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Folge 71

Vorweg ist heute alles.

Heute ist der 9. November. Vor 84 Jahren fanden die Novemberpogrome der Nationalsozialisten statt, auch in dem kleinen Ort am Rhein, in dem ich einen Teil meiner Jugend verbrachte. Die Synagoge und die Wohnungen jüdischer Menschen wurden dort wie überall in Deutschland zerstört. Die jüdischen Einwohner*innen »zogen danach weg oder wanderten aus«, las ich irgendwo. Mir fiel auf, dass ich die Formulierung als unangenehm täter*innenschonend empfand, denn über das Names Recovery Project von Yad Vashem und das Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland ist belegt, dass zwölf jüdische Personen, die in dem Ort geboren wurden oder längere Zeit dort lebten, in der NS-Zeit ums Leben kamen. Irgendetwas ist da sehr merkwürdig, Informationen scheinen nicht zusammengefügt worden zu sein. (Wer spricht? Wer spricht nicht? Wer spricht nicht mit wem? Wem nützt es?) Sehr merkwürdig ist auch, dass diese Namen der Toten nicht im Wikipedia-Artikel über den Ort erscheinen, aber das wäre auch gar nicht möglich, weil die NS-Zeit selbst nicht vorkommt. (Es ist ein Hobby von mir, die Wikipedia-Artikel zu und Stadtgeschichte-Infotafeln in Ortschaften daraufhin zu scannen.) Die »Hexenverfolgung« in meinem ehemaligen Wohnort wird hingegen erwähnt, sowohl in der Wikipedia als auch auf Erklärungstafeln im Ort, denn sie ist, weil man sie längst ins Imaginäre verschoben hat, angenehm gruselig, also gut für den Tourismus. Dabei könnte man genauso gut sagen: Mord an Mitbürger*innen gehört seit 300 Jahren zum Stadtbild. 

Ich will nicht unfair sein. Am Friedhof, gegenüber dem Kriegerdenkmal, gibt es seit Mitte der Neunziger einen Gedenkstein mit den Namen der jüdischen Familien, aus denen die Menschen stammten, die es als NS-Opfer bis heute nicht in die Wikipedia geschafft haben. (Ich glaube, ich werde demnächst mal sehr lange einen Artikel in der Wikipedia überarbeiten.)  

Dieser Ort, in dem ich mal lebte, hat nicht mal dreitausend Einwohner, und jüdisches Leben war dort seit dem 15. Jahrhundert bezeugt. Es gab nie viele jüdische Familien, aber sie waren einfach schon sehr, sehr lange da. Dagewesen. 

Jetzt wird es wirklich unheimlich. Ich hörte in der ganzen Zeit, die ich dort wohnte, nie von ihnen, denn damals gab es noch keinen Gedenkstein. Es gab auch keinen Hinweis darauf, dass es im Ort einmal eine Synagoge gegeben hatte. Keine Spur von 500 Jahren jüdischen Lebens. Der wahrgewordene Nazitraum. Das einzig Jüdische, von dem ich wusste, war der etwas abseits gelegene jüdische Friedhof, den ich für viel älter hielt, weil er durch das Fehlen jeglichen Bezugs zu realer jüdischer Kultur im öffentlichen Leben ähnlich unreal war wie die nahegelegenen Hünengräber. Ich bin nie dagewesen. 

Die Familie meines Vaters lebte erst seit den 1950ern in dem Ort, aber das erklärt nicht, warum auch sie nichts wussten, wissen wollten oder nur nicht erzählten. Mein Großvater war Rektor der Dorfschule, mein Vater mit den Jugendlichen im Ort befreundet gewesen. Manche Familien in den 1980ern hatten die gleichen Namen wie die Familien der Toten, weil manche Familiennamen genausogut jüdisch sein wie urdeutsch klingen können, außerdem ging und geht es Nazis sowieso nicht um irgendeine Art von Deutschsein, sondern um Antisemitismus.  

Ich war, als ich in dem Ort lebte, durchaus schon alt genug, um meine Umgebung aufmerksam zu beobachten. Mein ortsgeschichtliches Wissen über die Zeit der »Hexenverfolgung« im Ort war stabil. Mein ortsgeschichtliches Wissen über die Verfolgung jüdischer Mitbürger*innen war inexistent, ebenso mein Wissen über das örtliche jüdische Leben in der Vergangenheit. Das lag daran, dass ich keine Anhaltspunkte hatte, nichts wies darauf hin, dass es noch etwas anderes zu wissen gab, also suchte ich auch nicht danach.

Gestern bin ich im Netz auf die Erinnerungen eines nach Israel emigrierten jüdischen Deutschen gestoßen, der einen Besuch in dem Ort erwähnt. Mit Freunden sei er in eine örtliche Gaststätte gegangen, um etwas zu trinken. Man habe ihnen mit dem Getränk sofort die Rechnung gebracht, dazu einen Zettel: »Juden hier unerwünscht.« Es war für mich beim Lesen so, als hätte mir sein Text mit dem Zettel den Hinweis gebracht, den ich früher, als Jugendliche gebraucht hätte, um nachzufragen und auf die Suche zu gehen.

Vermutlich habe ich mit 15 verbotenerweise in derselben Kneipe eine meiner ersten Zigaretten geraucht und über meine ersten Nike-Sneakers geredet. Ich wusste ja nicht, wo ich da saß. Ich lebte zehn Jahre lang in einem Ort, in dem Jüdinnen und Juden bis heute unerwünscht sind, das verrät mir der Wikipediaartikel und auch die Art und Weise, wie mit der Gedenktafel für die Synagoge, die es nun auch gibt, umgegangen wird. Ein »Einfahrt freihalten«-Schild ist von den aktuellen Bewohner*innen des Hauses, das an der Stelle steht, wo die Synagoge stand, so angebracht worden, dass es die Gedenktafel berührt und sogar etwas überdeckt. 

In seinen Erinnerungen macht der israelische Autor ziemlich drastisch einen Gegensatz zwischen Rheinromantik und dem erlebten Grauen der Nazizeit auf. Das hätte ich gern schon mit 15 oder wenigstens mit 20 so sehen gelernt, statt noch jahrzehntelang aufgewärmten Nazikitsch in Hoch- und Popkultur zu goutieren; es hätte früher für mich alles geändert, und vielleicht hätte ich früher viel für andere ändern können, aber ich bekam keine Gelegenheit dazu.

Persönlich und bewusst habe ich jüdische Menschen erst im Alter von 28 Jahren in den USA an der Uni kennengelernt. Das erscheint mir rückwirkend absolut unglaublich. Vermutlich war es aber ganz normal, wenn man in Deutschland nicht in einer der großen Städte mit öffentlich sichtbaren jüdischen Gemeinden aufgewachsen war, sondern in einer kleinen, feigen Enklave westdeutscher Allesverschweigung. 

Meine persönliche Erfahrung der Nichterfahrung scheint mir eine allgemein anwendbare Erklärung dafür zu bieten, warum Jüdinnen und Juden im deutschen Diskurs, wenn sie nicht selbst sprechen, sondern über sie gesprochen wird, auch heute noch oft etwas Geisterhaftes anhaftet, was, wenn man es einfach passieren lässt und sich nicht bewusst macht, nahtlos an alten Antisemitismus anschließt. Ich bin der festen Überzeugung, dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die niemals bewusst Kontakt mit jüdischen Menschen hatten, weil sie sich in allzu homogenen Gruppen bewegen. (Das Problem kennt man ja auch von pseudo-woken Cliquen, die einfach knallweiß, cis-het, abled-bodied, akademisch sind, was sie nicht merken, weil genau eine Person zu ihnen gehört, die in einer Eigenschaft davon abweicht.) 

Aus der Rückschau kann ich sagen, dass jüdische Menschen für mich fast dreißig Jahre meines Lebens etwas Virtuelles hatten, weil ich sie nur aus Geschichtsbüchern, Dokumentationen und Filmen kannte – und das reicht eben nicht, um wirklich als Mitmensch zu fühlen. (Zumindest nicht, wenn man in Deutschland auf Verstand only aka kaltes Herz sozialisiert wurde.) Als ich dann wirklich jüdische Menschen traf, bin ich buchstäblich fast in Ohnmacht gefallen, so aufregend und auch überfordernd fühlte es sich an. Dieses bizarre Ausnahmezustand-Gefühl war mir intellektuell vor mir selbst peinlich, zum Glück legte es sich schnell und für immer. Aber ich glaube, es ist nützlich, es zu beschreiben, weil ja viel gerätselt wird, warum es mit der Erinnerungskultur so bergab geht. 

Ich würde sagen, es liegt zum Teil daran, dass gar nicht so wenige nichtjüdische Menschen in Deutschland viel zu wenig alltägliche Berührung mit lebenden jüdischen Menschen haben, was dazu führt, dass es ihnen latent unheimlich wird, wenn sie über Jüdinnen und Juden nachdenken. Nichts davon hat mit jüdischen Menschen zu tun, es ist der fehlende Bezug im gesellschaftlichen Alltag. Der durch die Shoah entstandene Riss in der Geschichte ist an den meisten Stellen in Deutschland einfach zugemauert worden. Genau so aber entsteht Unheimlichkeit, und wenn Menschen anderen unheimlich werden, ist das nur für sie selbst gefährlich. Dabei wäre es zu vermeiden, wenn nicht immer alles schon im Ansatz geleugnet und gleich wieder noch mal und noch mal zugemauert würde. 

Dieser New Fohmanntic ist wieder in eine ganz andere Richtung gegangen als geplant. Ich verschiebe das Fluffige auf nächsten Sonntag. 

Zurück zum Geplanten, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

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