“Da sind wir aber doch heute längst weiter!”
Dieser Einwand fällt immer dann, wenn mensch auf ein Gegenüber trifft, das sich bisher nur wenig auseinandergsetzt hat mit den aktuellen Rollenvorbildern und ihrer Präsenz im Alltag, in Medien, im eigenen Umfeld, privat oder beruflich. Wir kennen ihn aus den Kommentarspalten und aus SocialMedia-Diskussionen oder aus Veranstaltungen: wir würden die Situation dramatisieren und die Augen verschließen vor den positiven Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Und ja, es stimmt:
… wir sind in vielen Bereichen längst weiter, im Vergleich zu den 1950er, 60er, 70er-Jahren: Der Frauenanteil in Spitzenpositionen steigt langsam, Männer können nicht mehr die Arbeitsverträge ihrer Ehefrauen kündigen, es gibt die ‘Ehe für alle’ unabhängig vom Geschlecht, und … ja, es hat sich viel getan - einerseits. Aber müsste andererseits die Frage nicht eigentlich lauten:
Sind wir weit genug gekommen?
Denn mal ehrlich: sind wir im Vergleich zu dem, was investiert wurde, sind wir angesichts der staatlichen und zivilgesellschaftlichen, der finanziellen und juristischen Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte wirklich weit genug gekommen? Stehen Aufwand und Ertrag da in einem angemessenen, gar guten Verhältnis?
Am 15. November 1994, vor gut 30 Jahren hat der Deutsche Bundestag mit der notwendigen 2/3-Mehrheit den Grundgesetzartikel 3 erweitert und den entscheidenden Satz hinzugefügt: "Der Staat fördert die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Gleichberechtigung ist also seit dem 15. November 1994 ein im Grundgesetz verankertes Staatsziel!
Was heißt das genau?
Der Staat darf sich nicht nur darauf beschränken, rechtliche Gleichheit zu gewährleisten, sondern er hat die aktive Aufgabe, bestehende Ungleichheiten in der Gesellschaft zu beseitigen.
Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichte sind aufgefordert, Ungleichheiten aktiv abzubauen. Und zwar ist das nicht auf Diskriminierung im engeren Sinn begrenzt, sondern das umfasst auch Maßnahmen, die struktureller Benachteiligung entgegenwirken.
Fördermaßnahmen, Quotenregelungen für Frauen in Führungspositionen und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sollten Hindernisse abbauen, die Jahrhunderte patriarchaler Strukturen hinterlassen haben.
Gleichberechtigung ist Staatsziel seit 1994
Es ist also ein Meilenstein, aber vor allem ein symbolischer. Denn solange Frauen weiterhin schlechter bezahlt, unterrepräsentiert und Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt sind, bleibt dieser Verfassungsauftrag unvollständig! Doch er scheint einigen Politiker*innen inzwischen ganz aus dem Blick geraten. Zum Beispiel, wenn es ums (Ent-)Gendern geht ("Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD." - Desinformation von Friedrich Merz), um die Abschaffung des Ehegattensplittings oder des Paragraphen 2018 (es sei “ein Skandal” den jetzt abschaffen zu wollen, wieder Merz) die Einführung einer Vaterschaftsfreistellung nach Geburt oder um die Quotenregelungen ("Wir tun damit auch den Frauen keinen Gefallen." - sorry, wieder: Friedrich Merz, wieder eine Desinformation). Wem diese Maßnahmen unangemessen, unzureichend, gar falsch erscheinen mögen, sie abzulehnen reicht angesichts des Grundgesetzes nicht aus. Wer eine Quotenregelungen ablehnt, der möge konkrete, zielführende(re) und direkt umsetzbare Vorschläge einbringen, weil wirklich weiter sind wir mit den bisherigen, selbstverpflichtenden Maßnahmen nicht gekommen. Wer sich gegen ein Verbot von Gendermarketing positioniert oder wer eine konsequente geschlechtersensible Pädagogik in Kitas und Schulen ablehnt, muss Gegenentwürfe anbieten! Wer Veränderung ausbremst, muss gefälligst bessere Vorschläge liefern! Das fordern nicht wir, das ist unser aller grundgesetzliche Pflicht und Aufgabe.
Wie weit entfernt wir auch in Deutschland noch von einer wirklichen Gleichberechtigung der Geschlechter sind, zeigt ein schneller Blick auf eine beliebige Statistik zu den Gender Gaps (Übersicht zu PayGap, CareGap, PensionGap, Lifetime EarningsGap der UN Women Deutschland (Opens in a new window)).
Am 19. November 2024 fasste Innenministerin Nancy Faeser den Lagebericht 'Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Gewalt’ folgendermaßen zusammen:
"Fast jeden Tag sehen wir einen Femizid in Deutschland. Alle drei Minuten erlebt eine Frau oder ein Mädchen in Deutschland häusliche Gewalt. Jeden Tag werden mehr als 140 Frauen und Mädchen in Deutschland Opfer einer Sexualstraftat. Sie werden Opfer, weil sie Frauen sind."
Deshalb wollen wir nicht länger darüber reden, schreiben und lesen, wie weit wir schon gekommen sind! Wir wollen keine oberflächlichen Erfolge feiern, solange Frauen im Durchschnitt nur halb so viel Vermögen erwirtschaften im Laufe ihres Lebens als Männer, solange Frauen und Mädchen alltäglich von misogyner Gewalt bedroht sind!
Wir wollen diesen so zähen Prozess endlich beschleunigen, damit wenigstens unsere Ur(ur?)enkel*innen echte Gleichberechtigung erleben dürfen. Aber die Prognosen aus dem Gender Gap Report des World Economic Forums (WEF) (Opens in a new window) sind da wenig zuversichtlich. Und angesichts des fortschreitenden Klimawandels, der unsere gesamte menschliche Existenz gefährdet, stellt sich die Frage, ob wir Gleichberechtigung überhaupt erleben werden. - Wobei es angemessen wäre, von 'wieder erreichen' zu sprechen, weil viel darauf hindeutet, dass frühere Gesellschaften teilweise gleichberechtigter gelebt haben, zum Beispiel in der vielzitierten Steinzeit (Opens in a new window). Soviel also zur Aussage: “Da sind wir doch heute längst weiter!”
Kinder und Care mitdenken !
Angesichts der anhaltenden Herausforderungen mag unser Plan und Lösungsvorschlag einfach erscheinen:
lasst uns Gleichstellungspolitik von den Kindern her denken, denn die zentralen Ungerechtigkeiten beginnen tatsächlich dort, im Kinderzimmer, auf dem Spielplatz. Sie werden im Laufe der kindlichen Sozialisation gelernt, eingeübt und als normal verinnerlicht.
Und lasst uns den Fokus verschieben auf Care-Arbeit, auf Fürsorge und ein gesellschaftliches Miteinander auf Augenhöhe, in dem uns keine engen Rollenbilder daran hindern, uns empathisch umeinander zu kümmern.
Wie das im Detail funktionieren kann, das wird unser thematischer Fokus im kommenden Jahr sein. Darüber wollen wir schreiben, mit euch in Austausch gehen und vor allem: ins gemeinsame Handeln finden:
#gemeinsamlauter !
Das wird im kommenden Jahr, angesichts des erneuten Amtsantrittes von Donald Trump und der anstehenden Bundestagswahl wichtiger denn je.
Wir bieten dafür den 1. März 2025: den Aktionstag Equal Care Day (Opens in a new window) ! Der findet nächstes Jahr zum 10. Mal statt, und wir organisieren wieder ein hybrides Festival, das ganz im Zeichen von Austausch, Vernetzung und einem gemeinsamen Aufbruch stehen wird (Bis Weihnachten gibt es noch EarlyBird-Tickets (Opens in a new window), danach zum regulären Ticketpreis).
Wir freuen uns, euch dort oder bei einer der vielen anderen Gelegenheiten zu treffen: Gleichberechtigung ist seit 1994 Staatsziel in Deutschland und geht uns alle an. Lasst uns nicht nochmal 30 oder gar 300 Jahre warten!
Bunte Grüße
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Almut & Sascha
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