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Thalaris Almanach - Buch 1: Initiierung

Teil 13 - Die Bibliothek der Vogelfeste

„Und du weißt nicht, wie du hergekommen bist? Du bist einfach mitten in der großen Steinebene aufgewacht?“

Meleya sah mich ungläubig an. Im Grunde hatte ich nicht gelogen. Ich konnte ihr schlecht erzählen, wo ich wirklich herkomme.

„So ist es. Wie ich dir bereits vorhin erklärt habe“, erwiderte ich. 

Nachdem Gartys und Fina gegangen waren, leerte ich alles auf dem Tablett, nur diese zwei anderen Dinger, die wie Wurzeln aussahen, ließ ich liegen. Dafür tat ich mich gerade an der süßen Frucht gütlich, als Meleya auftauchte.

„Ich sehe, die Gutmut-Frucht schmeckt dir. Iss aber nie zu viel davon, sonst passieren komische Dinge.“

Sie grinste bei diesen Worten, warf mir meinen Beutel auf den Tisch und nahm Platz.

„Fina meinte, dir ginge es besser und die Wunde ist gut verheilt. Das freut mich. Jetzt können wir reden.“

Ich schluckte das Stück Fruchtfleisch hinunter.

„Ich wollte mich bedanken. Für meine Rettung. Dafür, dass ihr mich hier aufgenommen habt. Auch wenn mir einiges an Erinnerung fehlt, besonders wie ich her kam.“

Ich lehnte mich zurück und wartete.

„Gartys meint, dein Name sei Ruphart richtig? Also Ruphart, nicht wir haben dich gerettet, das war Nim.

Sie hat dich zu uns gebracht, zusammen mit zwei Wachen. Sahen alle sehr mitgenommen aus. Willst du mir erzählen, was passiert ist? Am besten beginnst du von vorn.“

Ich erzählte ihr von meiner Ankunft, wobei ich meine wahre Herkunft ausließ. Stattdessen spielte ich den Vergesslichen. Die Grejikk ließen sie aufhorchen, speziell der Große.

„Schwarz gefiedert, rote Beine und doppelt so groß wie die anderen? Und du hast es geschafft, wegzulaufen?“, fragte sie beeindruckt.

„Ich hatte wohl einfach Glück. Ohne die Höhle wäre ich tot.“

„Ach ja, die Höhle … Nim erzählte etwas davon.“

Ich berichtete ihr von meinem Versteck, dem Absturz und wie ich bei Drak aufwachte.

„Drak war beim Abschied sehr seltsam. Vorher wollte er mich loswerden. Dann meinte er, wir würden uns wiedersehen und war dabei recht traurig.“

„Dazu kommen wir gleich. Zuerst zu dem, was später passierte. Nimm es mir nicht übel, du bist unser Gast, aber Nim hat mir einiges Sachen erzählt, die Geschehnisse bei uns in ein neues Licht rücken könnten. Du musst dazu die Lücken füllen.“

Meleyas Miene wurde ernst und sie starrte mich an. Ihre grauen Augen waren stahlhart und ich nahm an, dass man sich mit ihr besser nicht anlegte. Nun, das hatte ich nicht vor. Ich setzte die Geschichte fort. Erzählte vom Markt, dem Kriechgang und der Höhle mit dem Graben und der Statue. Als ich bei letzterer angekommen war und ihr von der Rolle berichtete, sprang sie auf und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Was war das denn?

Neugierig, wie ich war, ging ich an die Tür und öffnete sie vorsichtig. Eine Hand packte mich und zog mich raus. Erschrocken wollte ich mich entziehen.

„Komm mit Ruphart, das sollten wir ein paar Leuten erzählen!“

Es ging durch große Gänge, erleuchtet von einer Mischung aus verschiedenen Lichtquellen. Einige schienen zu schweben, andere sahen wie Farbkleckse an der Wand aus. Und wieder andere krochen an der Decke entlang. Ich hoffte, alles später genauer erkunden zu können. Wir kamen an anderen Bewohnern vorbei, viele sahen aus wie Meleya, andere wie Fina. Was sie einte, war ein leicht besorgter Blick.

Der Ort war beeindruckend. Trotz, dass es sich um ein System aus Höhlen zu handeln schien, wirkte es nicht so. Die Wände hatten dieselbe Optik die ich aus meinem Zimmer kannte: beim Zerplatzen erstarrte Blasen. Die Oberfläche war geglättet worden, ebenso der Boden.  Alles wirkte hell und freundlich, was vermutlich an den verschiedenen Lichtquellen lag.

Meleya zerrte mich weiter, ohne ein Wort zu sagen. Wir kamen an dutzenden Kreuzungen, unzähligen geschlossenen Türen und anderen Orten vorbei, deren Verwendungszweck sich mir noch nicht erschloss.

„Was ist das hier?“, wollte ich wissen. Doch Meleya blieb stur.

„Später, wir haben Wichtigeres zu tun!“

Dann schienen wir angekommen zu sein, denn sie schob mich durch eine große Doppeltür. Mir fiel die Kinnlade hinab. Ein Raum, beinahe kreisrund oder elliptisch. Drei- oder viermal so groß wie das London Eye, wenn nicht noch größer. Mehrere Wege führten von einem Podest in der Mitte nach außen an die Wände, die mit Bücherregalen überzogen waren. Eine spiralförmige Treppe wand sich an der Seite nach oben und verband einige Ebenen miteinander. Links und rechts von mir standen grobe Holztische und weiche Sessel, die von einigen der Bewohner in Beschlag genommen wurden. Manche davon sahen mich neugierig an, andere blieben bei ihrer Tätigkeit. 

Mein Blick wurde von einem besonderen Detail angezogen: Das Podest schien eine Art Fokus zu sein, den von oben senkte sich eine Lichtsäule nach unten darauf zu. Diese Säule sorgte für ein angenehm warmes Licht. Die Quelle fand ich dabei am spannendsten: Ein riesiger leuchtender Kristall, der zu leben schien. Oder zumindest war er bewohnt, den aus allen Richtungen krabbelten diese Leuchttiere hinaus oder hinein. Und immer wenn eine Zahl der Tiere darin war, schien der Kristall etwas heller zu werden.

„Komm schon, du kannst dir später alles ansehen.“

Meleya gab mir einen Schubs und ich stolperte vorwärts. Sehr freundliche Dame!

„Aber …“

„Kein Aber, wir haben etwas zu klären“, knurrte sie. Wir durchquerten den Raum und gingen am Podest entlang eine kleine Treppe hinauf. Dann marschierten wir durch die Lichtsäule. Ich kniff die Augen zusammen und sah kurz Sterne. Hinter dem Podest befand sich eine kreisrunde Theke, die ebenfalls mit Büchern, Schriftrollen sowie anderen Dingen überfrachtet war. Mittendrin, wie auf einer Insel, hockten drei Gestalten.

Gartys, ein älterer Mann mit strengem Zopf und geflochtenem Bart sowie ein Junge. Letzterer sah mich mit einem stechenden Blick an. Von seiner Stirn zog sich eine weiße Haarsträhne bis hinter das rechte Ohr. Gartys begrüßte mich aufgeregt.

„Ich sagte, dass wir uns wiedersehen, nicht wahr, Ruphart?“

Er deutete mir an, Platz zu nehmen, was ich tat. Der ältere Mann begrüßte Meleya mit einem Augenzwinkern und sah dann zu mir.

„Ich grüße dich, Ruphart. Möge das Licht des Tagsterns dich stets mit Kraft erfüllen.“

„Ich danke euch!“, erwiderte ich schlicht.

„Meleya, warum sitzt unser Gast in ein Laken gewickelt hier?“

Meleya wurde blass.

„Weil er etwas Wichtigeres zu erzählen hat, als sich um seine Kleidung zu bemühen.“

„Das behauptest du, Meleya. Hast du die Gebote der Gastfreundschaft vergessen? Bitte sorge dafür, dass er neue Sachen bekommt. Etwas, was seinem Stand angemessen ist.“

Meleya wollte den Kopf senken, ich sah den inneren Kampf.  Stattdessen schaute sie den Mann giftig an.

„Sehr wohl, Vater!“, spie sie fast und stapfte davon.

Der Mann wandte sich zu mir.

„Verzeih, ich vergaß, mich vorzustellen. Ich bin Uthys Vorkas, Meleyas Vater, wie du unlängst selbst sehen konntest.“

Er lächelte mich an.

„Neben mir hier ist Asgon von Eichkling zu finden. Ein bemerkenswerter junger Mann und Meleyas Mündel.“

„Sie ist meine Mentorin Uthys, nicht meine Ziehmutter“, knurrte Asgon.

Uthys hob die Hände und lachte.

„Tut mir leid, aber so wie ihr beide euch verhaltet, könnte man Letzteres annehmen.“

Uthys war mir sympathisch. Ein großer, schlanker Mann, mit Witz in den blauen Augen und einer angenehmen Stimme.

„Ihr seid hier der Vorsteher, nehme ich an?“, wollte ich wissen. Einmal musste ja klarer werden, was Meleyas Aufgeregtheit zu bedeuten hatte.

Uthys deutete in die Runde.

„Ich bin der leitende Archivar der Bibliothek der Vogelfeste. Gartys ist mein Stellvertreter, was mehr oder weniger komisch ist. Die Bibliothek gehört eigentlich den Sha'Pan.“

Gartys gab ein Krächzen von sich, was an Räuspern erinnerte.

„Mag sein Uthys, doch ihr werdet uns Sha'Pan überleben.“

Ein  trauriger Unterton war in diesem Satz enthalten. Ich wollte nicht unhöflich sein. Gleichzeitig war ich angetan von der Fülle an Emotionen, die ARTOS hier ermöglicht hatte. Das waren keine NPC, das waren fühlende, lebende und denkende Wesen. Wahnsinn!

„Bis Meleya wieder da ist, Ruphart, was willst du wissen? Über diesen Raum?“

Ich sah Uthys erstaunt an.

„Ich dachte, ich soll meine Geschichte erzählen?“

Uthys nickte.

„Richtig, doch du sollst sie nicht  dauernd wiederholen müssen. Also, was macht dich hier neugierig?“

Ich drehte mich ein paarmal um die eigene Achse, sah mir alles an.

„Alles!“

Gartys und Uthys lachten. Asgon blieb regungslos sitzen und starrte mich an.

„Wie viele Schriften sind hier versammelt? Sie scheinen mir unzählbar.“

„Oh, es sind genug, um ein paar Tausend Zyklen beschäftigt zu sein. Immerhin sammeln wir schon sehr lange“, kam es glucksend von Gartys.

„Doch wenn du eine genaue Zahl willst, es sollten 3.641.100 sein. Nur hier in diesem Raum. Und nur die Bücher und Schriftrollen.“

Bei dieser Zahl stutzte ich.

Dann fiel es mir ein.

Es war eine Oktalzahl. Verwendeten die Bewohner dieser Welt nicht das Dezimalsystem? Dieser Frage würde ich später nachgehen.

Eine Tür wurde mit Wucht zugeschlagen. Dann stapfte eine sichtlich erzürnte Meleya heran, warf mir meinen Beutel und ein Bündel Kleidung zu und baute sich vor Uthys auf.

„Können wir jetzt endlich über die Graubrut reden?“

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