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Die Rache ist mein

von STEPHEN ERIC BRONNER

MIT offenen Karten: Ich wurde als deut­scher Jude geboren, war aber nie Zionist und habe mich nie gescheut, die israelische Politik zu kritisieren. Ich empfinde tiefstes Mitgefühl für das palästinensische Volk, aber ich bin auch ein scharfer Kritiker ihrer Führung und seiner politischen Entscheidungen. Vierzigtausend Palästinenser sind zu „Binnenflüchtlingen" (Internatio­nal Displaced People) in ihrem eigenen Land geworden, israelische Siedlungen sind auf ihr Territorium vorge­drungen, aber eine Einstaatenlösung betrachte Ich nicht als realistisch. Das schicke Gerede darüber, daß sie die „einzige" Lösung sei, vermeidet stets, die dafür erforderlichen Institutionen genau zu benennen oder plausible Strategien, die komplexe Probleme wie das „Recht auf Rückkehr“ ins Auge nehmen, oder auch Ide­en zu entwickeln für den Umgang mit den Mehrheiten beider Seiten, die sich verständlicherweise gegenseitig Mißtrauen und tiefe historische Ressentiments hegen.

DER NERO-KOMPLEX

Israelis und Palästinenser sind zwei Nationen mit zwei Kulturen und zwei sehr unterschiedlichen Geschichten: die des Kolonisators und die von Kolonisierten. In ei­ner Welt, die es ablehnt, die Logik von Ereignissen zu erforschen, hat der große tunesisch-jüdische Denker Al­bert Memmi uns einiges zu sagen. Sein „Nero-Komplex“ erklärt, wie Kolonisatoren ein Land übernehmen, stolz darauf, die Vorteile der „Zivilisation“ zu exportieren, während die Kolonisierten sich gegen solche Wohlta­ten wehren, Bel der Niederschlagung des Widerstands empfindet der „zivilisierte“ Kolonialist dennoch eine unbewußte Schuld und zugleich ein Ressentiment ge­genüber der Undankbarkeit der Kolonisierten. Die „Not­wendigkeit" der Gewalt mildert die Schuld. Mit jedem Aufstand wird sich daher die Unterdrückung durch den Kolonisator intensivieren, was zu noch intensiverem Wi­derstand der Kolonisierten führt - und so weiter.

Eben das sehen wir Im israelisch-palästinensischen Konflikt Pogrome und Konzentrationslager aus der jüdischen Vergangenheit, wie Karl Marx es formuliert hätte, „lasten wie Albträume auf den Gehirnen der Le­benden" Sie fühlen sich selbst als Opfer, und ziemlich viele Israelis sind immer noch erstaunt über die Weige­rung der Palästinenser, jene modernen Errungenschaf­ten anzuerkennen, die jüdische Siedler vermeintlich nomadischen Stämmen gebracht haben. Ganz nach dem althergebrachten zionistischen Slogan: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ Die Mischung aus Schuld und Ressentiment drückt sich Im Wechselspiel von Israels gelegentlichen humanitären Aktionen mit der inhumanen Brutalität seiner militärischen Angriffe aus. Durch diesen Kreislauf der Gewalt, der durch die alljährlichen vier Milliarden Dollar Hilfe der USA ge­stützt wird, ist Israel zur Hegemonialmacht der Region geworden. Seine Beteiligung am Nero-Komplex hat sein moralisches Kapital jedoch zerstört. Es Ist nicht mehr die verschworene Gruppe von Helden, die in tendenzi­ösen Werken wie Leon Uris’ Roman Exodus und dessen Verfilmung in Erinnerung gerufen wird.

So wie Israel überwältigende militärische Macht besitzt, während es von der Weitgemeinschaft ge­ächtet wird, wird die palästinensische Souveränität diplomatisch anerkannt, während sein Volk zum Bitt­steller herabgewürdigt wird. Im Einklang mit dieser widersprüchlichen Situation beruhte die jüngste palä­stinensische Politik auf dem Glauben, daß der Druck der Weitgemeinschaft die Grundhaltung der Israeli­schen Politiker Irgendwie verändern würde. Doch diese Sichtweise Ignoriert Israels Selbstverständnis als das historische Opfer von globaler Gleichgültigkeit und An­tisemitismus. Was Präsident Donald Trumps „Abraham- Abkommen“ betrifft, geht man dabei Irrtümlicherweise davon aus, daß die Palästinenser nicht mehr relevant seien und Ihr Engagement verkümmert sei. Eine solche Blindheit gegenüber der Notsituation der Palästinenser zeugt von einem bemerkenswerten Mangel an Intelli­genz und Weitsicht. Nichtsdestotrotz hat das Abraham- Abkommen diplomatische Beziehungen zwischen Israel und vielen Nachbarn erleichtert: Es ist ein Baustein für die Zukunft.

UNGLEICHGEWICHT DES TODES

Konflikte lösen sich nicht einfach auf Wie bei einer Schulhofkeilerei, nur mit drastischeren Folgen, spielt keine Rolle, wer mit dem Kampf angefangen hat. Was zählt, ist, daß die Provokation der einen Seite immer die der anderen nach sich zieht Die Hamas feuer­te 4.000 Raketen ab, größtenteils vom Iran geliefert, von denen fast alle von einem „Iron-Dome“- Raketen­abwehrsystem abgefangen wurden, das von den USA bereitgestellt worden war. Dies legt nahe, daß bei der Geheimdiplomatie zwischen den Vereinigten Staaten und Iran regionale Fragen und deren Auswirkungen auf bilaterale Beziehungen im Vordergrund stehen sollten.

Jedenfalls zerstörten israelische Raketen die dicht­bevölkerten Städte des Gazastreifens, 700 Gebäude und Wasserwerke, die 800.000 Palästinenser versorg­ten, sowie 60 Meilen Tunnel, die Gaza mit Ägypten verbinden und die zugleich als Lebensader der Freiheit wie auch als Schneise für den Waffenschmuggel dienen. Solche immensen Ungleichgewichte in Sachen Zerstö­rung und Tod verstärkten die Einigkeit unter den Israelis im Lande und Sympathie für die palästinensische Wut im Ausland. Das scheint das eindeutigste Ergebnis des Tl-Tage-Kriegs zu sein. Angesichts dieser Lage scheint es offensichtlich, daß die Aufhebung des Boykotts ge­gen Gaza die humanitäre Frage der Nachkriegszeit ist.

In diesem Sinne haben die Vereinten Nationen be­schlossen, Israels „systematische Obergriffe“ im West­jordanland und In Ost Jerusalem sowie die „wahllosen“ Raketenangriffe der Hamas zu untersuchen, die gegen das Völkerrecht verstoßen. Ein positives Ergebnis dieses ansonsten wertlosen Konflikts ist die Einrichtung einer ständigen Untersuchungskommission durch die Verein­ten Nationen, die über Menschenrechte in Israel und Palästina berichten soll. Ohne die Macht, Strafen aufzu­erlegen oder durchzusetzen, ist das natürlich nicht viel. Dennoch bietet das eine Plattform dafür, den Kampf für Bürgerrechte sowohl In Israel als auch in Gaza zum pri­mären politischen Ziel der nahen Zukunft zu machen.

Die Mainstream-Medien bestehen immer darauf, daß dieser Aufstand sich als entscheidend erweisen wird, daß dieser anders ist. Aufstand nach Aufstand, Intifada nach Intifada haben mehr oder weniger das gleiche Ergebnis hervorgebracht Hunderte von Palästi­nensern und etwa ein Dutzend Israelis wurden getötet. Städte in Israel bedroht, seine Grenzsiedlungen bom­bardiert und die palästinensische Infrastruktur zerstört, um anschließend wiederaufgebaut zu werden, bevor sie erneut zerstört werden wird. Zugegeben, dieses Mal blutete der Kampf zwischen Arabern und Juden hinein In Israelische Städte wie Lod und Haifa, die einst als glücklich integriert galten. Diese Zeit ist vorbei. Das Hin-und-her-Geschrei nach Rache endete jedenfalls auf übliche Welse: Unschuldige Palästinenser litten unter dem ungleichen Preis der Schlacht, während die Israe­lis von demselben Ungleichgewicht der Macht profi­tierten. Unter Umständen, auch wenn es nicht in den Karten steht, Ist es eine Überlegung wert, ob Wieder­gutmachung einen umstandslosen Weg zur Versöhnung bieten könnte.

EIN UNGELÖSTER KONFLIKT

Die Kräfte der Vernunft sind erneut in der Defensive. Die Angst treibt die Gemäßigten Ins Extrem, Zionisti­sche Fanatiker liefern sich erbitterte Kämpfe mit israe­lischen Arabern. Die Frage ist, ob diese sich mit den Palästinensern zu einer Bewegung vereinen werden, die sich für Bürgerrechte und Gleichheit einsetzt. Solche Entwicklungen wären ein Hoffnungsschimmer für eine zukünftige demokratische Regierung. Im Vorfeld der kommenden Wahlen findet eine „Jeder gegen jeden"- Politik statt. Bei allem „pragmatischen" Opportunismus der konkurrierenden Politiker und Parteien sind die Differenzen bezüglich der Politik gegenüber den Palä­stinensern zu grundlegend, um irgendeinen sinnvollen Konsens zu ermöglichen. Israel hat von dem endlosen „Friedensprozeß" profitiert, und für seine kleingeistigen Führer ist es besser, keine schlafenden Hunde zu wecken. Man vermeidet Diskussionen über die Palästinen­ser und konzentriert sich auf innenpolitische Themen.

Palästina besteht nach wie vor aus zwei konkurrie­renden Souveränen: einem in Gaza, der auf Rache aus ist, und einem anderen im Westjordanland, der para­lysiert wirkt Der schwelende Konflikt zwischen ihnen hat eine Situation geschaffen, in der. selbst wenn Israel zu Verhandlungen bereit wäre, keiner der konkurrieren­den Souveräne die palästinensische Nation tatsächlich repräsentieren kann und keiner in der Lage ist, ernsthaf­te Verhandlungen zu führen. Viele Israelis nutzen diese Spaltung, um den semantischen Nonsens zu rechtfer­tigen, daß die Palästinenser niemals ein „Volk“ gewe­sen seien - obgleich das „Volk“ sich selbst als solches betrachtet.

Freundschaft zwischen der Hamas und der Palästi­nensischen Autonomiebehörde ist nicht zu erwarten, da jeder dafür seine Macht teilen müßte. Die Hamas genießt das Rampenlicht, während sie den militärischen Angriff auf das „zionistische Gebilde" anführt - unge­achtet des Kollateralschadens für die eigene Bevölke­rung - und wen kümmert es, wenn sie rigoros gegen Dissidenten vorgeht? Ihre Unnachgiebigkeit in Sachen Diplomatie rührt von der eklatanten Tatsache her. daß jede Zweistaatenlösung Gaza nur als Juniorpartner be­lassen würde. Dennoch steht der Avantgarde-Aktivismus der Hamas in scharfem Kontrast zu der Lähmung welche die Palästinensische Autonomiebehörde an den Tag legt Aufgrund ihrer widersprüchlichen Politik ist die Organisation weder in der Lage, für „die Palästinenser“ zu verhandeln, da sie nicht für Gaza spricht, noch sich am bewaffneten Kampf zu beteiligen, da ihr administra­tive Befugnisse übertragen wurden und sie finanzielle Unterstützung von Israel erhält

Der Bürgerkrieg bleibt eine Möglichkeit auf beiden Seiten der Barrikaden. Zionistische und palästinensi­sche Extremisten halten Ihr Veto gegenüber jeglichem Friedensplan aufrecht Fanatische Siedler und orthodo­xe religiöse Eiferer in Israel sowie sektiererisch-militante Fraktionen der Hamas und des „Islamischen Dschihad“ in Palästina und Gaza können - und werden höchst­wahrscheinlich versuchen, jede ernsthafte Friedens­bemühung durch neue Provokationen zu unterlaufen. Der Frieden könnte israelische Extremisten dazu veran­lassen, gegen die souveräne Regierung zu rebellieren; Premierminister Jitzchak Rabin wurde von einem or­thodoxen Juden ermordet. Was die palästinensischen Fraktionen betrifft, so wird es in Zukunft einen Kampf darum geben, wer der Souverän ist. Das nationale In­teresse ist bereits zur Nebensache geworden. Es gibt keinen Grund zu glauben, daß sich dies dadurch ändern wird, daß Militärbudgets anwachsen und Raketen ge­hortet werden. Die Aussichten auf einen dauerhaften Frieden sind düster. Der Status quo ist für das „Volk“ unhaltbar, für Politiker beider Seiten allerdings wün­schenswert Ein weiterer zeitweiliger Waffenstillstand setzt einen ungelösten Konflikt voraus. Doch kann sich die Welt eine weitere regionale Krise dieser Art nicht leisten, und die unschuldigen Bürger Israels und Palästi­nas auch nicht. ♦

AUS DEM ENGLISCHEM VON OTTO FREUND

Lettre International  

SOMMER 2021, KORRESPONDENZ AUS NEW YORK (Öffnet in neuem Fenster)

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