Streumunition - der Sündenfall des Westens oder wie wir Deutschen wahnhaft glaubten, endlich im wertebasierten Dritten Weltkrieg zu den Siegern zu gehören ...
Die kleine, ohnehin schon von deutlichem Schwund gezeichnete Schar der Friedensbewegten verstummt resigniert, die große Mehrheit der Kriegsbefürworter atmet erleichtert durch. Endlich geht die NATO-Führungsmacht USA voraus und sagt der Ukraine zu, die schon lange angeforderte Streumunition zu liefern.
https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/usa-streumunition-ukraine-video-100.html (Opens in a new window)US-Präsident Joe Biden gab das finale grüne Licht. Freude bei der ukrainischen Regierung, deren Offensive gegen die russischen Besatzer entgegen anfänglicher Erfolgsmeldungen doch gehörig ins Stocken zu geraten droht. Ohne eine qualitative militärische Aufrüstung dürfte eine großflächige Rückgewinnung ukrainischen Gebietes von den russischen Aggressoren nicht zu erreichen sein.
Streubomben können nach streng militärischer Logik ein erfolgreiches Mittel gegen einen Gegner sein, der sich mit seinen Truppen auf einer ausgedehnten Fläche außerhalb von menschlichen Siedlungen befindet, zum Beispiel bei russischen Stellungen wie Schützengräben gegen die ukrainische Gegenoffensive.
Die russische Armee selbst war bislang schon wenig zimperlich im Einsatz von Streumunition im Ukrainekrieg, wie die Nichtregierungsorganisation "Handicap International" bei zahlreichen Angriffen von Wladimir Putins Militärmaschinerie dokumentiert und nachgewiesen hat: Kiew, Cherson, Mikolajiv, Ternopil, Charkiv, Dnipro und Kramatorsk sind Synonyme für den Terror und Schrecken, der wahllos vor allem Zivilisten umbringt. Von bedauerlichen Einzelfällen kann also keine Rede sein, von Angriffen nur auf militärische Ziele, wie die Russen immer wieder behaupten, kann angesichts der Faktenlage keine Rede sein. Die russische Argumentation ist eine Lüge.
https://www.streubomben.de/streubomben/laender/streubomben-in-der-ukraine/#c22159 (Opens in a new window)Da sich der russische Kriegsapparat sich um eine irgendwie geartete Soldatenehre, falls es denn so etwas gibt, im Allgemeinen und das Leben unschuldiger Menschen im Besonderen keinen Deut schert, ist es nur logisch, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij angesichts dieses Schreckens den Einsatz des gleichen Waffentyps auch für sich reklamiert.
Aus ukrainischer Regierungssicht ist es nachvollziehbar, logisch, nur allzu konsequent.
Eine weitere fürchterliche Hinterlassenschaft abgeworfener Streumunition war in vergangenen Kriegen die hohe Blindgängerquote von teils 20 % bis zu 40 %, d.h. ein Großteil der Bomblets kann noch Jahre später explodieren.
Das US-Pentagon hingegen versichert, dass nach Angaben des Herstellers Textron Defense Systems die "failure rate" von Streumunition wie CBU-97 oder CBU-105 nur noch bei 2,35 % liege.
https://www.nytimes.com/2023/07/07/us/cluster-weapons-duds-ukraine.html (Opens in a new window)Aus ukrainischer Regierungssicht ist die Lieferung eine militärische Notwendigkeit, daher nachvollziehbar, logisch und nur allzu konsequent.
Aber die "New York Times" berichtet, dass diese geringe Fehlerquote von 2,35 % nur auf Labortests und nicht auf realistischen Feldversuchen beruht.
Bis zu ca. 3,7 Millionen Streubomben mit jeweils rund 80 Sprengkörpern könnten die Vereinigten Staaten an die Ukraine ausliefern. Umgerechnet sind dies insgesamt ungefähr 296 Millionen Sprengköpfe !!! . Selbst wenn man von einer Blindgängerquote von nur 2,35 % ausgeht, sind das dann beinahe 6.956.000 nicht detonierte Submunition, die scharf und jederzeit explosiv auf ukrainischem Boden noch lange liegen, selbst wenn die russischen Soldaten erfolgreich vertrieben sein sollten. 2,35 % klingt nicht viel, die absolute Zahl von fast 7 Millionen ist erschreckend !
Die westliche Öffentlichkeit sorgt sich vorrangig um den Schutz der leidgeplagten Bevölkerung, um die älteren Menschen, die Frauen, die Kinder, die Behinderten, alle diejenigen, die wehrlos den russischen und vielleicht bald auch den ukrainischen Flächenbombardements ausgeliefert sein könnten.
Selbst wenn sich so einfach zwischen Zivilen und Militärs trennen ließe, auch Soldaten sind Menschen. Vermutlich, so stellt es sich zumindest der Verfasser dieser Zeilen vor, will auch nicht jeder ukrainische oder russische Soldat sich für seinen Staat, für "Slawa Ukraijini" oder "Rossija", für die heilige slawische, urrussische Erde oder für die Demokratie und die Menschenrechte, für den vorgeblichen Schutz der Heimat in blutige, breiige Einzelteile zerfetzen lassen.
Völkerrechtlich ist der Einsatz von Streumunition übrigens für die Ukraine wie für Russland völlig in Ordnung, denn keiner der beiden Staaten (ebenso wenig die USA, VR China, Indien, Israel, Nordkorea und viele mehr) ist der sogenannten Oslo-Konvention zur Ächtung von Streumunition beigetreten. Wenn man so will: Einer, der es ablehnt, Mord als Verbrechen zu verurteilen, kann eigentlich nicht wegen Mordes angeklagt werden, er hat ja nie gesagt, dass er solches Recht akzeptiert.
Außerdem soll die Oslo-Konvention die Zivilbevölkerung des angegriffenen Landes vor dem Einsatz von Streumunition durch den Aggressor schützen. Die Ukraine erobert aber ihr eigenes, von Russland besetztes Territorium zurück, und die Bevölkerung in diesen okkupierten Landstrichen wird ohnehin schon mit russischer Streumunition drangsaliert. Da ist ein möglicher Kollateralschaden durch den Einsatz ukrainischer Clusterbomben ein kleineres, aber notwendiges Übel.
Streumunition, die Wunderwaffe des Westens für die Ukraine also.
Präsident Wolodymyr Selenskij fehlen jetzt noch Phosphor-Brandwaffen, aber die wird es sicher auch noch geben. Dass Menschen an Verbrennungen dritten Grades erbärmlich unter Qualen zugrundegehen, auch noch vergiftet werden, das ist nach dieser Sicht der Preis dafür, dass westliche wie auch russische "Werte", von welcher Seite man es sehen will, die Menschheit beglücken.
Aber zurück zur Streumunition - eine Munition, die über Fliegerbomben (als Streubombe / Cluster Bombs), Artilleriegeschosse (als Cargomunition / Cargo Ammunition) oder über Marschflugkörper (als Sprengköpfe) eingesetzt wird und flächendeckenden Schaden und Verwüstung anrichtet. Dabei setzt die Streumunition sogenannte Submunition (Bomblets) frei, die sich über die Fläche ausbreitet und detoniert. Diese Bomblets können unterschiedliche Ausprägungen haben, je nach Typus verursachen sie Explosionen, Feuerbrände oder haben Splitter- oder panzerbrechende Wirkung.
Wie der Name bereits verrät, ist die besondere Zielsetzung eben diese weite Streuung, was folglich bedeutet, dass auch der gezielte Einsatz gegen feindliche Truppen nicht mit letzter Gewissheit davor schützen kann, dass aufgrund der Streuung der Submunition auch unbeteiligte Zivilisten getötet werden. Das war bislang in allen Kriegen mit Einsatz dieser Waffengattung der Fall, ob im Kosovo-, im Afghanistan-, im Irak- oder Libanonkrieg oder bereits während des Vietnamkrieges in den 1960er und 70er Jahren in Kambodscha und im Laos.
Ein Werbevideo des US Military Channels lässt die verheerende todbringende Wirkung dieser Munition erahnen. Was wie ein Feuerwerk in der Wüste aussieht, ist ein grauenhaftes Bombengewitter.
https://www.youtube.com/watch?v=Fah86aXBL2k (Opens in a new window)Ausgerechnet Kambodschas Premier Hun Sen, wahrhaftig kein Humanist, geschweige denn Demokrat oder gar Pazifist, warnt aufgrund der schlimmen Erfahrungen seines Landes vor dem Einsatz der Clusterbomben:
https://www.n-tv.de/politik/Kambodscha-warnt-Ukraine-vor-Streumunition-article24247751.html (Opens in a new window)Selbst die Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP scheint nicht ganz mit sich im Reinen zu sein. Einerseits hat die militärische Unterstützung der Ukraine für sie absoluten Vorrang, und die Entscheidung der USA über die Lieferung wird auf dem diplomatischen Parkett nicht in Frage gestellt.
Aber selbst Kriegsfalken wie Außenministerin Annalena Baerbock (B90/Die Grünen) oder ihr Parteimitstreiter Anton Hofreiter sprechen sich bislang noch gegen die Zurverfügungstellung von Streumunition aus.
https://www.merkur.de/politik/gruenen-politiker-hofreiter-gegen-streumunition-fuer-ukraine-zr-92389742.html (Opens in a new window)Ob Hofreiters Alternativvorschlag, stattdessen doch Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern, unbedingt eine bessere Lösung ist, wäre allerings gesondert zu untersuchen.
Da bedarf es schon eines strammen Sozialdemokraten und guten Christen wie unseres Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im ZDF-Sommerinterview, um der verunsicherten heimischen deutschen Bürgerschaft wieder Zuversicht in ein schnelleres Kriegsende und kurzfristig zusätzliche Opferbereitschaft zu verordnen, denn wir Deutschen dürften jetzt "den USA nicht in den Arm fallen".
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/zdf-sommerinterview-steinmeier-streubomben-ukraine-100.html (Opens in a new window)Ja, wo kämen wir denn hin, wenn wir Deutschen uns im vielleicht kurz bevorstehenden Dritten Weltkrieg des Mitkämpfens feige entziehen würden?
Dabei hatte die Bundesrepublik als einer der ersten Staaten (von nunmehr weltweit 111) die Konvention über die Ächtung von Streumunition (Convention on Cluster Munitions CCM bzw. Oslo-Konvention) unterzeichnet, aber das war 2009, zeitlich weit entfernt von dem jetzigen innereuropäischen Gemetzel.
Taktisch soll mit den Streubomben der Vormarsch der ukrainischen Armee unterstützt werden. Aber was ist die Strategie, der große Plan? Wie lange noch sollen Menschen auf beiden Seiten ihr Leben lassen?
Gibt es echte, realistische Chancen auf Geländegewinne der Ukrainer? Und wie werden die Russen reagieren? Die Angst besteht, dass Putin doch noch eine Eskalationsstufe unterhalb des Atomwaffeneinsatzes zünden wird. Wie wird dann der Gegenschlag der Ukraine mit welchen westlichen Waffen aussehen?
Sind die Streubomben für die Ukraine der Sündenfall des Westens, der die NATO immer direkter und offener zur Kriegspartei werden lässt? Und treibt es uns nicht doch in eine Eskalation, die wir nicht mehr eindämmen, begrenzen können? Marschieren wir Deutschen dann wieder voller wahnwitziger Überzeugung und Begeisterung ganz vorne mit beim sich ankündigenden Dritten Weltkrieg, auf dessen Trümmerfeld wir dann endlich zu den Siegern zu gehören glauben?