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May you live in interesting times

Jedes Mal, wenn ich zu meinem Kühlschrank gehe, schaue ich auf den Magneten mit dem Motto der Biennale di Venezia von 2019 (und auf Magneten diverser anderer Reiseziele, geben Sie mir noch vier, fünf Jahre, dann fange ich an mit Spazierstock-Plaketten).

Als ich mir damals im November 2019, gefühlt allerdings forever ago, in Venedig in heiterster Eierkopftouristinnenlaune Kleiderständer-Büffel und Kunstblut wischende Roboter (Opens in a new window) ansah, hielt ich das Motto für eine freundliche Segnung. Denn völlig d'accord mit der (immer noch tief im Herzen verstauten) Band Die Sterne schätze ich ja nicht nur von allen Gedanken die interessanten (Opens in a new window) am meisten – hätte sich damals in Venedig der Teufel timmthaleresk an mich herangesneakt und mich vor die Wahl gestellt, ob ich mein Restleben in trüber Monotonie oder eben doch lieber in besagten interesting times zubringen wolle, ich hätte gimpelhaft sofort für letzteres unterschrieben. Mindestens mit dem Kunstblut des Roboters.

Schon seit längerem denke ich bei etwa jedem fünften Kühlschrankgang und folglichem Magnetenblick kurz darüber nach, ob der Biennale-Satz vielleicht in Wahrheit gar kein Segensspruch, sondern eine Verwünschung war. In der vergangenen Woche, die auch der vollendetste Kunstzyniker nicht mehr als interesting bezeichenen könnte, schaute ich dann doch einmal nach. Und las, dass "May you live in interesting times" auch als so genannter "chinesischer Fluch" bekannt sei, auch wenn sein Ursprung  nicht eindeutig belegt ist: Es gibt diesen Satz nicht als chinesisches Sprichwort, am nähesten kommt ihm noch die Phrase: "Lieber als Hund in ruhigen Zeiten leben, denn als Mensch in chaotischen." Behauptet wurde die angeblich chinesische Fluchbedeutung jedenfalls 1949 in den Memoiren des britischen Diplomaten Hughe Knatchbull-Hugessen (so schöne Namen werden heute gar nicht mehr hergestellt).

Wikipedia (Opens in a new window) kombiniert dazu ein gedanklich passendes Zitat von Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“

Die (im harmlosesten Sinn) interessanten Schrulligschnörkel, die ich für diese Ausgabe meines Newsletters vorbereitet hatte, fühlen sich gerade nicht passend an. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass die Kauzigkeiten hier darum in dieser Woche pausieren. Allen, die sich gerade nach Ablenkung und zumindest kurzer eskapistischer Rast sehnen, empfehle ich ersatzweise diesen Tweet. Er zeigt (hinter dem Link) einen Zusammenschnitt der Showauftritte des über alle Maßen bemerkenswerten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei der ukrainischen Version von "Let's dance", die er 2006 gewann. Hoffen wir fest auf eine sehr bald wirklich langweilige Welt.  

https://twitter.com/abughazalehkat/status/1497768813860896770 (Opens in a new window)

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