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Ausgabe #3  - Ach Ach Liebling

Ein Newsletter über Musik von Melanie Gollin und Jochen Overbeck. Alle zwei Wochen zwischen zwei und vier Themen.  

Heute: Françoise Cactus, Atempause, Taylor Swift

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AU REVOIR _________________________________________________________________

16:42 Uhr am 17. Februar 2021. Ich mach’ mir einen Kakao, auf den ich gar keine Lust hab’. Aber bevor ich die Meldung las, war es mein Plan, einen Kakao zu machen, die Milch muss weg. Ich weine in den Kakao. Bei Bowie hab ich nichts gefühlt; Prince, Scott Walker – ich erkenne ihre Rolle in der Popgeschichte an, aber mit denen hatte ich nichts zu tun, weder als Fan noch persönlich. Bei Marie Fredriksson war ich kurz wehmütig. Aber jetzt lese ich die Nachricht vom Tod eines meiner größten Idole. Einer der coolsten Menschen, die mir je begegnet sind. Man sagt ja, dass jede Person eigentlich nur eine Amalgamation aus den Leuten ist, die ihr unterwegs begegnen. Wer ich wäre, wenn ich Françoise Cactus (Öffnet in neuem Fenster) und ihre Band Stereo Total (Öffnet in neuem Fenster) nicht gekannt hätte, will ich mir gar nicht vorstellen. An diesem 17. Februar stirbt sie.  M 

Nachdem ich den Facebook-Post sehe, klappe ich den Laptop zu. Schreibe kurz unserem gemeinsamen Bekannten, in der Hoffnung, dass es eine Ente ist. Er antwortet mit "Scheißescheißescheiße". Ich mach’ den Laptop wieder auf und fange sofort an, alles aufzuschreiben, woran ich mich erinnere: jedes Interview, jedes Treffen, jedes Erlebnis. Innerlich bereite ich mich auf die Nachrufe vor, die schneller kommen, als irgendwer traurig sein kann; dass ich keinen davon lesen werde, ist mir sofort sehr klar. Wie jeder Fan weiß ich, dass alle anderen meinen Star eh nicht so gut kennen und verstehen wie ich. Über die wahre Essenz der Françoise Cactus weiß selbstverständlich niemand außer mir Bescheid.

Das hier ist kein Nachruf, dieser Text enthält so gut wie keine Fakten, googlen könnt ihr selbst. Das hier ist eine Sammlung kleiner Begebenheiten und der Versuch, diejenigen unter euch, die Françoise Cactus nicht kennen, zu verwundern. Diejenigen unter euch, die sie kennen, zum Lächeln zu bringen. Und allen Lust zu machen, sich mit dieser Wucht von Person zu beschäftigen. On y va:

DU ALTER SACK: Die allererste Real Life-Begegnung mit Françoise Cactus (abgesehen von dem einen Mal, als ich sie ca. 2008 in Kreuzberg zufällig an einer Ampel sah und vor Mir-den-Hals-verdrehen fast von einem Auto überfahren wurde) war 2010 in Leipzig. Meine andere Lieblingsband Jeans Team spielte dort. Eine Freundin kannte die Band und wir hingen nach dem Konzert alle zusammen rum. Weil Stereo Total am gleichen Abend auch in Leipzig spielten, wollten sich die Jeans Team-Jungs im Ilse’s Erika mit ihnen treffen. Natürlich schlichen wir hinterher! Die Musik von Stereo Total begleitete mich damals immerhin schon einige Jahre. Wir konnten Françoise noch nicht mal sehen, da schallte ein donnerndes "REIMO, DU ALTER SACK!" quer durch den Club (Reimo war ½ Jeans Team und davor Teil von Stereo Total). Ich werde die geräucherte Kehligkeit, die Lautstärke, das schmutzige Lachen, den ganz und gar unfraulichen Klang dieses Ausrufs nie vergessen. So laut, so unbekümmert, so impulsiv wollte ich auch sein. Heute bin ich’s manchmal. Wir saßen danach alle auf einer Couch, mein Blick waberte irre durch den Raum. "Seht ihr das auch? Ich sitze hier mit Françoise Cactus?!"

3 Stunden: Drei Wochen nach dem Leipzig-Ereignis hatte ich mein allererstes Interview mit Stereo Total. Die Band ließ mich drei Stunden warten.

Weizenallergie: Françoise hat eine Weizenallergie, das hat sie mal irgendwann gesagt und ich habe es mir gründlich gemerkt, denn ich dachte, es wird wichtig, wenn ich sie zum Essen einlade und für sie koche.

Brüste: 2015 hab ich aufgehört BHs zu tragen und Françoise hat einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass ich durchgehalten habe. Als Frau keinen BH zu tragen ist oft unangenehm, weil man sich immer bewusst ist, dass die Brüste jetzt irgendwie aussehen könnten statt schön unauffällig-auffällig industriegenormt. Als 2016 das Stereo Total-Album LES HORMONES (Öffnet in neuem Fenster) erschien, war dort auch der Song "Doktor Kaktus (Öffnet in neuem Fenster)" drauf – und ich konnte Françoise für eine Dr.Sommer-artige Ratgeberreihe gewinnen, bei der sie Hörer*innenfragen beantwortete und Tipps gab (alle Folgen kann man hier hören (Öffnet in neuem Fenster)). "Was mich betrifft, so trage ich hauptsächlich Baumwolle," sagt sie auf die Frage, ob Spitze unten drunter Not tut. "Ich kann diese sogenannten sexy Nylondinger nicht ausstehen. Genauso diese modernen BHs mit den runden Polstern drin. Find ich hässlich. Sollen jetzt alle Frauen die selben Brüste haben, oder wie? Ich habe Brezel gefragt, meinen Freund, was er davon hält. Und er hat gesagt: 'Baumwollunterwäsche ist trotz ihrem schlechten Ruf eine Garantie für exzessive Nächte, Spaß im Bett, verrückte Überraschungen und intensive One Night Stands, aus denen innige Freundschaften für Jahrzehnte werden. Spitzenunterwäsche dagegen ist der textile Soundtrack zu ausgebrannten Beziehungen, falschen Erwartungen, Leistungsdruck im Bett, Errektionsstörungen und Ejaculatio praecox!' Muss nicht so sein, ist aber leider die Regel."

Andere sehr gute Sachen, die Françoise in dieser Kolumne gesagt hat:

"Viel wichtiger als Körperproportionen ist Charme und Originalität!"

"Verliere nie den Glauben an dich und an deine magischen Kräfte!"

"Ich lerne extra nichts aus meinen Fehlern."

Zahnbürsten: Der Pressetag zum 2012er Album CACTUS VERSUS BREZEL (Öffnet in neuem Fenster) fand in der Wohnung des Duos statt. Ich konnte mein Glück kaum fassen, näher würde ich einem privaten Hangout mit meinem Idol nie kommen (das ist leider wahr geblieben, aber das ist ok). Weil ich im U-Bahnhof den richtigen Ausgang nicht fand, kam ich zu spät, total verschwitzt und konnte dann vor Aufregung meine Stimme nicht kontrollieren. Von der Konzentration mal ganz abgesehen. Die Wohnung war riesig und voller Zeug, voll Musik und bunter Kunst, Wollita (Öffnet in neuem Fenster) saß auf dem Sofa. "Darf ich mal kurz das Bad benutzen," hörte ich mich fragen, obwohl ich nicht musste. Ich wollte einfach so viel einsaugen, wie ging. Neben dem Waschbecken hing eine ganze Palette farbenfroher Kinderzahnbürsten mit fremdsprachigem Aufdruck. Ich stellte mir vor, wie die beiden die von der Tour aus Mexiko oder Japan mitgebracht hatten, als kleinen Gag für spontane Übernachtungsgäste. Wann immer ich eine bunt-durchsichtige Plastikzahnbürste sehe, denke ich daran.

Zu dritt: Bei ihren Konzerten war es über die Jahre Standard geworden, dass Brezel und Françoise pünktlich zum Song "Liebe Zu Dritt (Öffnet in neuem Fenster)" eine Person auf die Bühne holten, die dann mit ihnen eine performerische Menage À Trois vollführen musste. Beim 2012er Stopp im Festsaal Kreuzberg war ich das. Bis heute ist mir das hundspeinlich, weil ich so verkrampft war und den Moment nicht einfach genossen hab'. Aber immerhin wäre es noch peinlicher gewesen, sich zu zieren wenn Françoise mit dem Finger auserwählend auf dich zeigt. Augen zu und durch.

Bon!: Françoise’ Antwort auf alles. Damit war alles gesagt, es war ihr "Von mir aus," ein "Naja, pff!" mit dem ganze Diskussionen effektiv beendet wurden. Für mich war es das Symbol für: Diese Frau scheißt sich nix. Sie ging auf die Bühne mit ihrer berühmten Tasche (Öffnet in neuem Fenster), in der waren ihre Songtexte. Bis heute die einzige Performer*in, den*die ich gesehen hab, dem*der es schnurzpiep ist, wenn andere sehen, dass die Texte nicht ganz auswendig sitzen. Im Interview hat sie mal vorm Antworten ihren Kaugummi aus dem Mund genommen und auf besagte Tasche geklebt, war ihr auch wurscht, dass ich das sehe. Praktisch, rumpelig, platzeinnehmend, keine Angst davor, als unfein angesehen zu werden.

Kleines Mädchen: Trotz der vielen Treffen hat sich Françoise nie meinen Namen gemerkt. Zumindest hat sie ihn nie benutzt. Falls oben der Eindruck entsteht, wir wären befreundet gewesen, das war nicht der Fall. Unsere Treffen waren immer beruflicher oder bewundernder Natur, bei Interviews und Konzerten. Wenn sie ins Büro des Radiosenders kam, bei dem ich gearbeitet hab, hat sie gefragt: "Wo ist das kleine Mädchen?" Ich konnte ihr das nicht krumm nehmen, denn Lautstärke und ihr für immer 16-jähriger französischer Dialekt haben jeden Groll glattgebügelt. Einmal hat sie mir etwas mitgebracht, die DACTYLO ROCK ET CÆTERA 7” (Öffnet in neuem Fenster), die sie aus der legendären Umhängetasche herauskramte. Auf dem Cover ein Bild von ihr rauchend auf dem Klo. Das war der größte Tag. Françoise Cactus hatte MIR etwas mitgebracht! Ich schließe bis heute nicht aus, dass sie es einfach sowieso in der Tasche hatte und eine Chance sah, es loszuwerden. Aber das ist mir auch ein bisschen egal.

BON! Wer jetzt Lust hat, sich mit dieser Frau und ihrer Band zu beschäftigen: Macht. Tipps, wo man anfangen soll, gibt es nicht. Beginnt einfach bei "Ach Ach Liebling (Öffnet in neuem Fenster)" und grabt euch durch, ihr könnt da gar nichts falsch machen.

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AU SRUHEN _________________________________________________________________

Klingt gut, sieht (zum Teil) gut aus: Drei aktuelle Zeittotschlags-Orte im Internet J  

Katzen-Content zur maximalen Befriedigung des Katzen-Content-Bedarfs der bundesdeutschen Bevölkerung gab es auch schon vor 50 Jahren. Nur musste man dafür nicht den Computer, sondern den Fernseher anschalten. Jetzt sind die Pausenkatzen des HR (Öffnet in neuem Fenster), die in Randzeiten des Programms (Öffnet in neuem Fenster) immer noch ausgesendet wurden, natürlich doch im Internet gelandet. 

Was da für Musik im Hintergrund läuft? Natürlich Fats Wallers "Wild Cat Blues" (Öffnet in neuem Fenster) in einer Version von Henry Arland. Fun Fact: Das ist der Neffe der Gattin meines Onkels. Ich bin also irgendwie mit ihm verwandt, und dass er diesen sehr schönen Track eingespielt hat, war mir völlig neu. 

2015 wurde eine leicht veränderte Neuauflage (Öffnet in neuem Fenster) gedreht.  

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Natürlich kann man schon immer (beziehungsweise: seit es das Internet gibt) Radiosender aus Ländern aller Welt anhören. Mit der App "Drive And Listen" (Öffnet in neuem Fenster) hat man aber eine zusätzliche Möglichkeit: Man kann virtuell durch die Stadt der Wahl fahren, während im Hintergrund ein einheimischer Radiosender läuft. Die Straßengeräusche, die so eine Autofahrt mit sich bringt, kann man dabei je nach Wunsch ein- oder ausblenden. In Berlin ist es übrigens Radio Fritz, das der Macher der App, der Münchner Student Erkam Seker ausgewählt hat. Der Wagen, in dem man unterwegs ist, fährt im dichten, aber noch flüssigen Verkehr über den Tempelhofer Damm Richtung Kreuzberg. Live ist das aber nicht – die Clips zieht Seker von Youtube. Notiz: Es dauert zum Teil ziemlich lange, bis die Radiostationen laden. 

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Und wie klingen eigentlich Wälder? Ganz angenehm (Öffnet in neuem Fenster).

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AU TONÄRRIN _________________________________________________________________

Taylor Swift war in den letzten 15 Jahren alles. Nashville-Newcomerin, All-American Pop-Superstar, zuletzt mit den zur Pandemie-Zeit veröffentlichten Alben FOLKLORE (Öffnet in neuem Fenster) und EVERMORE (Öffnet in neuem Fenster)Darling der Indiekids, die Dank der Mitwirkung von und der Zusammenarbeit mit Künstler*innen wie Bon Iver, Haim und The National endlich offiziell ihre Zuneigung zu ihr bezeugen durften. Während dieser Zeit hat sich auch ihr Songwriting weiterentwickelt – die High-School-Anekdoten blitzen heute nur noch in nostalgischen Sepia-Tönen durch, stattdessen sind Geschichten vielwinkeliger, spannender und wortgewaltiger geworden.  J  

Eines ist indes gleich geblieben. Taylor Swift singt viel über Autos. Darüber wie es ist, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen oder im Fond eines Taxis. Von den Träumen, mit dem jeweiligen Herzensmann einfach durchzubrennen und von dem, was einem die Ampeln verraten. Das ist ein sehr amerikanisches Thema, genauer: eines, das viel mit ihrer Herkunft zu tun hat. Wenn man in den USA nicht inmitten einer Metropole lebt, kommt man ohne Auto nicht weit. Den Führerschein machen die meisten Jugendlichen mit 15,16 Jahren. West Reading, jene Gemeinde in Pennsylvania, in der Swift aufwuchs, hat 4.000 Einwohner.

Aber mit welchen Fahrzeugen ist Taylor Swift in ihren Liedern unterwegs? Nicht immer ist das erkennbar, denn im Gegensatz zum HipHop, wo das Auto ja Statussymbol und Distinktionsmerkmal ist, erfüllt Swift in ihren entsprechenden Liedern eher die Chronistenpflicht innerhalb der jeweiligen Geschichte. Klar ist: In den frühen Jahren sind es eher jene, die im Genre Country ohnehin häufig vorkommen, etwa der alte Chevy Truck, der in ihrer Debütsingle "Tim McGraw" (Öffnet in neuem Fenster) besungen wird. Und: Hier nimmt Taylor noch sehr häufig auf dem Beifahrersitz Platz, während es ab dem dritten Album auch mal sie ist, die selbst fährt (oder eben der Chauffeur eines Taxis). Analog zum Fortlaufen ihrer Laufbahn werden die Autos elaborierter: Zu "Red" (Öffnet in neuem Fenster), ihrer ersten Stadien füllenden Pop-Superstar-Produktion, passt ein Maserati natürlich ganz hervorragend. Auf den letzten beiden Alben können wir hingegen wieder eine Entkonkretisierung beobachten: Hier werden die Autos nicht mehr genau benannt, zentral sind sie immer noch: In "Illicit Affairs" (Öffnet in neuem Fenster) etwa als stumme Zeugen eines eher unschönen Endes: "What started in beautiful rooms ends with meetings in parking lots", singt sie hier. 

Alle Autos, die in Taylor-Swift-Songs* vorkommen, alphabetisch geordnet:

  • A Car ("Fifteen")

  • Big Black Cars ("The Lucky One")

  • Cab ("London Boy")

  • Cars ("Cardigan")

  • Chevy Truck ("Tim McGraw")

  • Chevy ("Champagne Problems")

  • Expensive Cars ("King Of My Heart")

  • Fancy Car ("Cowboy Like Me")

  • Getaway Car ("Getaway Car")

  • His Car ("Our Song", "The Way I Loved You")

  • His Truck ("No Body, No Crime")

  • Jaguar ("King Of My Heart")

  • Maserati ("Red")

  • Old Pick-Up Truck ("Picture To Burn")

  • My Car ("Begin Again", "Betty", "'Tis The Damn Season")

  • Range Rover ("King Of My Heart")

  • Taxi ("New Year’s Day")

  • The Cab ("Invisible String")

  • The Car ("Fearless", "Teardrops On My Guitar", "The Best Day", "Never Grow Up", "All Too Well", "Cruel Summer", "Cornelia Street", "August", "This Is Me Trying", "Marjorie")

  • Tractor ("The Best Day")

  • Your Truck ("Mary’s Song", "I Wish You Would", "'Tis The Damn Season")

Bonustracks:

  • My Scooter ("London Boy")

  • My Skateboard ("Betty")

  • My Train ("Willow")

*auf ihren Studioalben

PS: Über ihre eigenen Autos singt Taylor Swift übrigens nicht. Welche das sind, fasst dieser Youtube-Film (Öffnet in neuem Fenster) zusammen. 

PS 2: Vom Führerschein handelt auch die aktuelle Nummer eins (Öffnet in neuem Fenster)der Billboard-Single-Charts. 

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Das war's für dieses Mal. Jochen hört seit Wochen diesen einen Song (Öffnet in neuem Fenster) von Charlie Hickey und will Melanie davon überzeugen, dass er großartig ist. Das einzige, was Melanie daran großartig findet, ist, dass Charlie Hickeys deutscher Name Karl Knutschfleck wäre.

Die nächste Ausgabe Zwischen Zwei Und Vier erscheint am 24. März.

 

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