Thalaris Almanach - Buch 1: Initiierung
Teil 8 - Die Frau am Feuer II
Meleya schloss die Augen, erinnerte sich an Ruphart. Den schlaksigen jungen Mann, der nicht lange vor dem ersten Einsetzen der Mechanik erschien. Woher konnte er nie genau formulieren! Immer von weit her. Bei diesem Gedanken musste sie schmunzeln.
„Das heißt, der mächtige Alchemagus war ein Angsthase?“, fragte Oralf spöttisch. Meleya schaute ihn scharf an, milderte ihren Blick dann. Der Junge wusste es nicht besser.
„Angst ist nichts Schlimmes. Sie zeigt dir, dass etwas nicht stimmt. Das du oder jemand, den du liebst, einer Gefahr ausgesetzt wird. Etwas nicht kontrollierbar ist. Es ist eine Schutzfunktion und verdient keinerlei Spott. Aber ja, Ruphart war ein Angsthase.“
Sie grinste und die Leute am Feuer lachten.
„Ruphart erschien also einfach in dieser Welt? Wie kann das sein?“, fragte eine Furkia-Frau mit samtig schwarzem Körper- und weißem Gesichtsfell.
„Das konnte er nie erzählen, es war geheimnisvoll. Er war ein Erebosh.“
Die Bulfer unter den Zuhörenden sogen scharf die Luft ein.
„Ein Erebosh? Das ist unmöglich!“
Ein großer, kräftiger Bulfer, mit sichtbar eisernen Muskeln und einem langen goldfarbenen Fellstreifen über der Brust hatte sich erhoben.
„Erebosh sind seit unzähligen Zyklen ausgestorben. Und das ist gut so. Diese … dieser … widerwärtige Abschaum von Hybriden ist es nicht wert, unter dem großen Himmelsgestirn zu wandeln. Mögen sie noch so mächtig sein, noch so viel Gutes getan haben: Sie sind eine Schande! Wenn dieser Ruphart so einer war, dann bin ich froh, dass er jetzt bei den Gebeinen Rhyt’s liegt und uns nicht mehr behelligt.“
Die Frau neben ihm legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Beruhige dich, Vartys und zolle der Reisenden deinen Respekt. Es schickt sich nicht, unseren Gast so anzufahren.“
Vartys beruhigte sich und senkte seinen großen Kopf.
„Verzeiht Reisende. Das Sandbüffelblut ist mit mir durchgegangen.“
Meleya nickte ihm nur aufmunternd zu.
„Es ist alles in Ordnung. Ich reiste durch eure Länder und weiß um eure Vergangenheit mit den Hybriden. Die eigene Herkunft kann oft zermürben. Wird sie doch viel zu gern in den Vordergrund gespielt, anstatt die Person zu sehen.“
Vytana beugte sich vor und bat um einen weiteren Becher Beerensporn. Meleya schenkte ihr nach.
„Ruphart erschien also in Phersias? Auf dem großen Kontinent? Wie kam er denn über die saure See?“, fragte sie, nachdem sie den Becher zur Hälfte geleert hatte.
„Oh, er kam nicht über die saure See. Ich erinnere mich an seine Worte gut.
Als wir uns das erste Mal trafen, erzählte er mir wörtlich: Ich komme von weit her. Fragt nicht wie, das weiß ich selbst nicht genau. Doch ihr könnt darauf vertrauen, dass ich nichts Böses will. Das waren seine Worte. Und sie sind mir im Kopf geblieben, weil ich sie sehr amüsant fand. Der Junge mir gegenüber versicherte, dass er nichts Böses wolle. Später sollte ich lernen, dass er zu diesem Zeitpunkt mächtiger war als ich oder die anderen in der Vogelfeste.“
Meleya senkte den Kopf. Ihre Erinnerungen und der Schmerz, der oft damit einherging, drohten sie zu überwältigen. Sie wollten diesen Moment der Schwäche niemandem offenbaren. Eine schmale Hand legte sich auf ihre Schulter. Heyla lehnte sich vorsichtig an sie heran.
„Es ist in Ordnung, Reisende. Wir wissen, wie viel Leid du und deine Freunde ertragen mussten. Und du trägst keine Schuld. Egal, was passierte. Du bist eine Heldin. Ohne dich gäbe es Thalaris nicht.“
Meleya entfuhr ein leises Schluchzen. Sie wischte sich über das Gesicht und schniefte kurz. Dann richtete sie sich wieder auf, sah in die Runde und strich Heyla dankbar über den Rücken. Kein mitleidiger Blick war hier zu sehen. Aufrichtige Anteilnahme und Freude darüber, dass sie hier unter ihnen saß und ihre Geschichte erzählte.
„Lasst mich weiter erzählen, denn wie ihr bemerkt habt, sind einige Dinge in den Überlieferungen falsch.“
Meleya griff zu ihrem Almanach, blätterte weiter und begann zu lesen.