Wort-Dock
Newsletter #4 im März 2024
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
in der vierten Ausgabe meines monatlichen Kultur-Briefs „Wort-Dock“ stelle ich Euch eine literarische Entdeckung vor und eine Ausstellung im Bargheer Museum in Hamburg. Außerdem gibt es zwei Surftipps für diejenigen, die Kunst von zuhause aus genießen wollen.
Viel Spaß beim Lesen!
Beeindruckende Kurzgeschichten
Titel: Nachbarn
Autorin: Diane Oliver
Verlag: Aufbau Verlage GmbH & Co. KG
Originaltitel: Neighbors and Other Stories (erschienen 2024 bei Grove Press)
Aus dem Amerikanischen übersetzt von: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg
Deutsche Erstveröffentlichung: 22.01.2024
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten, 24 Euro
Inhalt: In der titelgebenden Kurzgeschichte „Nachbarn“ bekommt eine Schwarze Familie seit Wochen Drohbriefe, weil sie ihren Sohn Tommy auf eine Grundschule schicken will, die bisher nur von Weißen besucht worden ist. Die Lesenden erleben den Vorabend der Einschulung aus Sicht der älteren Schwester Ellie. In der Story „Gesundheitsdienst“ geht die alleinerziehende Mutter Libby an einem ihrer seltenen freien Samstage mit ihren vier Kindern den weiten Weg zu Fuß in die Stadt, um ihre Tochter impfen zu lassen. In der Ambulanz müssen sie im nahezu voll besetzten Kabuff für „Farbige“ warten, nicht im großen Wartezimmer. Die Zeit vergeht und Libby versucht, ihre Kinder zu beruhigen… In einer weiteren Kurzgeschichte („Kein Service hier“) lebt die Familie Mack nach einem rassistischen Überfall auf ihren Sohn Rabbit zurückgezogen im Wald - die Eltern sehen keine andere Möglichkeit, den Jungen zu schützen. Sie sind wütend. Sehr wütend. Die insgesamt 14 Kurzgeschichten spielen im Amerika der frühen 60er Jahre, als die Rassentrennung den Alltag in den Südstaaten bestimmte.
Das Nachwort hat die Schriftstellerin Tayari Jones (geboren 1970 in Atlanta, Georgia) verfasst.
Hauptteil: Mehr als die Hälfte der vorliegenden Kurzgeschichten von Diane Oliver (1943 - 1966 in Charlotte, North Carolina) sind erst jetzt veröffentlicht worden, knapp 60 Jahre nach ihrem viel zu frühen Tod. Die Kurzgeschichten-Sammlung „Nachbarn“ ist 2024 im Original und in deutscher Erstveröffentlichung erschienen. Die präzise beobachteten Geschichten nehmen die Leserschaft mit in die Zeit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und geben vielfältige Einblicke in das Leben und Fühlen Schwarzer Menschen in den frühen 1960er Jahren. Was macht der gesellschaftliche Umbruch mit den Einzelnen? Die Geschichten beschreiben verschiedene Facetten von Rassismus und sind damit erschreckend aktuell.
Diane Oliver hat nahezu alle Storys relativ nüchtern formuliert. In ihnen beschreibt jeweils eine in der Geschichte vorkommende Person, meist eine Schwarze Frau, die Handlung aus ihrer Sicht. Die Erzählerin benutzt dabei nicht die Ich-Perspektive, sondern die Pronomen sie/er. In der Geschichte „Nachbarn“ ist das zum Beispiel Tommys Schwester Ellie, und in „Gesundheitsdienst“ die Frau und Mutter Libby. In „Kein Service hier“ blicken die Lesenden aus den Perspektiven von Mrs Mack und ihrem Sohn Rabbit auf die Ereignisse.
Fazit: Mich haben die Kurzgeschichten dieser Sammlung berührt und beeindruckt. Ein tolles Buch!
Ausstellung: Eduard Bargheers Frühwerk
Das Bargheer Museum im Hamburger Jenischpark zeigt eine faszinierende Werkschau des Künstlers Eduard Bargheer (1901 - 1979): „Bargheer in Hamburg - Öle und Aquarelle des norddeutschen Frühwerks 1926 bis 1939“. Die Ausstellung umfasst rund 60 Werke, die eine Liebeserklärung an seine norddeutsche Heimat darstellen.
Eduard Bargheer wurde auf Finkenwerder geboren, das damals noch eine Insel zwischen Norder- und Süderelbe war. Er lebte dort bis zu seiner Emigration nach Italien 1939. Im Jahr 1924 begann er als freischaffender Künstler zu arbeiten und war seit 1929 Mitglied der Künstler-Vereinigung Hamburgische Sezession bis zu deren Selbstauflösung im Jahr 1933.
Wie aus dem Flyer zur Ausstellung hervorgeht, war Bargheer begeisterter Segler, und sein intensives Naturempfinden war mit geprägt von den - mit dem Segeln verbundenen - Erfahrungen der in der Natur waltenden, oft auch lebensbedrohlichen Kräfte. Die wesentlichen Motive seines Frühwerks sind Finkenwerder, Cuxhaven, die Elbe, die Nordsee, der Hafen und Schiffe. Außerdem zeigt das Museum einige Portraits. Thematisch stehen die Kräfte des Windes und des Wetters im Vordergrund sowie das ständig wechselnde Tageslicht.
Ausgelöst durch die Bedrückungen, die die Nazi-Herrschaft für die Freiheit der Kunst mit sich brachten, verstärkte sich bei Bargheer eine Tendenz, dem Bild eine metaphorische Bedeutung beizumessen, ist im Flyer zu lesen. Dies komme insbesondere in den Bildern zum Ausdruck, die kurz vor der fluchtartigen Übersiedlung des Künstlers nach Italien entstanden sind, zum Beispiel bei dem Stillleben mit toter Meise aus dem Jahr 1939.
Das genannte Ölgemälde zeigt einen Blick aus dem Fenster, und die Aussicht auf Dächer, Elbe und blauen Himmel könnte fast freundlich erscheinen, läge auf dem Tisch vor dem Fenster nicht der tote Singvogel. Rücklings auf einem leeren Blatt Papier, daneben ein Glas mit Pinseln. Das Bild spricht eindringlicher, als Wörter könnten.
Die Ausstellung im Bargheer Museum (Öffnet in neuem Fenster) läuft noch bis zum 2. Juni 2024.
Surftipp: Caspar David Friedrich von zuhause aus entdecken
Die - nur noch bis zum 1. April laufende - Ausstellung „Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit“ in der Hamburger Kunsthalle ist ausverkauft. Aber Ihr könnt die Jubiläumsausstellung anlässlich des 250. Geburtstags des bedeutendsten Malers der Romantik, Caspar David Friedrich (1774-1840), virtuell betrachten. Die Hamburger Kunsthalle bietet einen 360-Grad-Rundgang an, mit dem Ihr Euch selbständig durch die Schau bewegen und über 60 Gemälde sowie rund 100 Zeichnungen von Caspar David Friedrich entdecken könnt, außerdem 20 ausgewählte Arbeiten von Künstlerfreunden wie Carl Gustav Carus, Johan Christian Dahl, August Heinrich und Georg Friedrich Kersting.
Auf der unten verlinkten Webseite der Hamburger Kunsthalle könnt Ihr einen kostenlosen sofortigen Zugang zum 360-Grad-Rundgang erhalten, indem Ihr dort ein Null-Euro-Ticket erwerbt. Anschließend wird der Zugangslink per Bestätigungsmail versendet. Nach Eingabe des mitgesandten Passworts steht der Rundgang frei zur Erkundung, wie auf der Webseite erläutert wird.
Beim Erscheinen dieses Newsletters stand noch nicht fest, wie lange die Hamburger Kunsthalle die digitale Tour auf ihrer Webseite zeigen wird. Auf Nachfrage sagte eine Sprecherin des Hauses jedoch, der 360-Grad-Rundgang werde auf jeden Fall noch im aktuellen Jubiläumsjahr zu sehen sein.
Ein weiterer Kunst-Surftipp
Das Groeningemuseum in Brügge, Belgien, bietet eine digitale 360-Grad-Tour durch die belgische bildende Kunst. Die Sammlung umfasst Werke aus sechs Jahrhunderten, darunter die Werke der sogenannten „Flämischen Primitiven“ aus dem 15. und vom Anfang des 16. Jahrhunderts, neoklassizistische Arbeiten aus dem 18. und 19. Jahrhundert und Gemälde des flämischen Expressionismus, der in den 1920er Jahren begann.
Die 360-Grad-Tour ist auf der Internetseite des Groeningemuseums zu finden unter folgendem Link:
https://www.museabrugge.be/volumes/virtualtour/Groeninge%20VT%20WEB%20version%209/index.htm (Öffnet in neuem Fenster)Der monatliche Newsletter Wort-Dock ist kostenlos. Wer meine Arbeit daran finanziell unterstützen möchte, kann das gerne hier tun: