Dear Daniel,
ich habe ein halbes Jahr vor der Pandemie aufgehört zu trinken. Mit Liebe habe ich mich seitdem vor allem theoretisch beschäftigt. Jetzt macht die Welt auf und ich auch und obwohl ich erstmal locker ein paar Typen daten wollte, hab ich einfach einen gefunden, der mir gefällt, und jetzt date ich den.
Nach und nach finde ich heraus, was für mich geht. Betrunken ist er eh nie, aber küssen nach einem Bier ist okay. Alkoholisiertes Übernachten, unabhängig von der Menge, nicht.
Vor ein paar Tagen kam er zum Übernachten und ich meinte, Alkohol an ihm zu riechen. Ich hab ihn danach gefragt, er sagte, er habe ein alkoholfreies Bier getrunken. Mein Eindruck ging aber nicht weg, also habe ich nochmal gefragt. Er sagte, er habe explizit um eine Flasche alkoholfreies Bier gebeten, aber nochmal gecheckt habe er es nicht. Ich sagte: hm, okay. Ich dachte: Das merkt man doch...?
In meiner Welt ist es üblich, über Alkoholkonsum zu lügen. Ich habe in
dieser Hinsicht oft auch selbst das Vertrauen anderer gebrochen. Vielleicht rührt mein Misstrauen also daher...? Ich kann natürlich nochmal fragen. Aber ist der Witz am Vertrauen nicht eben, dass man etwas nicht mit Sicherheit wissen kann?
Lieber Daniel, sag doch mal: Wie weiß ich, ob es sich bei meinen Gefühlen um Intuition oder Angst handelt?
Liebe von mir zur dir!
Marlene
Liebe Marlene,
Erst einmal danke für deinen Brief und danke für die genaue Beschreibung des Sachverhalts - ich bin oft beeindruckt, mit welcher Präzision sich nüchtern lebende Menschen mit ihren Gefühlen auseinandersetzen. Als jemand, der selbst nüchtern lebt, weiß ich, dass man keine andere Wahl hat, aber ich finde trotzdem, dass du stolz auf die Aufrichtigkeit und die Genauigkeit sein solltest, mit der du dich befragst. Auch wenn es sich gerade vielleicht nicht so anfühlt: Darin liegt sehr viel Schönheit - die Schönheit des Im-Leben-Stehens, die Schönheit des Wirklich-am-Leben-Seins.
Aber nun zu deiner Frage: Du kannst dir nicht sicher sein, ob es sich bei deiner Reaktion auf den nächtlichen Alkoholgeruch um Intuition oder Angst handelt. Ganz grundsätzlich nicht. Dafür kennst du deinen Freund noch nicht gut genug. Und da es, wie du sagst, das erste Mal in deiner Nüchternheit ist, dass du mit jemandem zusammen bist, kennst du auch dich selbst, zumindest in Situationen wie diesen, noch nicht gut genug.
Wir denken oft, dass unser Bauchgefühl angeboren ist und uns auf ganz essentielle Weise sagt, was richtig oder falsch sei. Aber vielmehr sorgen all unsere Erfahrungen dafür, dass unsere Intuition geformt wird, sich weiterentwickelt und diese oder jene Färbung annimmt. Das heißt, dass sie uns uns sowohl helfen als auch in die Irre führen kann. In deinem Brief klingt an, dass du diesen Umstand noch sehr guter aus deiner Zeit des Trinkens kennst. Mir ging es genauso: All der Mist, den ich gebaut habe, hat psychisch dafür gesorgt, dass ich mein Bauchgefühl häufig nicht wahrnehmen und ihm schon gar nicht trauen konnte. Es ist irre wichtig, empfänglich für die eigene innere Stimme zu werden. Aber dazu gehört auch, den Umgang mit ihr zu lernen. Gerade wenn man sein Leben nach einem monumentalen Einschnitt neu ordnet.
Mit anderen Worten:
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