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Über die Verantwortung

Wir hatten ein Kind mit Kindergartenproblem. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, gestaltete sich die Situation folgendermaßen: das Kind war von Tag 1 an alleine im Kindergarten – ohne Eingewöhnung. Es war dort, fühlte sich wohl und kein einziges Mal gab es Tränen, Abholwünsche oder Ähnliches. Im zweiten Jahr kam dann nach wenigen Wochen zum ersten Mal ein „ich möchte nicht in den Kindergarten gehen“. Da wir den Kindergarten eigentlich immer als optional ansahen, blieb das Kind an diesem Tag zuhause. Viele weitere Tagen sollten folgen. Wir versuchten Ursachen zu finden, führten Gespräche mit den PädagogInnen, suchten Gründe innerfamiliär, in der Freizeit, in unserem Kind. Lösung gab es keine, allerdings zeichnete sich ein Muster ab: das Kind ging in den Kindergarten (auf eigenen Wunsch), verbrachte den Tag dort, wurde fix und fertig abgeholt, schlief auf der kurzen Fahrt nach Hause oft im Auto ein und war den gesamten Nachmittag völlig am Ende seiner Kräfte. Am darauffolgenden Tag wurde der Kindergartenbesuch verweigert.

Wir stellten unserem Kind frei, ganz zuhause zu bleiben. Es verweigerte. Irgendetwas hielt es wohl doch dort. Scheinbar war nicht alles schlecht.

Irgendwann holte ich unser Kind mit einer riesigen Beule auf der Stirn ab, deren Ursprung ich erst Wochen später von einer Pädagogin erfuhr, die an diesem Tag gar nicht vor Ort gewesen war. Die zwei anwesenden Erwachsenen hatten nichts gemerkt – wohl aber die anderen Kinder. Das soll kein Vorwurf per se an die Anwesenden sein, solche Dinge passieren – einmal kurz umgedreht...

Was aber danach in unserem Kind geschah, war ein großer Einschnitt. Natürlich wusste das Kind, woher die Beule kam, es weigerte sich jedoch, uns davon zu berichten. Von da an blieb unser Kind noch öfter zuhause. Von einem gänzlichen Abschluss wollte es jedoch nichts wissen.

Ich führte ein wirklich gutes Gespräch mit dem pädagogischen Team, nach dem ich für mein Kind eine Entscheidung traf.

Wir möchten unseren Kindern viel Selbstbestimmung ermöglichen. Wir möchten, dass sie die Verantwortung für ihre Taten und Entscheidungen übernehmen. Als unsere zwei älteren Kinder jeweils entschieden, einen Kindergarten besuchen zu wollen, suchten wir einen, der zu uns passt, ließen unsere Kinder schnuppern und schlussendlich entschieden sie, dass sie dorthin gehen möchten. Keines der Kinder hat seine Entscheidung je widerrufen. Beide sind unglaublich kompetent, übernehmen Verantwortung für ihre Entscheidungen und lernen so, dass alles, was sie machen, auch andere (in)direkt betreffen kann. Sie sehen die Folgen ihrer Entschlüsse und spüren, dass sie bei all der Fremdbestimmung, die sie von außen bekommen, trotzdem ernst genommen werden und ihre Bedürfnisse Platz haben.

Was aber ein 4-jähriges Kind vielleicht noch nicht kann, ist sich aus einer Situation zu entziehen, die ihm nicht gut tut. Unser Kind versuchte immer und immer wieder neu zu starten, nach einigen Tagen Pause doch wieder eine gute Zeit in dem Kindergarten zu haben, in dem es im Jahr zuvor so viele wunderschöne Abenteuer erlebt hatte. Jeden Tag ging es aufs Neue hin, in der Hoffnung, es würde so wie früher laufen. Gar nicht mehr hinzugehen kam für dieses Kind nicht in Frage.

Nach dem letzten Gespräch mit unseren PädagogInnen war mir klar, dass diese Entscheidung ausnahmsweise nicht in der Kompetenz unseres Kindes liegt.

Ich, wir als Eltern, entschieden zum ersten Mal darüber, ob unser Kind in den Kindergarten geht oder nicht. Es fühlte sich zunächst fremd und falsch an. Doch als ich unserem Kind mitteilte, dass es von nun an zuhause bleiben würde, zumindest bis zum Herbst, spürte ich, wie viel Druck und Anspannung von ihm abfielen.

Was folgte, war vielschichtig. Auf der einen Seite hatten wir eine wunderbare Zeit zuhause. Das Kind war extrem glücklich, taute auf, sprach wieder mit uns – es war wieder so, wie wir es kannten.

Das bestärkte uns darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Was blieb, waren irrsinnige Schuldgefühle. Warum hatte ich nicht früher reagiert? Warum hatte ich das Kind nicht früher aus dem Kindergarten genommen?

Das pädagogische Team unseres Kindergartens konnte mir zumindest rational die Schuldgefühle nehmen. Es dauerte einige Zeit, bis sich das Kind öffnen konnte, bis wir gemeinsam die Gefühle und Wahrnehmungen einordnen konnten, bis wir den Grund für den Kindergartenfrust festmachen konnten. Reagiert hatten wir von Anfang an. Es gab zahlreiche Gespräche, Lösungsversuche. Wir hatten nicht untätig zugesehen. Rein rational habe ich mir nichts vorzuwerfen.

Auf emotionaler Ebene hing mir das Thema lange nach. Da können Vernunft und Verstand noch so laut schreien, die Gefühlswelt lässt sich nicht einfach so abstellen. Unser Kind hat die emotionalen Wunden dieses miesen Kindergartenjahres recht schnell verdaut. Aus eine großen, klaffenden Wunde wurde eine kleine, unscheinbare Narbe, die nur noch ganz, ganz selten aufzubrechen droht. Meist kann das Kind selbst die Reißleine ziehen und so verhindern, noch einmal in derart unangenehme Situationen zu kommen. Schafft das Kind es nicht, sind wir da und stoppen den Lauf der Kugel. Wir sind seine schussfeste Weste. Das Kind hat aber gelernt, auszuweichen, sich zu verteidigen, zu kämpfen – und sich, wenn nötig, zurückzuziehen. Und sollte es doch einmal kritisch werden, sind wir seine Schutzausrüstung.

Viel schwerer fiel es mir, das Geschehene hinter mir zu lassen. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben. In mittlerweile bald 8 Jahren Mutterschaft habe ich mich nie so hilflos und verloren gefühlt wie in dieser Zeit. All unsere Kinder hatten emotionale Krisen. Keine davon war auch nur im Ansatz so tiefgreifend wie die des Kindergartenproblems. Ich suchte die Gründe überall, in mir, in meiner Art mit dem Kind umzugehen, in unserer Familienkonstellation – nichts davon war eine plausible Erklärung für das, was mit unserem Kind geschah.

Am Beginn des neuen Kindergartenjahres führte ich ein Gespräch mit dem pädagogischen Team. Das Kind war motiviert, neu durchzustarten. Ich fasste noch einmal die Geschehnisse des vergangenen Jahres zusammen und mir standen die Tränen in den Augen. Mit dem Wissen von heute hätte ich das Kind bereits zu Beginn des Jahres aus dem Kindergarten genommen. Mit dem Wissen von heute schmerzte mich meine Schilderung bei jedem Wort. Mit dem Wissen von heute fühle ich den Schmerz, den Druck, die Anspannung, die mein Kind durchlebte.

Mittlerweile ist einige Zeit vergangen. Neulich fand ich den Zettel, auf dem ich mir alle Eckpunkte für das Gespräch notiert hatte. Ich begann zu lesen und musste unweigerlich losheulen. So viele kleine Warnsignale, die einzeln betrachtet kein stimmiges Bild ergeben, in Summe aber unglaublich viel Schmerz und Druck für ein 4-jähriges Kind bedeutet haben müssen.

Wir haben diese Zeit hinter uns gelassen. Das Kind ist im darauffolgenden Herbst wunderbar in den Kindergarten gestartet. Das Team hat sich verändert, was sicher auch sehr positiv war. Das Kind fühlt sich wohl und langsam sinkt meine Alarmbereitschaft wieder ein Stück weit. Wir haben unser Kind besser kennen gelernt. Das Kind ist gewachsen – körperlich und vor allem emotional. Es kann sich besser abgrenzen, es kann seine Bedürfnisse auch gegenüber Stärkeren sehr deutlich äußern und durchsetzen.

Ich fühle mich wohl, wenn ich das Kind im Kindergarten abgebe, weil ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann. Das Kind freut sich jeden Tag auf den Kindergarten, weil es weiß, dass dieser wieder der sichere Ort ist, den es am Beginn seiner Kindergartenzeit kennen und lieben gelernt hat, weil es weiß, dass seine Bedürfnisse gesehen und gehört werden, weil es weiß, dass es dem pädagogischen Team vertrauen kann.

Immer öfter verblasst die Erinnerung an die schwere Zeit. Vergessen werden wir sie nie, aber wir überschreiben sie Stück für Stück mit positiven Abenteuern und irgendwann werden nur noch einzelne Striche auf dem Papier zu sehen sein, das das Buch unseres Lebens füllt.

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