein schlafen zu lernen, da es ihnen in ihrer Entwicklung helfe.
"Sleeping alone is an important part of [your child's] learning to be able to separate from you without anxiety and to see himself as an independent individual," Ferber wrote in his 1985 best seller. [...] Now, in a new edition of his book due out this week, he has omitted his statement about the psychological consequences of co-sleeping. "That's one sentence I wish I never wrote," he told NEWSWEEK. "It was describing the general thinking of the time, but it was not describing my own experience or philosophy."
(aus einem Interview mit "NEWSWEEK" (Opens in a new window))
Darauf basiert ein großer Teil des Erfolg seines Buches, da er in ihm ja gleich die Lösung mitlieferte, und auch das auf der Ferber-Methode basierende "Jedes Kind kann schlafen lernen" von Annette Kast-Zahn baut auf der Grundannahme auf, dass Kinder, die ab einem Alter von ein paar Monaten nicht allein einschlafen können, an Schlafproblemen leiden.
Ferber fühlte sein Buch grundlegend missverstanden und distanziert sich im Vorwort der Neuauflage des Buches davon, das "Ferbern" als alleinige Methode zur Lösung sämtlicher Schlafprobleme zu benutzen.
"Despite my efforts in the first edition to communicate these goals [to help parents understand the nature of sleep and childhood sleep problems] it became clear that they were not always understood as I had intended. Many people thought I recommended a single method to treat all sleep problems,"
(Vorwort zur 2. Auflage von "Solve your child's sleep problems", Richard Ferber, M.D. (2006), S. xviii)
Er distanziert sich wie gesagt nicht von der Methode als solcher, betont aber, dass unterschiedliche Schlafprobleme unterschiedliche Lösungen haben und das Ziel immer sei, Schreien zu vermeiden oder zu reduzieren (S. XVIII).
Die "australische Studie"
Gerade wird viel auf eine australische Studie (Gradisar et al., 2016 (Opens in a new window)) verwiesen, die angeblich "bewiese", dass die Ferber-Methode, also das kontrollierte Schreienlassen, nicht schädlich für Kinder sei. In der Studie wurden 43 Kinder per Zufallsprinzip drei Gruppen zugeordnet. In der Gruppe mit der "gradual extinction", also dem Ferbern, waren 14 Kinder. Es war den Eltern erlaubt, während der Studie die Gruppen zu wechseln; ein Elternpaar aus der "gradual extinction" Gruppe nahm diese Möglichkeit wahr. Die Kinder in der Studie waren zwischen 6-16 Monaten alt.
Vor der Studie wurden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen das grundlegende Stresslevel der Kinder gemessen, dazu wurden Speichelproben entnommen und das Cortisol-Level gemessen. Nach einer Woche, einem Monat, drei Monaten und 12 Monaten wurden die Kinder wieder untersucht: Das Cortisol-Level wurde morgens und nachmittags gemessen und es wurde erfasst, wann die Kinder einschliefen und wie oft sie nachts aufwachten.
Die Ergebnisse: Kinder in der "gradual extinction" Gruppe schliefen nach drei Monaten durchschnittlich 12 Minuten früher ein, schliefen durchschnittlich 32 Minuten länger und wachten statt durchschnittlich 3x pro Nacht durchschnittlich 1,5x pro Nacht auf. Babys aus der Kontrollgruppe (also ohne Schlaftraining) schliefen nach drei Monaten nicht früher als vorher ein, wachten etwas weniger auf (etwa 2x statt 2,5x) und schliefen ebenfalls durchschnittlich 36 Minuten länger in der Nacht als vorher. Konkret heißt das also: Die Kinder der "gradual extinction" Gruppe schliefen eine Viertelstunde früher ein und wachten etwas seltener auf. Die Stresslevelmessungen ergaben nicht, dass die Kinder dieser Gruppe am Morgen oder am Nachmittag mehr gestresst wären (sogar eher weniger, dazu aber gleich mehr).
(Gradisar et al., 2016; in der "bedtime fading" Gruppe wurden die Kinder graduell etwas später ins Bett gebracht, an der Art des ins-Bett-Bringens wurde aber nichts verändert)
Nach einem Jahr ergaben sich keine Unterschiede in der Art der Bindung (sicher oder unsicher) und es gab auch keine Verhaltensunterschiede zwischen den Kindern. Das bedeutet konkret: Von den 14 Kindern, die geferbert wurden, hatten etwas mehr als die Hälfte (54%) sowohl vor dem Schlaftraining als auch nach einem Jahr eine sichere Bindung, die anderen eine der Arten von unsicherer Bindung. 62% Kinder aus der 12-köpfigen Kontrollgruppe hatten nach wie vor eine sichere Bindung, die anderen eine unsichere.
Auch wenn in der Untersuchung nach 12 Monaten wieder alle 43 Kinder der drei Gruppen untersucht wurden, gab es innerhalb der Messreihe viel Fluktuation. Von den 14 Kindern in der "gradual extinction" Gruppe wurden nach einer Woche Datenpunkte von 13 Kindern, nach einem Monat von 10 Kindern und nach 3 Monaten nur von 7 Kindern erfasst. Zur Orientierung: Es ist durchaus normal, dass in solchen Studien nicht gleich 500 Teilnehmer*innen haben, es gibt aber Berechnungen, dass es mindestens 21 Teilnehmer*innen braucht, um einen statistischen Effekt zu entdecken, der groß genug für eine Aussage ist.
Es wurde in der Studie nicht erfasst, wo die Babys eigentlich schliefen, wie sie ernährt wurden und ob sie in einer außerhäuslichen Betreuung waren. All das kann Einfluss darauf haben, wie gut Babys schlafen. Außerdem waren die Kinder in der Studie zu Beginn 6-16 Monate alt. Das Schlafverhalten von 6 Monate alten Babys unterscheidet sich allerdings sehr von dem von 16 Monate alten Kleinkindern.
Es stellt sich also die Frage, inwiefern die Studie überhaupt aussagekräftig ist. Der Effekt ist zwar groß genug, um statistisch relevant zu sein. Die Untersuchungen des Stresslevels der Eltern (es wurden nur die Mütter erfasst) ergaben auch, dass Mütter aller Gruppen nach drei Monaten deutlich weniger gestresst waren als vorher (die Mütter aus der "gradual extinction" Gruppe waren insgesamt sowohl vorher als auch nach drei Monaten durchschnittlich weniger gestresst als die der Kontrollgruppe; die Zuordnung der Gruppen erfolgte aber Zufall).
Mal ganz abgesehen von der Aussage, die diese Studie treffen will, dass Kinder nicht mehr gestresst seien, wenn sie geferbert werden: Macht es für Eltern wirklich einen so großen Unterschied, ob die Kinder 12 Minuten früher schlafen?
(Gradisar et al., 2016)
Der Stresslevel, bzw. Cortisol-Gehalt des Speichels der Kinder wurde morgens und nachmittags gemessen. Kritiker*innen der Studie (Opens in a new window) fragen (meiner Meinung nach berechtigterweise), ob diese Werte überhaupt aussagekräftig sind. Sollte nicht viel eher gemessen werden, wie gestresst die Kinder zur Bettzeit waren?
Eine Studie von Middlemiss et al. (2012) (Opens in a new window) versuchte genau das zu messen. In dieser Studie wurde das Cortisollevel sowohl vor dem Schlafengehen als auch kurz nach dem Einschlafen gemessen. Die Kinder (25 Studienteilnehmer*innen) wurden einem fünftägigen Schlaftraining unterzogen ("gradual extinction", also Ferbern). Diese Studie kam allerdings zu dem Ergebnis, dass die Kinder zwar am dritten Tag nach Beginn des Schlaftrainings nicht mehr weinten, ihre Cortisol-Level allerdings immer noch erhöht waren.
Schadet es Kindern, wenn sie geferbert werden?
Was die australische Studie tatsächlich zeigt, ist dass es - bei den 43 untersuchten Kindern - keine Auswirkung auf die Art der Bindung und auf das Verhalten hatte, ob sie geferbert wurden oder nicht. Ob man daraus direkt schlussfolgern kann, dass das Ferbern die Bindung nicht zerstört, halte ich etwas zu gewagt.
Das Ferbern scheint die Bindungsart der 7 Kinder aus der "gradual extinction" Gruppe mit sicherer Bindung nicht negativ beeinflusst zu haben. Den 6 Kindern, die vor der Studie schon eine unsichere Bindung hatten, wurde allerdings auch nicht geholfen. Das lässt die Frage zu, inwiefern die Anzahl der Studienteilnehmer überhaupt eine Aussagekraft hat - und ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, den Eltern mit Kindern mit unsicherer Bindung zu helfen, die Bindung zu stärken, statt sie per Zufall einem Schlaftraining zuzuordnen, bei dem kritisiert wird, dass es das Urvertrauen zerstören könnte.
Was es nicht gibt, sind Studien, die verlässlich Depressionen oder Angststörungen von Erwachsenen auf das Ferbern im Babyalter zurückführen können. Dazu sind diese psychischen Störungen einfach zu komplex und das Umfeld ist zu unkontrollierbar. Resilienz, der Faktor, der entscheidend dafür ist, wie sehr sich ein Mensch von externen negativen Faktoren beeinflussen lässt, variiert ebenfalls sehr viel. Es gibt sowohl genetische Veranlagungen dazu, eine psychische Krankheit zu entwickeln als auch Risikofaktoren im Laufe des Lebens. Wir wissen bereits, dass Stress einer dieser Risikofaktoren ist. Und dass das Ferbern auch nachdem das Baby nicht mehr weint Stress für das Baby bedeutet, zeigt mindestens die oben genannte Studie von Middlemiss et al. (2012), eigentlich aber auch der gesunde Menschenverstand. Babys weinen nicht, um uns zu ärgern, sondern weil sie sich nicht anders mitteilen können. Müttern wurde lange eingeredet, Babys bräuchten das Schreien für die Entwicklung ihrer Lungen, und es wurde zur Warnung die Geschichte eines Babys erzählt, das an einer Lungenkrankheit starb, weil es niemals schreien durfte (Mrs Frankenburg, Common Sense in the Nursery, (1922, 34, 54). Diese Annahme ist mittlerweile ebenso veraltet wie der Aderlass.
Das Gehirn im Stress
Gerät ein Mensch unter Stress, wird sein sympathisches Nervensystem aktiviert. Im Gehirn wird Noradrenalin ausgeschüttet, hält der Stress länger an, wird Cortisol in zwei Phasen ausgeschüttet. In der ersten Phase aktiviert Cortisol das limbische System, in dem Emotionen verarbeitet werden. Wenn wir dies aus der evolutionären Sicht betrachten, ist das wichtig: Steht der Säbelzahntiger vor uns, sollten wir nicht mehr nachdenken, sondern rennen. Eine Reaktion, die erst noch über eine Kontrollschleife im präfrontalen Kortex "abgesegnet" werden müsste, wäre einfach zu langsam. In der zweiten Phase wird das limbische System gehemmt und der präfrontalen Kortex aktiviert - jetzt können wir darüber nachdenken, dass uns der Säbelzahntiger gar nicht gefolgt ist, sondern nur einmal gefaucht hat, damit wir von seinen Jungen weggehen. Cortisol ist also an sich nicht schlecht, sondern wichtig für unser System. Genauso wichtig ist es aber auch, Situationen richtig einzuschätzen, also eine angebrachte Menge an Cortisol auszuschütten, weder zu viel, noch zu wenig. Morgens ist die Cortisol-Ausschüttung z.B. grundsätzlich etwas höher, aber nicht allzu hoch, was uns morgens oft etwas stressresistenter macht.
Die Ausschüttung von Cortisol hemmt sich durch eine negative Feedbackschlaufe irgendwann selbst, wenn zu viel Cortisol ausgeschüttet wurde. (Wer sich mehr dafür interessiert, findet in dem Buch "Risikofaktor Kindheit" von Nicole Strüber eine sehr ausführliche und akkurate, aber gleichzeitig gut verständliche Ausführung).
Es gibt Situationen, die empfinden wir als stressig, während jemand anders dabei absolut entspannt bleibt. Wir empfinden Stress unterschiedlich. Für das Stressempfinden haben wir sowohl eine genetische Veranlagung, die Erlebnisse (vor allem in der Kindheit, wenn das Gehirn sozusagen noch sehr "formbar" ist) prägen uns aber ebenfalls. Wir unterscheiden uns auf einer biologischen Ebene darin, wie viele Rezeptoren für Cortisol wir haben, wie lang die beiden Cortisol-Phasen dauern und wie viel Cortisol insgesamt im Gehirn wirksam ist (vgl. dazu Joels et al. (2018)).
Eine hohe Cortisol-Ausschüttung, bzw. geringe Stresstoleranz kann bewirken, dass das Umfeld eher als bedrohlich empfunden wird, die Bindungsfähigkeit, Impulskontrolle und das Vermögen, Risiken zu bewerten, beeinträchtigt und das Risiko für psychische Erkrankungen erhöht sein kann. Stresserfahrungen während Kindheit machen 54% des Risikos für Depressionen aus (Teicher et al 2016).
Werden regelmäßig eine hohe Anzahl an Stresshormonen ausgeschüttet, hat das einen Einfluss darauf, wie viele Stresshormone langfristig im Gehirn wirksam sind - und wie sich die Persönlichkeit des Menschen entwickelt. Wird sehr früh viel Stress empfunden, verändert sich das Stresssystem auf einer biologischen Ebene. Man nennt das Epigenetik: Bestimmte Gene des Stresssystems werden an- oder abgeschaltet und dementsprechend z.B. mehr oder weniger Proteine für einen Rezeptor hergestellt. Auch die negative Feedbackschlaufe, also dass Cortisol sich durch das Andocken an einen bestimmten Rezeptor irgendwann selbst hemmt, wird dadurch beeinflusst.
Bei Menschen, die in der frühen Kindheit Stress erlebt haben, scheint es zwei verschiedene Arten der Veränderung des Stresssystems zu geben: Eine Cortisol-Überfunktion und eine Cortisol-Unterfunktion. Das Forscherteam um Esther Van der Vegt hat 2009 Erwachsene untersucht, die als Kinder adoptiert worden waren. Hatten sie im frühesten Kindesalter mittelschwere Misshandlungen oder Vernachlässigung (die Klassifizierung wird nicht leicht gefallen sein) erlebt, war ihre normaler morgendlicher Cortisolfreisetzung deutlich höher als die der Vergleichsprobanden. Bei extremen und lang anhaltenden Misshandlungen oder Vernachlässigung zeigte sich eine Cortisol-Unterfunktion.
Diese Anpassung des Stresssystems hat evolutionär gesehen seinen Sinn: Wer starken Stress wie bei Misshandlung und Vernachlässigung erlebt, tut gut daran, grundsätzlich aufmerksamer zu sein, um Bedrohungen schneller wahrnehmen zu können. Das Kind sucht dann eher Schutz und versteckt sich. Ein Mensch mit Cortisol-Überfunktion kann tatsächlich sogar wenig Verhaltensauffälligkeiten zeigen und mit viel Stress verhältnismäßig gut umgehen können - wird allerdings Schwierigkeiten haben, bei weniger stressigen Situationen Vertrauen zu zeigen, Bindung aufzubauen und ruhig zu werden.
Die Cortisol-Unterfunktion als Reaktion auf sehr schweren Stress äußert sich in einer Resignation, die eine Anpassung an ein extrem hohes Stresslevel bedeutet. Ob das wünschenswert ist für einen Menschen, sei dahingestellt.
Es kann auch sein, dass eine Person als Antwort auf eine starke Stresserfahrung zuerst eine Cortisol-Überfunktion hat, die dann, wenn der hohe Stresspegel nicht mehr tragbar ist, in eine Cortisol-Unterfunktion schwenkt. Nicole Strüber merkt in ihrem Buch "Risikofaktor Kindheit" zudem an, dass sich aus dem Cortisolwert im Speichel oder Blut nicht direkt eine Über- oder Unterfunktion schließen lässt; die Cortisolmessung muss berücksichtigen, dass Cortisol bei allen Menschen in Intervallen ausgeschüttet wird und es eine größere Anzahl Stichproben braucht, um wirklich aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen (vgl. S. 344). Die Messreihen der Australien-Studie reichen möglicherweise nicht aus, um überhaupt Rückschlüsse ziehen zu können.
Was genau macht Cortisol?
Cortisol kann sich auf das Gedächtnis und die Gewohnheiten auswirken, indem es im Hippocampus oder Striatum Nervenzellen schädigen oder die Neubildung vermindern kann. Das bedeutet, dass es bei besonders hoher Cortisolausschüttung schwerer sein kann, neue, eventuell positive Erfahrungen zu speichern und Gewohnheiten zu ändern (unser Gedächtnis liegt vereinfacht gesamt im Hippocampus, das Striatum ist für Gewohnheiten verantwortlich). Bei Menschen mit Depressionen beobachtet man z.B. oft einen kleineren Hippocampus und ein kleineres Striatum (vgl. Roth & Strüber, 2018).
Bei einer Cortisol-Unterfunktion hat das Gehirn allerdings auch wieder nicht genug Energie, um den Stress zu bewältigen, denn wie oben erwähnt hat Cortisol - in moderater und angemessener Höhe - diese wichtige Funktion. Die Person empfindet eine innere Leere. Die Zusammenarbeit des medialen präfrontalen Kortex mit dem limbischen System funktioniert nicht mehr richtig, was bedeutet, dass der Zugang zu den eigenen Gefühlen gestört sein kann wie es z.B. bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung der Fall ist (vgl. dazu Yehuda et al. 2019). Wut wird weiterhin erlebt und Kinder mit einer Cortisol-Unterfunktion externalisieren dieses Gefühl häufiger, sind tendenziell aggressiver, lassen sich von potenziellen Bestrafungen weniger einschüchtern und werden generell als eher kühl, mitleidlos oder ständig gestresst empfunden.
Cortisol und Oxytocin
Bei Körperkontakt wird im Gehirn Oxytocin ausgeschüttet, das "Bindungshormon". In einer Kindheit, die weitesgehend als glücklich empfunden wird, gibt es regelmäßige Oxytocinausschüttungen, unter anderem als Reaktion auf empfundenen Schmerz oder Wut. Reagieren die Eltern dagegen nicht feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes und trösten es nicht zuverlässig, gibt es weniger oder keine regelmäßige Oxytocinausschüttung.
Die Oxytocinkonzentration im Blut und in der Hirnflüssigkeit ist umso geringer, je mehr starke Stresserfahrungen in der Kindheit gemacht wurden. Speziell bei emotionalem Missbrauch ist sie besonders gering (Heim et al, 2009). Oxytocin wirkt sich auf das Stresssystem aus und hemmt die Freisetzung von Cortisol. Ein spannendes Experiment von Meinlschmidt und Heim zeigte 2007, dass Versuchspersonen mit frühen negativen Bindungserfahrungen, denen man Oxytocin per Nasenspray gab, weniger Cortisol ausschütteten als Reaktion auf fremde Personen.
Dass Personen mit frühen traumatischen Erlebnissen grundsätzlich ein niedrigeres Oxytocinlevel haben, hängt wahrscheinlich ebenfalls mit epigenetischen Veränderungen des Gens für Oxytocin-Rezeptoren zusammen. Die Veränderungen können das Bindungsvermögen und das Risiko für psychische Krankheiten oder Persönlichkeitsstörungen beeinflussen.
All diese Zusammenhänge sind relativ verkürzt und vereinfacht dargestellt, es spielen im Stresssystem noch weitere Hormone wie Serotonin und Dopamin eine Rolle, die an dieser Stelle aber vernachlässigt wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser Stresssystem sowohl durch unsere genetische Veranlagung als auch durch frühe starke Stresserfahrungen verändert wird. Es kann zur Cortisol-Überfunktion oder zur Cortisol-Unterfunktion kommen je nach Stärke der Stresserfahrungen. Das beeinflusst, wie die Person auf ihr Umfeld reagiert, wie misstrauisch sie ist, wie gut ihr Zugang zu ihren eigenen Gefühlen ist.
Das Zusammenspiel der verschiedenen Hormone des Stressystems beeinflusst das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Burnout oder Angststörungen. Dass das Schreienlassen und Ignorieren kindlicher Bedürfnisse zur Resignation und Cortisol-Unterfunktion führen kann, haben u.a. Gold und Chrousos 2002 (S. 266-267) in Beobachtungen von Waisenkindern beschrieben und das war ja auch Bestandteil der Beobachtungen von Bowlby, auf denen seine Bindungstheorie fußt, auf der wiederum die bedürfnisorientierte Elternschaft basiert.
Was passiert, wenn ein Baby schreien gelassen wird?
Wenn ein Baby schreien gelassen wird, erhöht das sein Cortisollevel kurzfristig (vgl. Waynforth 2007), sowie langfristig (Flinn et al. 1996). Die Traumaliteratur zeigt, dass Babys, die allein gelassen oder schreien gelassen werden deutliche Anzeichen von Stress zeigen, aber auch Rückzug, Bindungsstörungen (vgl. dazu Bowlby 1988, Ainsworth et al. 1987, Pearce et al. 2010 und Nelson et al. 2005), sowie Veränderungen der neuronalen Struktur (Majer et al. 2010). Ein kritisches Review der gängigen Empfehlungen zu Schlaftraining findet sich bei Blunden et al. (2011).
Inwiefern jetzt das "kontrollierte Schreienlassen" besser sein könnte als das Schreienlassen, können wir nicht konkret sagen, eine kontrollierte, randomisierte Studie mit einem konkreten Vergleich wäre unethisch, da viele Beobachtungen zeigen, wie schädlich sich das Schreienlassen auf das Gehirn auswirkt. Wir wissen, wie hohe Mengen an Cortisol im Gehirn wirken (Schädigung von Nervenzellen, Verminderung der Neubildung von Nervenzellen), hinzu kommt, dass der Körperkontakt, der beim Ferbern "erlaubt" ist (kurz streicheln) wohl kaum eine hohe Oxytocinausschüttung bewirken kann, die den Stress der Kinder reduzieren würde. Dass die sichere Bindung von 7 Kindern dadurch nicht zerstört wurde, reicht nicht als "Beweis" dafür, dass das Ferbern nicht schadet. Wie hoch der Stress empfunden wird, hängt auch von der genetischen Veranlagung und der Verlässlichkeit des Umfelds im weiteren Alltag ab. Das Stressempfinden ist individuell - meine Schlussfolgerung wäre also, dass wir nicht sicher sagen können, wie ein Kind auf das Ferbern reagiert, bevor wir es ausprobieren würden. Das wiederum empfinde ich persönlich in Anbetracht der Wirkung von Cortisol auf unser Gehirn als nicht ethisch.
Ist Ferbern besser als Schreienlassen?
Es ist nicht genug untersucht, wie hoch der Stress ist, den Kinder beim Ferbern empfinden (die zitierte Studie von Middlemiss et al. (2012) hatte gemessen, dass Kinder sowohl vor dem Zubettgehen als auch nach dem Einschlafen eine erhöhte Cortisolkonzentration im Speichel hatten und das auch nachdem sie mit ihrem Verhalten keinen Stress mehr ausdrückten (also nicht mehr weinten). Wie dieser Stress zu klassifizieren ist und wie weitreichend seine Folgen sind, ist zu wenig untersucht. Eine Methode muss vielleicht auch nicht gleich nicht die Bindung zerstören, um schädlich zu sein. Vielleicht sollten wir, wenn es um Kinder geht, nicht etwas Schädliches mit einem potenziell marginal weniger schädlichen vergleichen, sondern überlegen, wie wir Kinder stärken können. Eine Studie von Waynforth (2007) wies beispielsweise darauf hin, dass Co-Sleeping mit reduzierten Cortisol-Level assoziiert werden kann.
Es gibt viele Ansätze, die zu ruhigerem Schlaf führen können und die nicht mit großem Stress für das Kind verbunden sind (siehe dazu Empfehlungen am Ende).
Was auch noch bei der Ferber-Methode bedacht werden sollte, ist dass die Eltern sehr offensichtlich gegen ihre eigenen Instinkte handeln. Wir sind darauf programmiert, prompt auf das Weinen unserer Kinder zu reagieren - weil wir die Einzigen sind, die ihr Überleben sichern. Wer jetzt gegen seine Gefühle kämpft, stumpft selbst innerlich immer mehr ab. Das wiederum kann Einfluss auf die generelle Empfindsamkeit für die Bedürfnisse des Kindes haben, was sich wiederum auf das Bindungsverhalten und damit auf die Oxytocinausschüttungen beim Kind (und bei den Erwachsenen) haben kann. Die "Australien-Studie" beschreibt Mütter, die drei Monate nach Studienbeginn etwas weniger Stress empfinden - aber in allen Gruppen. Ob geferbert wurde oder nicht trägt demnach nicht unbedingt zu noch mehr Entspannung bei.
Die erste Zeit mit Baby kann ziemlich anstrengend sein. Ich wäre die letzte, die die Erschöpfung von Eltern nicht verstünde. Aber es wird besser! Ich halte das Ferbern für keine geeignete Methode, um zu etwas mehr Entspannung zu führen. Zum einen wissen wir einfach nicht, wie stark unser eigenes Kind darauf reagieren wird, zum anderen scheinen die langfristigen Effekte mir nicht groß genug, sodass es sich "lohnen" könnte, die psychische Gesundheit unserer Kinder eventuell aufs Spiel zu setzen. Wir erinnern uns: Die Kinder schliefen durchschnittlich 12 Minuten früher ein und wachten etwas weniger auf.
Lieber Ferbern als Schütteln?
Was ist nun mit den Eltern, die Ferber eigentlich mit seiner Methode unterstützen wollte? Eltern, die in Gefahr standen, ihre Kinder zu misshandeln, wenn sich die Schlafsituation nicht verbessern würde? Sollte man diesen Eltern nicht zugestehen, dass sie lieber ihr Kind kontrolliert schreien lassen sollten?
Es ist sicher ratsam, in einer akuten Situation, in der man wirklich nicht mehr kann, das Kind sicher abzulegen und kurz aus dem Raum zu gehen. Das ist dann aber kein Ferbern, sondern Schreienlassen aus Verzweiflung. Diese Eltern sollten nicht an einen Pranger gestellt werden, denn - wie im Text ja erläutert - wird unsere eigene Stressresistenz von unseren Genen und unseren Erfahrungen beeinflusst. Auch Eltern, die ihre Kinder aus Überzeugung ferbern, brauchen keine Verurteilung, sondern sanfte Aufklärung (idealerweise natürlich bevor sie es durchziehen). Wir können keine Drohungen in Richtung "Wenn du dein Kind ferberst, wird es später depressiv" aussprechen, weil die Datenlage dazu einfach nicht ausreicht, aber wir können auf mögliche Risiken hinweisen und den gesunden Menschenverstand und nicht zuletzt das Herz eine Entscheidung treffen lassen.
Eltern am Rande der Verzweiflung brauchen dringend Unterstützung. Wenn sich die Schlafsituation durch das Ferbern etwas verbesserte, würde das eventuell zu etwas mehr Entspannung führen, aber letztendlich ist das wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs, und die Familien brauchen langfristig mehr Hilfe. Wer sie dann mit dem Rat, das Kind doch einfach mal schreien zu lassen, abspeist, wird dem Ernst der Lage meines Erachtens nach nicht gerecht.
Alternativen zum Ferbern finden sich z.B. hier:
- "Schlaf gut, Baby" von Nora Imlau und Herbert Renz-Polster
- "Ich will bei euch schlafen" von Sibylle Lüpold
- "Besucherritze - Ein ungewöhnliches Schlaflernbuch" von Eva Solmaz
- Sanftes Schlaftraining nach Gordon (Opens in a new window)
Auf Instagram wurde mir auch mehrfach "Die Schlaffee" Irina Kaiser (Opens in a new window) für bindungsorientierte Schlafberatung empfohlen.
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Ich hoffe, dass mein ausführlicher Artikel etwas Licht in die Zusammenhänge gebracht hat. Ich kann es verstehen, dass es wahnsinnig anstrengend ist, wenn Babys nachts ständig aufwachen.
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* M.D. ist die Abkürzung für Doctor of Medicine, der berufsqualifizierende Abschluss des medizinischen Studiums an einer Universität (ohne Promotionsleistung).
** Es gibt Theorien, laut denen die elterliche Aggressivität, wenn sie ihr schreiendes Kind nicht beruhigen können, daher kommt, dass sie selbst als Kinder schreien gelassen wurden (nicht unbedingt zum Schlafenlernen) und sie sich unbewusst an ihre eigene Hilflosigkeit in dieser Situation erinnern. Gestützt wird diese Theorie durch die im Text beschriebenen epigenetischen Veränderungen an den Genen für die Cortisol-Rezeptoren. Ich habe ja mehrfach erwähnt, dass die Empfindlichkeit des Stresssystems zum Teil auch vererbt wird.
Quellen:
Blunden, S., Thompson, K., & Dawson, D. (2011). Behavioural sleep treatments and night time crying in infants: Challenging the status quo. Sleep Medicine Reviews, 15(5), 327-334.
Bowlby, J., & Base, A. S. (1988). Parent-child attachment and healthy human development. New York.
Gold, P. & Chrousos, G. (2002). Organization of the stress system and its dysregulation in melancholic and atypical depression: High vs low CRH/NE states. Molecular Psychiatry 7, 245-275.
Michael Gradisar, Kate Jackson, Nicola J. Spurrier, Joyce Gibson, Justine Whitham, Anne Sved Williams, Robyn Dolby, David J. Kennaway Pediatrics May 2016, e20151486; DOI: 10.1542/peds.2015-1486
Heim, C., Young, L., Newport, D.J., Mletzko, T., Miller, A.H., & Nemeroff, C.B. (2009). Lower CSF oxytocin concentrations in women with a history of childhood abuse. Molecular psychiatry, 14(10), 954.
Meinlschmidt, G., & Heim, C. (2007). Sensitivity to intranasal oxytocin in adult men with early parental separation. Biological psychiatry, 61(9), 1109-1111.
Nelson, J. K. (2005). Seeing through tears: Crying and attachment. Psychology Press.
Roth, G., & Strüber, N. (2018). Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta.
Waynforth, D. (2007). The influence of parent–infant cosleeping, nursing, and childcare on cortisol and SIgA immunity in a sample of british children. Developmental Psychobiology, 49(6), 640-648.
Yehuda, R., Daskalakis, N.P., Desarnaud, F., Makotine, I., Lehrner, A., Koch, E., .... & Bierer, L.M. (2013). Epigenetic biomarkers as predictors and correlates of symptom improvement following psychotherapy in combat veterans with PTSD. Frontiers in psychiatry, 4, 118.